Wenn der Kollege stirbt

Vom Umgang mit Trauer und Traumata am Arbeitsplatz
Trauer
Foto: picture alliance/PantherMedia

Jährlich sterben in Deutschland etwa 140 000 Menschen, die unter Arbeitsvertrag stehen. Sie hinterlassen trauernde Kolleginnen und Kollegen. Doch nur selten wird der Trauer am Arbeitsplatz Raum gegeben. Das kann langfristige Probleme bringen, weiß Nikola Gazzo, die sich als Coach auf dieses Thema spezialisiert hat. Sie beschreibt die besondere Verantwortung der Arbeitgeber für trauernde Angestellte und erläutert, was getan werden kann, um die Situation zu verbessern.

Ende März dieses Jahres votierte Neuseelands Parlament einstimmig für eine ungewöhnliche Gesetzesänderung im Arbeitsrecht: Künftig wird bei Fehl- und Totgeburten beiden Elternteilen ein dreitägiger bezahlter Sonderurlaub gewährt. Damit ist Neuseeland nach Indien das zweite Land weltweit, das arbeitsrechtlich Fehl- und Totgeburten als ebenbürtig mit verstorbenen nahen Angehörigen einstuft. Bis vor kurzem kämpften in Frankreich und Großbritannien fast gleichzeitig ein verwaister Vater und eine verwaiste Mutter für die Verlängerung des Sonderurlaubs beim Tod eines Kindes und erreichten Gesetzesänderungen im Arbeitsrecht, die in beiden Ländern im Frühjahr 2020 in Kraft traten. In Deutschland erhalten nahe Angehörige von Verstorbenen, wenn sie unter Arbeitsvertrag stehen, zwei Tage Sonderurlaub; Sonderregelungen über den Mutterschutz hinaus für Fehl- und Totgeburten sieht das Gesetz nicht vor, schon gar nicht für betroffene Väter.

Die aktuelle Gesetzeslage illustriert auf dramatische Weise die unverständliche Aussage einer Personalchefin, die den Urlaubsantrag eines Mitarbeiters genehmigen sollte, dessen erwartetes Kind tot auf die Welt kam: „Ich verstehe das nicht, nicht er, sondern seine Frau hat doch die Totgeburt erlitten!“ Und sie ist ein trauriges Indiz, welchen geringen Stellenwert Trauer in unserer Gesellschaft und erst recht in der Arbeitswelt hat. Dabei geht es nicht nur um zusätzliche Tage Sonderurlaub, sondern grundsätzlich um die Anerkennung, dass Trauer und Traumata am Arbeitsplatz gesellschaftliche, arbeitsrechtliche und auch gesundheitspolitische Themen sind.

Seit Beginn der Pandemie wurde viel geschrieben über das einsame und würdelose Sterben auf den Intensivstationen in Deutschland und weltweit. Wir sahen täglich Bilder von Schwerkranken oder Sterbenden und dem sie versorgenden Personal. Aber wenig wird berichtet von der schier unmöglichen Trauer der Hinterbliebenen nach dem anonymen Sterben ihrer Angehörigen und den erlittenen Traumata des pflegenden und medizinischen Personals. Spezialist:innen vermuten, dass der durch Corona bedingte fehlende Kontakt zwischen Sterbenden und Hinterbliebenen als traumatisch erlebt wird, dass Ohnmacht und Schuldgefühle der Überlebenden vermehrt zu „komplizierter“ oder pathologischer Trauer werden.

Fürsorgepflicht der Betriebe

Jährlich sterben in Deutschland etwa 140 000 Menschen, die unter Arbeitsvertrag stehen. Sie hinterlassen trauernde Angestellte und Kolleg:innen. Diese müssen nach kurzer Zeit wieder in den Arbeitsalltag zurückkehren. Darüber hinaus erleiden rund 100 000 junge Eltern jährlich Fehl-und Totgeburten. Diese Eltern stehen meist ebenfalls im Arbeitsleben. Beide Gruppen bekommen aber in der Regel keine professionelle Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Trauer am Arbeitsplatz, etwa in Form von „Resilienz-Coachings“ oder „achtsamer Kommunikation“.

