Befreit zum Schrumpfen

Wie Kirche und Gemeinde Lust auf Postwachstum wecken können
Generationenrischka im Einsatz
Foto: Juliane Assmann
Die "Generationenrikscha" im Einsatz - hier auf einer Klimademonstration in Dresden.

Neue Wirtschaftsmodelle jenseits des Wachstumszwangs sind gefragt, um dauerhaft Umwelt und Klima zu schützen, meint Walter Lechner von der kirchlichen Inititative "anders wachsen". Und weil Christ*innen über Utopienkompetenz verfügten, könnten die Kirchen bei der Entwicklung solcher Modelle eine wichtige Rolle spielen. Erste Ansätze gibt es bereits in Dresdner Kirchengemeinden.

Im gegenwärtigen Bundestagswahlkampf ist es der Elefant im Raum, von dem alle wissen, den aber niemand beim Namen nennt, weil alle so eifrig dabei sind, ihn wortgewandt zu umschiffen: Postwachstum. Und das, obwohl, Gott sei’s gedankt, keine Wahldebatte heute mehr auskommt, ohne dass alle Beteiligten die Notwendigkeit konsequenten Klimaschutzes betonen. Doch die präsentierten Lösungswege lassen die Augenbrauen nach oben wandern: Wirtschaftswachstum durch Klimaschutz! Also: Nachhaltigkeit als Motor für die auf materiellen Zuwachs geeichte ökonomische Maschinerie. Oder, noch grotesker: Klimaschutz durch Wirtschaftswachstum! Also: Nur wenn die Wirtschaft floriert, können wir uns auch die Erhaltung der Schöpfung leisten. Ein Bekannter hat es jüngst lapidar zusammengefasst: Abnehmen durch Fressen…

Dass die notwendige umfassende Transformation der Gesellschaft ohne tiefgreifende Veränderungen, quasi unmerklich, vonstattengehen könnte, ist die einlullende Illusion, der sich sowohl Kandidierende als auch Wählende hingeben, um das Unsagbare nicht aussprechen zu müssen: Mit munter weiter wachsender Wirtschaft wird es das nicht geben. Dabei ist spätestens seit dem vor einem halben Jahrhundert veröffentlichten Bericht des Club of Rome deutlich, dass es „Grenzen des Wachstums“ braucht; dass ein „Weiter so, nur anders“ unvereinbar ist mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen; und dass eine absolute Entkopplung des uns so wohlig vertrauten anhaltenden Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch nachweislich nicht zu erreichen ist.

Neue Ansätze gefordert

Freilich werden wir nach menschlichem Ermessen in dem winzigen Zeitfenster, das uns noch zur Verfügung steht, um die Klimakatastrophe wenigstens noch einigermaßen zu begrenzen und den Planeten zumindest in den meisten Bereichen bewohnbar zu erhalten, den Komplettumbau zu einer voll ausdifferenzierten globalen Postwachstumsgesellschaft nicht schaffen. Deshalb müssen wir auch alle uns zur Verfügung stehenden Hebel und Stellschrauben innerhalb des bestehenden Systems so weit wie möglich nutzen, um den großen äußeren Rahmen, der allem Sozialen und Wirtschaftlichen gesetzt ist, die Biosphäre, zu bewahren. Und deshalb ist es natürlich alles andere als unerheblich, welche Parteien in welchen Konstellationen nach dem 26. September mit der Verantwortung für unser Land betraut werden.

Und gleichzeitig brauchen wir nicht irgendwann, sondern jetzt eine Haltung, die in eine ganz klar andere Richtung weist, damit wir noch ein „change by design“ und kein „change by desaster“ hinbekommen. Wir brauchen nicht irgendwann, sondern jetzt die Experimente, jetzt die Neuansätze, jetzt die Freiräume, um die alternativen Konzepte für eine Gesellschaft jenseits des Wachstums, die großenteils schon längst vorliegen, in der Praxis zu erproben und sozusagen „serienreif“ zu bekommen – und zwar auf allen Ebenen.

Es braucht jetzt Staaten und Staatengemeinschaften, die neue Bewertungsmaßstäbe für gesellschaftliche Entwicklung etablieren. Und es braucht jetzt regionale Projekte, die eine Postwachstumsgesellschaft im Kleinen anteasern und ausprobieren.

