Bittersüß

Von Lust und Schmerz

Die alte Frage: Kann man die antiken Klassiker mit der Brille des Zeitgenossen noch mit Gewinn lesen? Sie wird von der kanadischen Literaturwissenschaftlerin und Dichterin Anne Carson in eigenwilliger Weise beantwortet. Seit der griechischen Antike wird in Dichtung und Philosophie das doppelschlächtige Wesen des Eros als Erfahrung von Lust und Schmerz gefeiert und melancholisch meditiert. Eros wird bereits in einem lyrischen Fragment der Sappho als „bittersüß“ (glukupikron – süß-bitter) charakterisiert. Was hat es damit auf sich?

Das Begehren hat eine paradoxe Natur. Carson zeigt dies an Beispielen der altgriechischen Lyrik und Dramatik, an Plato und den späteren hellenistischen Romanen durch eindringliche Analysen und Beschreibungen, die sich – ganz frappierend – in einer Sprache darbieten, als lese man Lacan, Foucault oder Derrida.

Lust und Schmerz des Begehrens in einem Akt ist eine Erfahrung an den Rändern und Grenzen, die dazu reizen, übergriffen und überschritten zu werden: Grenzen der Zeit und des nahen Abstands und des Widerstands von Person zu Person, ja des Buchstabens, der die Einbildungskraft beim Lesen reizt. Das Greifen nach einem Apfel am hohen Ast, der schmerzlichsüße Liebreiz auch des vergeblichen Begehrens, zeigt sich Carson bereits in jener Urszene bei Sappho als eine Erfahrung im „Dreieck“ von Beziehungen:

Eros ist im Begehren zwischen Liebendem und Geliebtem die dritte Kraft, die im Hinausgreifen nach dem Unbekannten, noch nicht Erfassten wirkt. Es ist das Geschäft des Eros, dafür zu sorgen, dass das begehrte Objekt des Ergreifens oder Begreifens ein Unbekanntes, und auch, wenn es ergriffen wird, als es selbst erhalten bleibt. Sonst wäre es nur ein toter Gegenstand.

Ein schönes Bild dafür ist auch Platos Beispiel des kindlichen Vergnügens, nach einem Stück Eis zu greifen und dessen Schmelzen in der Hand zu erleben. Würde es nicht schmelzen, müsste das Kind es alsbald vor Kälte wegwerfen: kindliches Glück als ein Paradox von Gewinn und Verlust, Ergreifen und Verlieren zugleich. Was dazwischenliegt, die Bewegung des Begehrens nämlich, bildet einen „blinden Fleck“, in dem dieses „Zugleich“ seine verwandelnde Kraft entfaltet.

Das erotische Dreieck von Lust und Schmerz bildet sich, so wendet Carson die Szene, auch beim Schreiben und Lesen aus. In der Interpretation von Platos Dialog „Phaidros“ zeichnet Carson die Bewegung des Eros nach, der sich im Schreiben Lesen und Aneignen durch die Einbildungskraft entäußert und zu einem eigenen Text entfaltet. In dieser frühen Literatur der Griechen wird Hingabe eher als Beraubung, Dahinschmelzen und Verlust erlebt, in den späteren und den zeitgenössischen Kulturen liegt der Akzent stärker auf der Erfahrung, dass der sich Hingebende zu sich selbst kommt, und das ist ein Gewinn. Auch hier geschieht eine Transformation im bittersüßen Spiel des Eros.

Die „erotische List“ der begehrenden Grenzüberschreitung scheint Carson zufolge „die Grundstruktur des menschlichen Denkens zu konstituieren: Sobald der Geist sich ausstreckt, um zu wissen, öffnet sich der Raum des Begehrens und eine notwendige Fiktion tritt aus.“

Anne Carson hat keine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben, auch wenn die antike Dichtung und Philosophie sorgfältig analysiert und interpretiert wird. Die Leser finden sich eher den bewegten Flutwellen eines essayistischen Experiments ausgesetzt: poetisch inspirierend, analytisch geschliffen und mit kreativer Gestaltungskraft zwischen altgriechischer Lyrik und zeitgenössischer Sprachphilosophie springend. Dabei werden die Lesenden der schwindelnden Erfahrung des Neuen und Unbekannten zuteil, die sich einstellt, wenn man sich an den Rändern bewegt und Grenzen überschreitet. Zugleich entsteht eine Poetik des Schreibens, Lesens und Erkennens, deren erotischer Anziehung und Befremdung sowie deren postmodernem Sound man sich kaum entziehen kann – eine lohnende Lektüre.

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