Stabilisierung der eigenen Egozentrik

Über ein Gefühl radikalster Negation des je anderen
Als Hassprediger treten Florian Kropp, Patrik Cieslik und Davide Brizzi (von links) bei der Probe des Theaterstücks „INSIDE IS“ im Berliner Grips-Theater auf.
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Als Hassprediger treten Florian Kropp, Patrik Cieslik und Davide Brizzi (von links) bei der Probe des Theaterstücks „INSIDE IS“ im Berliner Grips-Theater auf.

Es gibt keinen Menschen, der nicht hasst oder hassen könnte. Hass ist geschichtlich wandelbar und kann in ganz  unterschiedlichen Ausdrucksformen artikuliert werden, wie der emeritierte Münchener Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf aufzeigt.

In altehrwürdigen religiösen Texten der Menschheit ist oft vom Hassen die Rede: nicht etwa nur vom Hass eines Menschen gegen einen anderen Menschen oder vom gemeinschaftlichen Hass eines Kollektivs, etwa einer ethnischen Gruppe oder einer Glaubensgemeinschaft. Vielmehr findet sich hier nicht selten auch die Vorstellung vom Hass Gottes. „Der Herr hasst alles, was ein Greuel ist“, heißt es in Sirach 15. So konnte Hass gegen andere zu einem unbedingt zu befolgenden Gebot Gottes werden: „Sollte ich nicht hassen, Herr, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen Dich erheben? Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden“, übersetzte Martin Luther Psalm 139, Vers 21 und 22. In der von Zwingli inspirierten Zürcher Bibel heißt dies so: „Ich hasse sie mit vollkommenem Hasse, als Feinde gelten sie mir“.

Aber nicht bloß in der Hebräischen Bibel ist Hass ein zentrales Thema. Auch im Neuen Testament findet sich viel Hasssemantik. Hass, das Gegenteil der Nächsten- und gar Feindesliebe, kann hier zur frommen Tugend verklärt werden. Vom wahren Jünger Jesu ist im Lukas-Evangelium Hass gefordert: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, und dazu sich selbst, dann kann er nicht mein Jünger sein“ (Lukas 14,26). Ähnliches bieten zudem die islamischen Überlieferungen, in denen nicht nur das Hassen der Menschen, sondern Gott selbst als Subjekt entschiedenen Hasses zum Thema wird. In seinem Hass verflucht Allah laut Sure 2 die Ungläubigen, also Juden und Christen, und ruft die wahrhaft Frommen dazu auf, nun ihrerseits all jene zu verfluchen, die Gott verflucht hat. Diesen Verfluchten droht Vergeltung: „Diejenigen, die nicht an die Botschaften Allahs glauben – ihnen ist eine schwere Strafe. Und Allah ist mächtig, der Herr der Vergeltung“ (Sure 3.4).

Fließende Übergänge

Also: Vom Hass Gottes und seinem Gebot, dass um seinetwillen die Frommen die Sünder (wer auch immer dies im Einzelnen sei) hassen müssen, ist in allen drei großen monotheistischen Glaubensüberlieferungen der Menschheit die Rede. Warum wird hier so oft und intensiv vom Hass geredet? Nimmt man die uralten „heiligen“ Texte ernst, muss die Antwort lauten: Weder von Gott noch vom Menschen scheint sich angemessen reden zu lassen, wenn vom Hass geschwiegen wird. Das legt die Vermutung nahe: Hass ist ein konstitutives Element der Conditio humana. Es gibt keinen Menschen, der nicht hasst oder hassen könnte. Solcher Hass ist geschichtlich wandelbar und kann in ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen artikuliert werden. Man muss zudem zwischen dem gegen Menschen sich richtenden Hass und dem Hass gegenüber Lebensphänomenen wie der Unordnung, notorischer Verlogenheit und verbreiteter Dummheit unterscheiden. Die Übergänge sind hier aber fließend. Hass scheint sehr viel mit elementarer Verunsicherung zu tun zu haben. Allerdings gibt es selbst für zentrale Fragen bisher kaum hilfreiche Antworten: Warum hassen Menschen? Wieso nimmt ihre Ablehnung von Anderen, Fremden, Fernen die Gestalt von oft extrem aggressivem, gewaltbereitem Hass an? Offenkundig wird die Erfahrung von elementar Anderem, Fremdem als bedrohlich erlebt. Dieses Fremde kann ein anderer Glaube oder ein ganz andersartiger Lebensstil sein. Auch mag sich der eine oder die andere durch eine „unnormale“ – dann oft als „unnatürlich“ herabgesetzte – sexuelle Identitätskonstruktion eines anderen irritiert und herausgefordert fühlen.