Betriebe haben in jeder Hinsicht Fürsorgepflicht für ihre Angestellten, welche zu Recht mehr und mehr professionalisiert wird, etwa durch Fortbildungen in „betrieblicher Gesundheitsförderung“ oder „betrieblichem Gesundheitsmanagement“, „mindful leadership“, Seminare zu „Burn-out und Bore-out-Prävention“ et cetera. So sollen, auch im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel, Mitarbeitende an den Betrieb gebunden und Fehlzeiten reduziert werden. Es fehlen jedoch der fachgerechte und professionelle Umgang mit Trauer und Traumata am Arbeitsplatz und die notwendige Unterstützung für Betroffene, um präventiv Langzeitfolgen zu vermeiden.Dabei bewahrt achtsamer Umgang mit Trauer und Traumata nicht nur vor unverarbeiteter Trauer und infolgedessen Depression, sondern auch vor langfristigem Arbeitsausfall.

Wie kann so eine Unterstützung praktisch aussehen? Der Verein verwaister Eltern Deutschland (VEID e.V.) hat eine Broschüre herausgebracht, die jedem für das Thema sensibilisierten Personalverantwortlichen zugänglich ist: „Vom Umgang mit Trauer am Arbeitsplatz“. Hier findet man eine sehr präzise Definition, welche Elemente eine achtsame Rückkehr an den Arbeitsplatz ausmachen. Die Buchstaben B-E-I-L-E-I-D stehen für folgende Maßnahmen oder Haltungen, die Personalverantwortlichen ans Herz gelegt werden: B für „Beziehungen gestalten, Bedürfnisse erfragen“; E für „Empathische Kommunikation, Ernstnehmen aller Gefühle“; I für „Individualität: Jede:r trauert anders, jede:r ist anders, Informationen einholen“; L für „Logistik der Organisation und Struktur“; E für „Entspannung, Entlastung“; I für „Interesse bekunden, Integration des Geschehenen“; D für „Dauer beachten, Dranbleiben“.

Die Broschüre enthält außerdem eine Liste von zu vermeidenden, allzu „abgedroschenen Phrasen“ wie: „Zeit teilt, Zeit heilt“, „So ist das Leben nun mal“, „Schicksalsschläge härten auch ab“ und Ähnliches. Die Broschüre wurde übrigens mit Hilfe von Trauernden geschrieben, die befragt wurden, was ihnen bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz am meisten fehlte und was sie sich gewünscht hätten. Einer Umfrage zufolge, die Ende 2020 in diversen Trauergruppen in Berlin durchgeführt wurde, fielen die Antworten in Bezug auf gute Kommunikation zwischen Personalverantwortlichen und Trauernden oder Traumatisierten eher schlecht aus.

Kaum eine:r der Befragten wurde sachlich über die ihnen zustehenden zwei Tage gesetzlichen Sonderurlaubs informiert. Auch über gesetzlich geregelte flexible Arbeitszeitmodelle (Rückkehr an den Arbeitsplatz nach langer Krankheit, zum Beispiel das „Hamburger Modell“) wurde nicht informiert, die Betroffenen mussten sich mehrheitlich selbst schlaumachen. Und das Schlimmste: Statt achtsam zu kommunizieren, wurden Trauer und Traumata in den meisten Fällen totgeschwiegen.

Das größte Missverständnis im Umgang mit Trauernden ist, dass Nicht-Betroffene denken, dass sie nicht auf die verstorbene Person angesprochen werden möchten. Genau das Gegenteil ist der Fall! Trauernde wünschen sich nichts mehr, als dass die Verstorbenen erwähnt und erinnert werden, nach dem Motto: Say their names! Und deshalb ist es auch am Arbeitsplatz angebracht, die Verstorbenen zu erwähnen und dem Wunsch der Trauernden entsprechend am Tag der Rückkehr etwa einen Willkommens-Kaffee zu organisieren oder für verstorbene Kolleg:innen eine Gedenkstätte in der Firma einzurichten, gegebenenfalls mit Foto, Blumen und Kerze und Beileids- oder Gedenkbuch.

