Herdentier Mensch

Kirchenaustritte: Entscheidend ist die Plausibilität der Mitgliedschaft
Kirchenaustritte
Foto: SI

Es sind vornehmlich die Jüngeren, die die Kirche verlassen – ein Befund, der seit langen Jahren ebenso bekannt wie schmerzlich für die Kirchen ist. Schließlich wird in Zukunft der Nachwuchs fehlen. Die Sozialwirtin Petra-Angela Ahrens vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD erläutert die Gründe.

Der Austritt ist eine kleine Massenbewegung, man kriegt es mit, schließt sich an, der Mensch ist ein Herdentier.“ So lautet die Schlussfolgerung eines Teilnehmers aus dem qualitativen Teil einer Studie zu den Kirchenaustritten der vergangenen Jahre, die das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI) 2020/21 durchgeführt hat.

Anlass für das Forschungsprojekt war der auffallend hohe Anstieg der Kirchenaustritte im Jahr 2019, der die evangelische und die katholische Kirche praktisch gleichermaßen traf. Für den Bereich der EKD ergab sich mit insgesamt 266 738 Austritten eine Zunahme von 21 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bezogen auf die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder am Ende des Vorjahres errechnet sich für 2019 mit fast 1,3 Prozent sogar die höchste bisher gemessene Austrittsquote.

Anders als bei früheren Austrittsspitzen – wie etwa 2014, als die Banken über die Erhebung von Kirchensteuern auf Kapitalerträge informierten – konnten 2019 zumindest in der evangelischen Kirche keine klaren Bezüge zu möglichen Auslösern hergestellt werden. Zwar sind die Zahlen 2020 wieder etwas gesunken, doch scheint der Aderlass mit etwa 220 000 Austritten aus der evangelischen Kirche selbst unter pandemiebedingten Einschränkungen nur etwas vermindert fortzuschreiten. So ist wohl davon auszugehen, dass die in jüngsten Modellrechnungen ermittelte Halbierung der Kirchenmitgliederzahl für die Entwicklung bis 2060 noch deutlich übertroffen wird.

Mit dem quantitativen Teil der Studie, der im Frühling 2021 erhoben wurde, können erstmals Ergebnisse einer bundesweiten, repräsentativen Befragung von Personen vorgelegt werden, die in einem zeitlich recht eng begrenzten Zeitraum, nämlich seit 2018, aus der evangelischen (500 Befragte) oder der katholischen Kirche (500 Befragte) ausgetreten sind. Dabei ist zu beachten, dass es vornehmlich die Jüngeren sind, die ihre Kirche verlassen – ein Befund, der seit langen Jahren ebenso bekannt wie schmerzlich für die Kirchen ist, hängt daran doch das immer drängender werdende Problem des Nachwuchsmangels. In der Studie, die entsprechend der tatsächlichen Verteilungen (Alter und Geschlecht) in der Austrittsstatistik von 2018 und 2019 gewichtet wurde, zählt fast die Hälfte zu den Jüngeren (18 bis 35 Jahre). Zum Vergleich wurden weitere 500 Personen befragt (vormals evangelisch oder katholisch), die vor 2018 ihrer Kirche den Rücken gekehrt haben. Unter ihnen gehört fast die Hälfte zur Großelterngeneration (ab 60 Jahren), die ihrerseits zumeist in jüngeren Jahren (im Durchschnitt mit 30 beziehungsweise 35 Jahren) aus der Kirche ausgetreten ist, womit die Weitergabe der Konfessionslosigkeit an Kinder und Kindeskinder ihren Lauf nahm.

