Von wegen Vielfalt!

Wir feiern zu viele immergleiche Gottesdienste
Foto: privat

Über 70 evangelische Gottesdienste finden in Stuttgart ausweislich der Website der dortigen Evangelischen Kirche am kommenden Sonntag statt. Nicht mitgezählt sind dabei die Gottesdienste, die am Samstagabend oder zu einem anderen Termin an diesem Wochenende gefeiert werden. Immerhin noch 30 evangelische Gottesdienste findet die Website berlin-evangelisch.de für mich. Auch hier habe ich die Suche auf den kommenden Sonntag eingegrenzt.

Im ziemlich heidnischen Magdeburg komme ich auf 19 evangelische Gottesdienste an diesem Wochenende, darunter eine Konfirmation am Samstag und der Ökumenische Landeserntedankgottesdienst auf der Seebühne im Elbauenpark. Auch unter den Sonntagsgottesdiensten in Stuttgart und Berlin werden sicher einige „besondere Gottesdienste“ sein. Gut möglich!

Eine qualitative Untersuchung führte an dieser Stelle zu weit. Außerdem bieten die Websites der Kirchen, auch in anderen Städten, nicht gerade beste Möglichkeiten, die Angebote auf einen Blick zu erfassen. Sehr wahrscheinlich bilden die Websites auf Kirchenkreis- oder Stadtebene das Angebot noch nicht einmal vollständig ab.

Riesiges, gleichförmiges Angebot

Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel, hat seiner Landeskirche nahegelegt, am Thema Vielfalt der kirchlichen Angebote zu arbeiten. Und er weist den Kirchenkreisen dabei eine „Schlüsselfunktion“ zu, „um ein Konzert verschiedener abgestimmter Angebote vorzuhalten, damit wir unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Milieus erreichen können“. Dass es sich dabei um Zukunftsmusik handelt, versteht man mit einem Blick auf die Websites der (städtischen) Kirchenkreise in den evangelischen Landeskirchen.

Das Angebot ist riesig, zum Teil auch diversifiziert, aber es ist vor allem unübersichtlich, gleichförmig, wenig unterscheidbar. Evangelische Großstädter:innen können jeden Sonntag zwischen drei oder vier im Grunde gleichen evangelischen Gottesdiensten in fußläufiger Entfernung wählen. Selbst auf dem Land hält sich die Unsitte, Pfarr:innen und Liturg:innen von einem Kaff zum nächsten juchteln zu lassen, anstatt sich zum Gottesdienst in den Nachbarort zu bequemen.

Das können wir uns nicht mehr leisten! Wir verschleißen das ehren- und hauptamtliche Personal, nur damit kleine und kleinste Gottesdienstgemeinden ja unter dem eigenen Kirchturm feiern können. Und Spaß macht es auch nicht, wenn man nur zu fünft oder sechst herumkrakelt.

Immer eine Kerze

Doch mein Hauptproblem ist nicht der pure Überfluss, wenngleich die Evangelische Kirche sich die positiven Effekte einer künstlichen, d.h. absichtsvollen Verknappung durchaus anschauen dürfte. Stichwort: Gegenseitige Kannibalisierung. Mir geht es darum, dass sich die Angebote gleichen wie ein Ei dem anderen. Das schlägt sich auch digital nieder: Die Kirche im Netz stellt häufig nur dar, was sie analog schon ist. Haben Sie sich auch schon mal gewundert, warum eigentlich in einer Andacht immer eine Kerze entzündet wird? Warum die Pfarrpersonen und Lektor:innen immer gleich zu sprechen scheinen?