Kompetenz für Utopien

In diesem Zusammenhang kommt Kirche ins Spiel. Als Leute, die zu Jesus Christus gehören und ihm vertrauen, wissen wir um eine Alternative zu dieser Welt und leben auf sie hin. Was uns Christ*innen geschenkt ist, ist Utopienkompetenz: Wir sind durch Gottes Gnade Expert*innen, wenn es darum geht, an einen Ort zu kommen, den wir noch nicht sehen.

Aus dieser Grundhaltung und Bewegungsfreiheit heraus können wir als Kirche in der gegenwärtigen Herausforderung auf drei Ebenen Entscheidendes bewirken: 1. öffentlich gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft den notwendigen Systemwandel einfordern; 2. im Rahmen des Möglichen und juristisch normiert in der Breite selbst glaubwürdig handeln; und 3. durch Avantgarde-Projekte Erfahrungs- und Erprobungsräume für alternatives Leben und Wirtschaften in einer Postwachstumsgesellschaft etablieren und konsequent fördern.

Ein modellhaftes Projekt im Sinne des letzten Punktes befindet sich derzeit in Dresden im Aufbau. Kirchgemeinden machen sich auf, „anders wachsen“-Gemeinden zu werden: Orte, die im Kleinen eine Gesellschaft jenseits des Wachstums erlebbar machen möchten; Reallabore, in denen Menschen eine Ahnung bekommen: Ja, so könnte es anders gehen! So fühlt sich das an, so riecht und schmeckt das!

Da erblüht vor der Kirche ein Bauerngarten in Permakultur. Gebetszeiten und Exerzitien eröffnen Räume der Entschleunigung. Jugendliche radeln ältere Menschen auf einer kirchlichen Generationenrikscha durch den Stadtteil. Ein Foodsharing-Schrank und der Verteilstützpunkt einer Solidarischen Landwirtschaft an den Kirchen ermöglichen alternativen Umgang mit Lebensmitteln. Spiritualität, Gemeindeaufbau, Lebensstil, Bildung und Vernetzung werden vom „anders wachsen“-Gedanken her neu gedacht. (Über das Modell „anders wachsen“-Gemeinde und viele andere ermutigende Ansätze berichtet die EKD-Dokumentation „Auf dem Weg zur sozial-ökologischen Transformation“: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/transformation2021.pdf.)

Absolutes Neuland

Dass solche Projekte absolutes Neuland betreten, nach dem Try-and-error-Prinzip vorgehen müssen, immer nur ausschnitthaft handeln können und auch Widerstand und Rückschläge erleben, versteht sich angesichts des gesteckten gesamtgesellschaftlichen Rahmens von selbst. Und doch brauchen wir solche lebendigen Bilder, die Lust wecken, unser Leben und unsere Gesellschaft radikal zu transformieren, damit sich der Blick nicht auf den Verzicht und das zu Verlierende verengt, sondern für die große Verheißung weitet.

Die Chance, die darin für den Auftrag von Kirche und Gemeinde liegt, ist deutlich: in dieser singulären globalen Herausforderung nicht nur glaubwürdig vom Reich Gottes zu reden, sondern es auch in unserem, sicher immer nur ausschnitthaften, fehleranfälligen und ungenügenden, aber doch verheißungsgetränkten Handeln vor Ort glaubwürdig aufleuchten zu lassen. Den Menschen die Hoffnung auf eine andere Welt leibhaft spürbar zu machen. Und ihnen so zu ermöglichen, das, was uns trägt, als wirklich gesellschaftsrelevant und lebensverändernd zu erfahren.

Wenn in der gegenwärtigen Diskussion nur von wirtschaftlichen Zwängen, apokalyptischen Szenarien und der Angst vor angeblich freiheitsberaubenden Verboten die Rede ist, haben wir als Christ*innen ein ungeheures Pfund, mit dem wir wuchern können: die Freiheit, zu der uns Christus befreit (Galater 5,1). Es ist die Freiheit der Kinder Gottes, die Freiheit vom totalen Anspruch des Leistungsprinzips, die Freiheit seiner neuen Welt, die mit Tod und Auferstehung von Jesus Christus ihren Anfang genommen hat und in der wir, gleichzeitig zu unserem Dasein in dieser Welt, glaubend schon in Ansätzen leben, wirken und atmen.

Aus dieser Freiheit heraus entsteht der Mut, unkonventionell, innovativ und widerständig neue Formen kirchlichen Lebens zu etablieren, die ganzheitliche und hoffnungsgesättigte Antworten auf die größte Herausforderung unseres Zeitalters liefern und die Gesellschaft als ganzes auf den Weg der notwendigen Umkehr locken können.

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