Ganz starke Ablehnung äußert sich dann als Hass, wenn man die eigene personale Identität verletzt und bedroht sieht. Hass ist ein Gefühl radikalster Negation des je anderen. Er dient der Stabilisierung des unausweichlich fragilen, verletzlichen eigenen Ich.

Oft kann man lesen, dass Hass in den vergangenen zwanzig oder dreißig Jahren in vielen westlichen Gesellschaften zugenommen hat. In der Tat liegt dazu inzwischen eine ganze Reihe von empirisch gehaltvollen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen vor. Diverse Studien zum Thema Antisemitismus lassen mit erschreckender Deutlichkeit erkennen, dass in allen europäischen Gesellschaften, gerade auch in Deutschland und Österreich, eine zunehmend größere Zahl jüdischer Bürger demonstrative Beleidigungen und pöbelhafte Schmähungen sowie, horribile dictu, immer wieder auch körperliche Gewalt erleiden müssen. Lesbische Frauen und homosexuelle Männer bekunden trotz aller rechtlichen Gleichstellung und der vielfältig bekundeten Anerkennung von „diversity“ noch immer, im Alltag vielfältige Erfahrungen mit sei es mehr oder minder subtiler Ausgrenzung, sei es harter Diskriminierung gemacht zu haben.

Raues Klima

Folgt man den Kriminalstatistiken der Polizeibehörden, haben überall in Europa in den vergangenen Jahren „hate crimes“ signifikant zugenommen. Nun ist es zunächst nur eine Trivialität, dass das gesellschaftliche Klima rauer, schwieriger, unversöhnlicher geworden ist – schon vor der Covid-19-Pandemie, aber durch diese noch einmal verstärkt. Einst akzeptierte Regeln des zivilen Austrags von Konflikten werden von nicht wenigen „Protestbürgern“ und „Querdenkern“ bewusst unterlaufen, oft mit hoher Aggressionsbereitschaft. Allerdings kann man seit Hegels Analysen der modernen „bürgerlichen Gesellschaft“ wissen, dass Gesellschaften mit kapitalistischer Tauschwirtschaft nicht durch Harmonie und Gemeinwohlorientierung der vielen Verschiedenen, sondern durch harte ökonomische Konkurrenz, Interessengegensätze und egozentrische Selbstdurchsetzung fortwährend miteinander rivalisierender Akteure geprägt sind. Seine eigenen Interessen zu verfolgen, ist in einer solchen Gesellschaft legitim, und man darf mehr oder minder verlogene Gemeinwohlrhetorik als deutsche Ideologie kritisieren.

Aber beim Thema Hass geht es um mehr als nur um moralisch legitime weltanschauliche Verschiedenheit und die unhintergehbaren wirtschaftlichen Interessengegensätze von Individuen und partikularen Kollektivsubjekten wie Unternehmen, Verbänden, Parteien, sozialen Gruppen oder auch ökonomischen Klassen. Der je Andere wird im Hass nicht mehr bloß Konkurrent oder Gegner, sondern als Feind oder gar als zu eliminierender Feind wahrgenommen – weil man in ihm eine als existenziell erlittene Bedrohung des eigenen Identitätsentwurfs sieht.

Hass ist ein Grundbegriff der modernen politisch-sozialen Sprache. Jedenfalls konnte das Wort seit der „Sattelzeit“ (Reinhard Koselleck) um 1800 auch in diversen Komposita konkretisiert werden: „Rassenhass“, „Klassenhass“, „Fremdenhass“, „Schwulenhass“. Schon im frühen 19. Jahrhundert sind zudem Begriffe wie „Nationalhass“ und „Hass auf die Feinde des Vaterlandes“ belegt. Während der Befreiungskriege erklärte Ernst Moritz Arndt Hass zu einer „heiligen Pflicht“: „Einmütigkeit der Herzen sei eure Kirche, Hass gegen die Franzosen eure Religion.“

Aber nicht nur gegen die äußeren Feinde der Nation wurde überall in Europa gerade in Kriegszeiten fortwährend Hass eingeklagt. Aufrufe zu starkem Hass prägten auch die Kulturkämpfe zwischen den einander widerstreitenden christlichen Konfessionen und die Angriffe der Antiklerikalen auf religiöse Institutionen und deren Wortführer. In Texten aus dem langen 19. Jahrhundert finden sich zahlreiche Belege für den „Pfaffenhass“ beziehungsweise „Hass gegen die Pfaffen“, für kirchenfeindlichen „Kirchenhass“ und für „Hass gegen die Staatskirche“. Glaubenskritiker riefen immer wieder zu „Religionshass“ auf. Zwar ist unklar, wer wann mit welchem Interesse den Begriff „Hassprediger“ prägte. Aber dass der 2006 in den „Duden“ aufgenommene „Hassprediger“ seit der Islamischen Revolution im Iran in den europäischen Islam-Debatten hohe Konjunktur hat, ist evident.

