Fabelhafter Wahlaufruf

Foto: Harald Oppitz

Übermorgen ist Wahltag. Vor Jahrzehnten waren Hirtenbriefe der Bischöfe üblich, die von katholischen Kanzeln aus dem gläubigen Volk verkündeten, wo es denn bitteschön sein Kreuzlein setzen sollte. Diese Sitte ist aus der Mode geraten. An dieser Stelle sei heute als evangelisches Kolumnen-Hirtenbrieflein eine biblische Fabel aus dem Richterbuch zitiert. Es geht um darum, dass die Bäume einen König auswählen sollen. Die Fabel selbst ist übrigens in revolutionärer Weise königskritisch!

Richter 9, 8-15 Die Bäume gingen hin, um einen König über sich zu salben, und sprachen zum Ölbaum: Sei unser König! Aber der Ölbaum antwortete ihnen: Soll ich meine Fettigkeit lassen, die Götter und Menschen an mir preisen, und hingehen, über den Bäumen zu schweben? Da sprachen die Bäume zum Feigenbaum: Komm du und sei unser König! Aber der Feigenbaum sprach zu ihnen: Soll ich meine Süßigkeit und meine gute Frucht lassen und hingehen, über den Bäumen zu schweben? Da sprachen die Bäume zum Weinstock: Komm du und sei unser König! Aber der Weinstock sprach zu ihnen: Soll ich meinen Wein lassen, der Götter und Menschen fröhlich macht, und hingehen, über den Bäumen zu schweben? Da sprachen alle Bäume zum Dornbusch: Komm du und sei unser König! Und der Dornbusch sprach zu den Bäumen: Ist’s wahr, dass ihr mich zum König über euch salben wollt, so kommt und bergt euch in meinem Schatten; wenn nicht, so gehe Feuer vom Dornbusch aus und verzehre die Zedern Libanons.

Fabeln sollen sich selbst auslegen, und so sei heute von mir nur Folgendes angemerkt: Gut, dass wir keine Könige mehr wählen, sondern einen Bundestag. Noch besser, dass Bundeskanzler*innen nicht gesalbt, sondern ebenfalls gewählt werden. Auch gut, dass es Menschen gibt, die sich für diese Ämter überhaupt zur Verfügung stellen, trotz shitstorms im Netz, Morddrohungen, nervigen Fernsehdebatten und einer Bezahlung, für die kein Manager eines DAX-Unternehmens morgens aufstehen würde. Die drei Kandidaten Ölbaum, Feigenbaum und Weinstock zeichnen sich übrigens nicht gerade für übermäßigen Einsatz fürs Gemeinwohl über ihr berufliches Portfolio hinaus aus. Interessant ist auch, wer sich letztlich als Schattenspender anbietet. Unter einem Dornstrauch habe ich jedenfalls noch nie Sonnenschutz genossen. Es lohnt sich also, die Wahlprogramme genau anzuschauen.

So viel von der evangelischen Kanzel. Egal, wer am Sonntag gewinnt: Der künftige Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin wird nicht darum herumkommen, dass ich ihn oder sie in mein Gebet einschließe, ob er oder sie nun gläubig ist oder nicht. Ich bete auch für Atheisten. Es ist eine riesige Herausforderung, in diesen Zeiten ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland zu regieren. Ich finde, dafür wird jede Unterstützung gebraucht. Ich leiste meinen Beitrag.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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