Als eine Lehre aus den zahlreichen digitalen Gottesdienst-Formaten der vergangenen Corona-Monate wird landläufig destilliert, die Gottesdienste müssten kürzer und moderner werden. Ich will aber nicht allein kürzere Gottesdienste, sondern spannendere! Und ich will erst recht keinen Einheitsbrei „modernisierter“ Liturgien. Darunter erstickt ja die Evangelische Kirche seit den ausgehenden 1970er-Jahren.Meiner sächsischen Kindheit und Jugend verdanke ich, dass ich mich im liturgischen Gottesdienst gut zurechtfinde. Ja, dass ich den Gottesdienst mit Gemeinde-Liturgie, Predigt und Abendmahl nicht nur gewohnt bin, sondern schätze. Das macht mich zu einem Mitglied einer aussterbenden Spezies, ich weiß. Aber das liegt neben der Sperrigkeit der Form auch daran, dass sie vielerorts verschämt gefeiert und wenig einladend gelehrt wird.

Keine Messpflicht 

Wir brauchen um Himmels Willen keine neue Liturgiereform, die den evangelischen Gottesdienst noch weiter zusammenschleift und vereinheitlicht! Nein, stattdessen brauchen wir in den Städten, im ländlichen Raum und auch online eine Vielfalt unterschiedlicher gottesdienstlicher Angebote – für die dann bitte, bitte wenigstens ein paar der Standardgottesdienste ausfallen dürfen! Wir haben keine Messpflicht zum immergleichen Sonntagsgottesdienst.

Ich brauche meinen liturgischen Sonntagsgottesdienst mit Abendmahl, realistisch betrachtet, einmal im Vierteljahr. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man dafür überall im Land ein gut gefülltes Kirchenschiff zusammenkriegt. Ebenso für die Rock- oder Jazz-Messe, den Familiengottesdienst, den kindgerechten Gemeindegottesdienst in einer dreiviertel Stunde, den Abendgottesdienst mit tiefgründiger Predigt und Abendmahl, die WochenEnd-Andacht, den Godi auf Couches mit Cocktail und Predigt-Slam, den Singe-Gottesdienst mit Chor-Projekt - von mir aus sogar für einen Literaturgottesdienst.

Die Leute, die jeden Sonntag den immer gleichen Gottesdienst in der immer gleichen Kirche „wollen“, sterben aus. Und sie suchen – so meine durch Erfahrungswissen begründete Vermutung – vor allem den sozialen und geselligen Anschluss. Das lässt sich auch einrichten, ohne haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen in einer ewig währenden Überlandverschickung Gottesdienst-Formate durchziehen zu lassen, die angesichts von Mini-Gottesdienstgemeinden nur noch lächerlich sind. Warum sollte man drei Leuten von der Kanzel herab predigen, statt einen Kaffee miteinander zu trinken?

Bummsvolles Programm

Warum sollten im Abstand von wenigen Kilometern drei oder vier Gottesdienstgemeinden denselben Gottesdienst an unterschiedlichen Orten mit einer Gruppe feiern, die bequem in einem Wartezimmer eine:r Hausärzt:in Platz fände? Warum sollten wir nicht haupt- und ehrenamtlichen Liturg:innen den Freiraum zur Gottesdienstgestaltung geben, den sie kraft ihrer Ausbildung und Talente kreativ füllen können?

Im Mix mit den immer noch zahlreichen Kasualgottesdiensten, den großen christlichen Feiertags-Gottesdiensten und im ökumenischen Wechselschritt mit anderen Konfessionen vor Ort ergäbe sich ein immer noch bummsvolles Programm an gottesdienstlichen Angeboten, in dem jede:r fände, was sie sucht. Nur halt nicht jede Woche. Zum Glück: Dann kann man sich wenigstens ein bisschen darauf freuen!

Liebe Kirchenälteste, Kirchenvorstände, Gemeindekirchenräte, Presbyter:innen! An Ihnen ist es gelegen, der monotonen Endlosigkeit ein Ende zu setzen und der Vielfalt eine Chance zu geben. Viele Pfarrer:innen sind längst zur Veränderung bereit, aber befürchten, es sich mit Ihnen zu verscherzen. Setzen Sie den Rotstift an und streichen Sie die Hälfte der gewöhnlichen Gottesdienste aus Ihren Plänen! Und dann greifen Sie zur Buntstiftmappe und malen ein neues, bunteres Bild!

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"