In den boomenden Kulturkampfindustrien der Gegenwart haben profitorientierte Unternehmer gerade deshalb starkes Interesse an der medialen Vermarktung ihres Hasses, weil sie sich hohe Aufmerksamkeitsrenditen erhoffen. Der andere als Gegner – das ist eine eher langweilige diskursive Figur. Der andere als zu vernichtender Feind – damit kann man in den diversen Medien öffentlicher Kommunikation nicht nur die eigenen Getreuen, sondern zugleich den einen oder anderen noch Fernerstehenden mobilisieren. So lässt sich Hassrhetorik auch als eine effiziente Kommunikationsstrategie deuten: Man markiert unüberbietbar starke Differenz zwischen sich und dem negierten Anderen, weil man so Aufmerksamkeit für sich selbst gewinnt. Oft ist Hass bloß ein Ausdruck narzisstisch gekränkter Selbstbezüglichkeit. Indem man einen anderen oder etwas anderes hasst, stabilisiert man die eigene Egozentrik. Man gewinnt für sich selbst Eindeutigkeit, weil man das andere seiner selbst unüberbietbar klar negiert.

Schon 1827 schrieb Wilhelm Traugott Krug, ein kulturprotestantischer Frühliberaler: „Der Menschenhass entsteht aber bald aus beleidigtem Stolze, erlittenen Kränkungen, getäuschten Hoffnungen, bald aus Melancholie oder Hypochondrie, vermöge der man in jedem Andern einen Feind erblickt“. Hass sei „ein Affekt, der aus einem höhern Grade des Abscheus hervorgeht“. Hass galt dem eher harmonistisch gestimmten Kantianer deshalb als Inbegriff des Bösen: „Ein feindseliges Gemüth, d. h. ein Gemüth voll Hass gegen Andre ist immer ein böses Gemüth.“ Wie ist mit jenen umzugehen, die zum Hass gegen andere aufrufen? Muss man sie ihrerseits nun hassen? Darf man dies? Hilfreich sind Unterscheidungsfiguren, die schon in den theologischen Debatten der Reformatoren des 16. Jahrhunderts entworfen wurden. Einerseits wurde in christlichen Diskursen immer wieder die Nächsten- und Feindesliebe beschworen. Andererseits wurde von den Frommen verlangt, sich den Hass Gottes gegen seine Feinde, die Ungläubigen und Gottlosen, zu eigen zu machen. Die hier bestehenden Spannungen wurden in der Geschichte der konfessionellen Christentümer vor allem mit einer die biblische Rede vom Gotteshass abschwächenden Unterscheidung bearbeitet: Gott hasse das Böse, aber nicht die Bösen. So erklärte Johannes Calvin in einem viel zitierten Brief aus dem Januar 1564, dass Davids exemplarischer Hass „gegen die Verworfenen“ gerade darin rechtens und vorbildlich sei, dass man zwischen „dem Bösen“ und „den Bösen“ unterscheiden müsse: „Das Böse hassen, aber uns nicht an die Personen halten, sondern jeden seinem Richter übergeben.“ Zwar wurde diese Unterscheidung zwischen „dem Bösen“ und „den Bösen“ in den philosophischen und theologischen Diskursen der Moderne seit 1800 vielfältig fortgeschrieben. Aber dass sie starke Wirkkraft zu entfalten vermochte und sich erfolgreich durchsetzte, wird man nicht behaupten können.

Gerade in den Religionsgeschichten von Früher Neuzeit und Moderne traten immer wieder glaubensstolze, vom Willen zu unbedingter Eindeutigkeit bestimmte Akteure auf, die das Böse als das radikal Gottwidrige, die Souveränität des allmächtigen Schöpfers in Frage Stellende, Bedrohende aus der Welt zu schaffen versuchten, indem sie die Bösen bekämpften. Diese besonders entschiedenen, ihrem Gott mit existenziellem Ernst folgenden Frommen eliminierten andere, um das von diesen repräsentierte Böse zu vernichten. Dass ihr Hassen viel „Gegenhass“ provozierte, ist auch aus den christlichen Religionsgeschichten der Moderne bekannt.

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Foto: dpa/Horst Galuschka

Friedrich Wilhelm Graf

Dr. D. Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik. Er lebt in München.


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