Neben der Frage, inwieweit konkrete Anlässe zum Kirchenaustritt geführt haben, gehörten in der Studie auch die religiös-kirchliche Sozialisation, subjektive Zuordnungen der Kirchensteuerzahlung sowie der Aufschluss über tieferliegende Gründe für den Kirchenaustritt zum untersuchungsleitenden Interesse. Die Ergebnisse weisen die Hoffnung darauf, dass vor allem konkrete Anlässe die Austrittszahlen in die Höhe treiben, und danach wieder ein ruhiges Fahrwasser erreicht wird, deutlich in die Schranken: Unter den vordem Evangelischen, die seit 2018 aus der Kirche ausgetreten sind, gibt nur ein knappes Viertel (24 Prozent) an, dass ein solcher Anlass ausschlaggebend war. Zwar fällt der entsprechende Anteil bei den aus der katholischen Kirche Ausgetretenen mit 37 Prozent erheblich höher aus, was insbesondere mit der unter ihnen weitaus größeren Bedeutung der Anlässe „Kindesmissbrauch durch kirchliche Funktionsträger/innen“, „Skandale um Verschwendung finanzieller Mittel“ und „Ablehnung von Homosexuellen in der Kirche“ zu tun hat. Die große Mehrheit (vormals evangelisch: 70 Prozent/vormals katholisch: 63 Prozent) aber hatte diesen Schritt „schon länger entschieden, nur noch nicht in die Tat umgesetzt“. In einigen Äußerungen aus den Fokusgruppen der qualitativen Teilstudie wird dies über Vergleiche illustriert, wie beispielsweise: „Es ist eine gewisse Trägheit, wie einen neuen Stromanbieter suchen. Es ist bequem, wenn man bleibt“ oder: „Das ist wie ein Fitnessstudio, das man nicht nutzt und seit Jahren zahlt.“

Zwar ergibt eine – allerdings nur sehr grobe und verkürzende – Hochrechnung, dass bei einem Wegfall aller Austritte aus konkretem Anlass im Jahr 2019 die Austrittsspitze bei der evangelischen Kirche auf ein Prozent hätte gesenkt werden können; doch selbst in diesem sehr unwahrscheinlichen Fall wäre ein im Vergleich zum Schnitt der Vorjahre höheres Niveau der Austrittsquote erreicht worden. Eine weitere Antwortvorgabe wurde aus den Ergebnissen des qualitativen Untersuchungsteils entwickelt: „Es hat sich einfach eine gute Gelegenheit zum Kirchenaustritt ergeben“ – ob durch den Umzug in einen neuen Ort, über Verabredungen zum Kirchenaustritt mit Freunden, in der Familie oder weil man ohnehin im Standesamt zu tun hatte. Quantitativ ist diese Variante mit jeweils 13 Prozent bei den seit 2018 Ausgetretenen insgesamt noch am geringsten verbreitet. Allerdings zeigt sich in beiden Gruppen (vormals evangelisch oder katholisch) ein überaus klarer Bezug zum Alter der Befragten: Unter den Älteren ab 60 Jahren votieren 7 Prozent entsprechend, bei den Jüngeren (18 bis 35 Jahre), die zugleich den größten Anteil dieser Ausgetretenen stellen, ist es fast ein Fünftel. Obschon die Studie nur eine Momentaufnahme zeigen kann: Es ist nicht auszuschließen, dass sich darin ein Trend ankündigt.

Auch bei den nachgefragten Gründen für den Kirchenaustritt liegen die jüngeren seit 2018 (aus der evangelischen Kirche) Ausgetretenen mit ihren klaren Zustimmungen vor allem dann mit erheblichem Abstand zu den Älteren vorn, wenn es um Aspekte des fehlenden religiös-kirchlichen Commitments geht: „Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil ich in meinem Leben keine Religion brauche“ (68 Prozent/42 Prozent), „mit dem Glauben nichts mehr anfangen kann“ (65 Prozent/46 Prozent), „mir die Kirche gleichgültig ist“ (55 Prozent/43 Prozent). Außerdem gehört die (ebenfalls weit überwiegend) fehlende Nutzung der kirchlichen Angebote zu diesem Antwortmuster, dies allerdings ohne nachweisbare Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren. Genau in diesen Kontext des fehlenden Commitments ist auch die Ersparnis der Kirchensteuer eingebettet, die mehr als drei Viertel der Jüngeren (54 Prozent der Älteren) als einen Grund für ihren Austritt veranschlagen.

