Der Taxifahrer zögert nicht mit der Antwort: „Die Mitmenschlichkeit ist gewachsen“ – sagt er. Dabei hat meinen Taxifahrer die Pandemie schwer getroffen. Er ist selbstständig. Für das gesamte Jahr 2020 hat er siebentausend Euro Staatshilfe bekommen. Obwohl ihm die meisten Einnahmen wegbrachen. Für 2021 waren es bisher fünftausend Euro. Und nun frage ich ihn, wie sich die Gesamtatmosphäre in der Gesellschaft nach seinem Eindruck entwickelt hat. Seine Antwort überrascht mich. Ist die Mitmenschlichkeit wirklich gewachsen?
Offensichtlich haben jedenfalls diejenigen nicht recht behalten, die sagen, gerade in Zeiten der Krise werde der Mensch dem Menschen ein Wolf. Zu viele Geschichten, die wir persönlich erfahren haben oder uns erzählt und berichtet worden sind, sprechen eine andere Sprache. Zum Beispiel die im Fahrstuhl des Hochhauses aufgehängte Liste, in die sich alle eintragen konnten, die Hilfe brauchten und die Hilfe geben konnten. Und in der Flutkatastrophe setzten Helfende, manchmal von weither, ihren Urlaub dafür ein, um für Menschen, die sie vorher gar nicht kannten, den Schlamm aus dem Keller zu holen.
Sicher gab es auch andere Erfahrungen. Die „Klopapier-Raffer“ zu Beginn der Pandemie sind zum Symbol, aber auch zum Spottobjekt, für einen Egoismus geworden, der in Zeiten der Knappheit nur sich selbst kennt. Aber aus dem Munde der Menschen, die geholfen haben, habe ich immer wieder gehört: „Ich würde doch auch hoffen, dass mir jemand hilft, wenn ich in einer solchen Lage wäre. Deswegen will ich es jetzt auch tun.“ Und dass die Medien während der Flutkatastrophe so viele persönliche Geschichten des Leids, aber auch der Rettung und der Dankbarkeit für die überwältigende Unterstützung gebracht haben, hat geholfen. Auch wenn das Leid weiter weg ist – wie etwa bei den Katastrophenerfahrungen von Geflüchteten: Es sind die persönlichen Geschichten, die berühren und zur Hilfe motivieren.
Solches Hineindenken und Einfühlen als Grundlage für Mitmenschlichkeit ist uralt. Wir finden das schon in der Bibel. „Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid“ (Exodus 23,9). Die Erinnerung an die Not des eigenen Volkes und seine Befreiung wird zum Grund des Aufrufs zu Mitmenschlichkeit. Das ist genau das, was Jesus meint, wenn er in der Bergpredigt das Liebesgebot mit der „Goldenen Regel“ illustriert: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7,12). Der biblischen Ethik ist jeder Moralismus fremd. Mitmenschlichkeit ist schlicht die selbstverständliche Konsequenz aus der selbst erfahrenen Menschenfreundlichkeit Gottes. Was könnte eine bessere Grundlage für ein gutes Leben sein?
Mein Taxifahrer will übrigens weitermachen, obwohl die wirtschaftlichen Aussichten ungewiss sind. „Ich mache meinen Job einfach gerne.“ Die Zuversicht, die er ausstrahlt, nehme ich als Geschenk für mich selbst mit.
Heinrich Bedford-Strohm
Heinrich Bedford-Strohm ist Landesbischof in München, EKD-Ratsvorsitzender und Herausgeber von zeitzeichen.