Denkanstöße

Ganztodtheologie

Die Covid-19-Pandemie erinnert täglich an unsere gern tabuisierte Sterblichkeit. Und der trotz seines Ruhestandes literarisch ungemein produktive Systematische Theologe Werner Thiede erinnert die evangelische Kirche in seinem neuesten Buch an ihre Verantwortung, Zeugnis von ihrer Hoffnung angesichts des Todes abzulegen. Diese Hoffnung sei insbesondere seit der Verbreitung der Ganztod-Theologie kraftlos geworden. Im Unterschied zu dieser Theologie, nach der der Mensch als leib-seelische Ganzheit vollständig stirbt, bevor er später auferweckt wird, plädiert Thiede für die Annahme einer unsterblichen Seele.

Im ersten Teil des Buches wird konstatiert, dass die Todestabuisierung der Gesellschaft auch angesichts von Phänomenen wie der Hospizbewegung oder der Körperwelten-Ausstellung überwiegend fortbestehe. Diese Todestabuisierung sei im 19. Jahrhundert entstanden und habe mit dem Verlust des Glaubens an Gott sowie der christlichen Hoffnung über den Tod hinaus zu tun. Anschließend fragt der Autor, ob die pseudoreligiösen Heilshoffnungen, die manche mit der gegenwärtigen Digitalisierung verbinden, im Sinne einer Suche nach einer Ersatzlösung für christliche Unsterblichkeitsverheißungen gedeutet werden könnten. Einerseits führt dieser Exkurs zu den Gefahren der Digitalisierung, einem Lieblingsthema Thiedes, punktuell etwas weit vom Thema weg. Andererseits ist es zu begrüßen, dass damit ein Gegenstand ideologiekritisch beleuchtet wird, der in der theologischen Ethik regelmäßig unterschätzt wird.

Im zweiten Teil werden die Versuche der Parapsychologie dargestellt, spirituelle Phänomene wissenschaftlich zu untersuchen. Während sich Theologen an dieses Thema normalerweise nicht herangetrauen, zeigt Thiede, wie eine differenzierte und seriöse theologische Auseinandersetzung aussehen kann. Es folgt ein detaillierter und interessanter Überblick zur Nahtodforschung seit der thanatologischen Welle der 1970er-Jahre. Der Autor stellt dar, dass das Thema von esoterischen Strömungen vereinnahmt worden sei, weil die Theologie das wachsende Interesse für Jenseitsfragen nicht bedient habe.

Im dritten Teil beschäftigt sich Thiede mit eben diesen esoterischen Strömungen. Dabei kann er auf die Expertise zurückgreifen, die er in seiner langjährigen Tätigkeit in der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen gewinnen konnte. Alles andere als unkritisch werden unterschiedliche esoterische Vorstellungen als Ausdruck von „Protest gegen die aufgeklärte Einebnung aller Unsterblichkeitshoffnungen“ dargestellt und theologisch eingeordnet. Dass in Deutschland mittlerweile mehr Menschen an Seelenwanderung und Reinkarnation glauben als an die christliche Erlösungslehre, ist nach Thiede nicht zuletzt Ausdruck eines theologischen Versagens der Kirche.

Im vierten Teil werden Denkanstöße zur Überwindung der diagnostizierten theologischen Krise gegeben. So müsse Luthers Vorstellung vom Seelenschlaf nach dem Tod entgegen einer unterstellten lutherischen Ganztod-Theologie wiederentdeckt werden. Der Ganztod als das seit dem 20. Jahrhundert in der evangelischen Theologie vorherrschende Paradigma bleibe hinter der biblischen Verheißung zurück, vernachlässige die Bedeutung der Substanz und könne dem Menschen keine Hoffnung geben. Das Buch endet sympathisch mit einem persönlichen religiösen Gedicht.

Der Vorwurf, es handele sich bei der Entwicklung der Ganztod-Theologie um eine Anpassung an den säkularen Zeitgeist, wird dem theologischen Anspruch dieses Ansatzes nicht ausreichend gerecht. Dass diese Theologie sogar für einen Teil des Rückgangs der Kirchenmitgliedschaft verantwortlich gemacht wird, hält der Rezensent für nicht überzeugend, da er regelmäßig die Erfahrung macht, dass seine Studierenden in der Dogmatik-Lehrveranstaltung zum ersten Mal überhaupt vom Ganztod-Gedanken hören. Diese kritische Anmerkung ändert jedoch nichts am positiven Gesamteindruck des gut lesbaren und außerordentlich anregenden Buches.

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