Ersparnis der Kirchensteuer

Allein dieses Ergebnis zeigt, dass die Kirchensteuer nicht für sich allein steht, sondern vorrangig bei Kosten-Nutzen-Abwägungen ins Spiel kommt. Und wenn die religiös-kirchliche (Ein-)Bindung fehlt, tritt – jedenfalls auf längere Sicht – die Kostenseite in den Vordergrund. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, sondern hat sich schon aus früheren Studien ergeben. Ein Ansetzen bei der Kostenseite, also die Kirchensteuerzahlung als Stellschraube vor allem bei der jüngeren Generation zu bedienen, würde jedoch weitgehend ins Leere laufen, und zwar gerade bei den Jüngeren: Nur 1,2 Prozent sind sich sicher, dass „eine Verminderung oder Aussetzung der Kirchensteuerzahlung“ ihren Entschluss zum Kirchenaustritt verhindert hätte, während 78 Prozent dem keine Chance einräumen. Vielmehr ist es das Problem der mangelnden oder fehlenden Plausibilität der Kirchenmitgliedschaft, gegen das kaum ein Kraut gewachsen zu sein scheint, wenn es keinen Bezug mehr zu Glauben und Kirche, kein religiös-kirchliches Commitment gibt, bei dem sich ansetzen ließe.

Entscheidend für dessen Aufbau ist die religiöse Sozialisation, vor allem in der Familie. Ihr Bedeutungsverlust ist vielfach nachgewiesen und bei den vormals Evangelischen der Austrittsstudie des SI in einem sich über die Generationen praktisch nahtlos durchziehenden Rückgang der (wahrgenommenen) Religiosität zu beobachten: von den Großeltern über die Eltern – sowie über die selbst erfahrene Erziehung – bis zum weit überwiegend kaum oder gar nicht religiösen Selbstbild der Befragten. Letztlich beginnt der Kirchenaustritt als Prozess damit oftmals schon in der Kindheit oder Jugend, weil Religion und Kirche darin einen eher unbedeutenden Platz einnahmen. So bestätigen auch die Ausgetretenen in der qualitativen Teilstudie bis auf wenige Ausnahmen, was schon seit langem beklagt wird: Nach der Konfirmation ist der Kontakt zur Kirche eingebrochen. Spätestens seit der EKD-Synode 2018 sind die Jüngeren denn auch ins Zentrum der Aufmerksamkeit kirchenleitenden Handelns gerückt, in das sie ihre Perspektiven – inklusive umfangreicherer Mitbestimmungsrechte – stärker einbringen können sollen: ein wichtiger Schritt.

Inwieweit sich darüber ein Bezug zum Austrittsgeschehen entwickelt, ist aber unsicher; denn ein solches Engagement setzt das schon mehrfach angesprochene religiös-kirchliche Commitment voraus. Von daher gilt es nach wie vor, den verschiedenen Sozialisationsinstanzen in Kindheit und Jugend besonderes Augenmerk zu widmen. Die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftserhebungen zeigen, dass dazu in der Familie nach den Eltern insbesondere die Großeltern zählen, die zugleich noch am häufigsten in der Kirche verankert sind. Aber auch die biografischen Stationen Kita und Schule sowie Christenlehre und Konfirmandenarbeit verdienen eigene Beachtung. Eine Konzentration allein auf die jungen Menschen selbst reicht jedenfalls nicht aus. Was nach dem Austritt bleibt, ist für die Mehrheit die Teilnahme an Kasualfeiern im Familien- und Freundeskreis, mitunter auch der Weihnachtsgottesdienst: Das geben zwei Drittel der seit 2018 aus der evangelischen Kirche Ausgetretenen an; unter den anderen Befragtengruppen fällt dieser Wert noch höher aus. Zwar ist der Weg zurück in die Kirchen für die meisten ausgeschlossen. Diese Berührungen sind aber immerhin geeignet, positive Erinnerungsspuren wieder zu beleben. 

 

Die Auswertung der Studie wird bis zum Ende des Jahres zum Download unter 

www.siekd.de zur Verfügung stehen.

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Petra-Angela Ahrens

Petra-Angela Ahrens ist Referentin für empirische Kirchen- und Religionssoziologie am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover.


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