Das fast vergangene Jahr hat seine eigene Ikonographie geschaffen. Wir erleben perfektionierte Pandemiepläne, Infektionsschutzgesetze, Hygienekonzepte, Verfügungen und  Dienstanweisungen. Diesen ist im Alltag nicht zu entkommen; auf Schritt und Tritt stellen sich durchkreuzte Bildsymbole in den Weg. Menschliche Silhouetten mit X, dazwischen 1,5  m: „Abstand halten!“ Vorgehaltene Hand vor Mund mit X: „Gemeindegesang reduzieren!“ Thermometerkopf mit X Tröpfchen: „Bei Symptomen zuhause bleiben!“ Händedruck mit X: „Friedenszeichen ohne Kontakt!“ Wasserkreise mit X: „Weihwasserbecken bleibt leer.“ Kirchensilhouette, Familie mit X: „Vor und nach der Messe: Keine Gruppenbildung!“

Soweit zeigt sich der kirchliche Raum in diesem Jahr recht weitläufig durchkreuzt. Auch das Wahljahr 2021 wird uns eindrucksvoll als Kreuzgang in Erinnerung bleiben. Denn auf  breiterer Basis haben sich Millionen kleiner Kreuzchen demokratisch addiert. Zwar nur kleine Kreuze, oft zittrig gezielt im Kreis, dafür aber wischfest mit Kugelschreiber. Denn sie sollen ja keinem ein X für ein U vormachen. Wie man es den schwarzen Schafen unter den alten Römern nachsagt mit ihrem Alphabet aus Strichlisten. Gar manche von ihnen sollen den  Buchstaben V klammheimlich nach unten verlängert haben zum X – und heraus kam mit geschönter Fünf eine stolze Zehn. Beschämt sei, wer bei diesem Fake aus der Geschichtsschreibung an heutige Politiker, Geldverleiher oder Schankwirte denkt.

Auch die physische Präsenz am Arbeitsplatz kann manchmal zum Kreuz werden. Zwar ist sie bei schwachen digitalen Raten durch nichts zu ersetzen. Aber wer in diesen Tagen die  Sicherheit des Homeoffice verlassen muss, provoziert seine Körperverletzung im öffentlichen Raum. Bitte versetzen Sie sich in meine Lage vor dem Regionalbahnhof! Die  Menschenströme werden von zwei gekennzeichneten Schwingtüren geregelt, die Linke und Rechte liegen anfangs noch friedlich nebeneinander. Jahrzehntelang mit meinem  Führerschein auf deutschen Rechtsverkehr getrimmt, steuere ich rechts an, unterstützt von mannshoch blauen Pfeilen, die den Weg nach vorn als Eingang weisen. zeitzeichen-Leserinnen werden jetzt mein Schicksal erahnen und warum sich trotz allem der Rucksack, zu Stoßzeiten nach vorn getragen, als Airbag empfiehlt.

Womit wir bei einer abschließenden Würdigung dieses Jahres wären. Ich schlage vor: 2021 – das Jahr des Entgegenkommens. Vorausschauend mache ich mit meiner neuen  Bahnhofsbekanntschaft, dem robusten Zusammenprall aus meiner Eingangstür, ein nettes Selfie. Gemeinsam treten wir einen Schritt auf die Seite und schauen auf ein Neues. Denn nach aller Pandemie und Ikonographie soll noch das alte Jahr mit einer hochmodernen Überraschung aufwarten. Man spricht von der bedarfsgerechten Ampelkreuzung. 

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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