Bei der Frage nach der Identität verhält es sich etwa so wie bei der Frage nach dem Sinn des Lebens: Sie wird nur dann gestellt, wenn sich die Aussicht auf eine einleuchtende Antwort eingetrübt hat. Zugleich bleibt es überaus undeutlich, wonach sie eigentlich fragt. Vielleicht wird sie gerade deshalb immer wieder hochgespült, um entweder einen diffusen Mangel zu signalisieren oder in einer verunsicherten Situation eine klare Positionierung einzufordern. Es scheint in jedem Falle um eine Art Krisenmanagement zu gehen. Da sind nicht nur die aktuellen Lebensumstände und mit ihnen jeder Blick in die Zukunft verunsichert, sondern wir selbst sind uns unserer nicht mehr sicher. Es muss doch etwas geben, was uns ausmacht und kennzeichnet, das als solches auch wahrnehmbar und benennbar ist. Woran wollen wir erkannt und dann auch von anderen unterschieden werden? Ja, es wird der Anschein erweckt, als werde mit der Frage nach der Identität eine sinnvolle Frage gestellt, für die eine hilfreiche Antwort erwartet werden darf.
Der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen rechnet „Identität“ zu den verbreiteten „amorphen Plastikwörtern“, die als „Wissenschaftsgeröll“ von der Umgangssprache aufgegriffen worden sind und dort in überaus magerer Inhaltlichkeit mehr zur Schaffung von Problemen als zu deren Lösung beitragen. Sie bleiben unterbestimmt und taugen daher vor allem für eine Selbstbeschäftigung, die in einer allein auf stolperfreie Zustimmung getrimmten Weise an ein verdrängtes oder in Vergessenheit geratenes Selbstwertgefühl appelliert. Seine (Re)Vitalisierung wird mit meist abstrakt bleibenden Verheißungen als Hoffnungsangebot unterbreitet. Dazu gehören die meisten der immer wieder aufpoppenden Leitbilddebatten und Werteplakatierungen, ebenso wie die penetrant hilflosen Patriotismus-Appelle als Präventionsmittel gegen einen wiedererstarkenden Nationalismus. Auch seriöse Stimmen verfallen da unversehens in einen unangemessenen Populismus.
Um das Pferd nicht immer wieder von hinten aufzuzäumen, wäre, anstatt nach Identität, entschlossen nach der Identifikation der uns und unser Zusammenleben bedrohenden Probleme zu fragen. Sie machen uns darauf aufmerksam, wo wir tatsächlich auf dem Spiel stehen. Es gilt, die sich immer weiter akkumulierenden Bedrohungen klar zu benennen und effektive Schritte ins Auge zu fassen, die den fatalen eigengesetzlich funktionierenden Entwicklungsdynamiken wirksam etwas entgegenzusetzen haben. Dabei wird gewiss die Illusion aufzugeben sein, dass sich die erforderlichen Veränderungen ohne einen Verzicht auf liebgewordene Ansprüche realisieren ließen. Es ist eine maßlose Überforderung, alles „smart“ haben zu wollen. Hier hat sich zu erweisen, wer wir sind; und erst recht, wenn Leben mehr heißt als Überleben.
In theologischer Perspektive wäre anstatt von Identität von der Berufung zu reden, zu der uns Gott befreit. Diese hat immer fundamental etwas mit Umkehr zu tun. Möglicherweise ergibt sich aus der Priorisierung der Frage nach der Berufung dann auch eine neue Perspektive auf die Frage nach der Identität. Zumindest besteht die Chance, dass das Pferd vom Kopf aus aufgezäumt wird.
Michael Weinrich
Michel Weinrich ist Professor em. für Systematische Theologie in Bochum und Herausgeber von Zeitzeichen.