Auch mittel- und langfristig kann sehr viel getan werden, um Betroffenen die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu erleichtern: Verunsicherte Kolleg:innen ermutigen, Mitgefühl zeigen (wenn es mündlich für manche „schwierig“ ist, dann in schriftlicher Form); trauernden Mitarbeitenden einen geschützteren Arbeitsplatz anbieten, wenn sie zuvor im Publikumsverkehr gearbeitet haben; Todes- und Geburtstag der verstorbenen Angehörigen in der Personalakte der Betroffenen notieren und sich nicht wundern, wenn vor diesen Tagen Urlaub eingereicht wird, sondern den Trauernden für den frei genommenen Tag viel Kraft wünschen; auf außerbetriebliche Institutionen hinweisen, bestenfalls Listen anfertigen mit Informationen über Trauer- und Selbsthilfegruppen in der Nähe, Telefonseelsorge, Trauerhilfsdienste der kirchlichen Organisationen, über Reha-Einrichtungen informieren, die ein spezielles Programm für Trauernde und Traumatisierte haben et cetera. Wichtig für Personalverantwortliche ist auch zu wissen, weshalb Betroffene an den Arbeitsplatz zurückkehren wollen: Sie wünschen sich ein Stück Normalität zurück, da sie Halt und Struktur brauchen.

Hier gilt es noch einmal zu betonen, dass eine professionelle Trauerbegleitung am Arbeitsplatz nur mit Betroffenen möglich ist, die nicht an der sogenannten anhaltenden Trauerstörung leiden. Mit „Achtsamkeitstraining“, „Resilienz-Coaching“ und dem Verweis auf außerbetriebliche Institutionen können Personalverantwortliche schon einen sehr großen Anteil an Unterstützung geben.

All diese Maßnahmen und Methoden basieren vor allem auf positiver Kommunikation.

Die australische Flinders University untersuchte die Ergebnisse ihres Online-Kurses zum Thema „Reden über das Sterben“. Es zeigte sich, dass der Austausch, das Reden und die Kommunikation über den Tod und das Sterben den Absolvent:innen die Angst vor Tod und Sterben nahmen. Diese Gesprächsthemen sollten also unbedingt wieder stärker in unseren Alltag zurückkehren, auch in die Arbeitswelt.

Das „National Health System“, das in Großbritannien eine besonders dramatische Corona-Krise erlebte, erkannte die kritische psychische Lage des Personals auf Intensivstationen und rief die britische Armee zur Hilfe, um Methoden einzuführen, die bereits erfolgreich an traumatisierten Kriegsrückkehrer:innen angewendet wurden: Sie erkennen die Traumata des medizinischen Personals als „moral injury“ (moralische Verletzung) an und bieten psychologische und therapeutische Hilfe oder greifen auf Methoden der „Schwartz Center Rounds“ zurück (von Kennedy Schwartz in den 1990er-Jahren entwickelte Gesprächsmethoden), die vor allem auf emphatische Kommunikation zwischen pflegendem und medizinischem Personal mit ihren Patient:innen abzielen.

Hinterbliebene kehren in der Regel recht schnell an ihren Arbeitsplatz zurück und deshalb ist es wichtig, dass Führungskräfte in empathischer Kommunikation versiert sind. Hierfür gibt es in Deutschland bereits nachahmenswerte Vorreiter etwa bei der Polizei: Mitarbeitende lernen und üben, „Todesnachrichten verantwortungsvoll zu überbringen“, so der Titel der „Konstanzer Studie“ von 2019. Hier ist der achtsame Umgang mit akut Trauernden gefragt, und das will gelernt und geübt sein. Auch Medizinstudent:innen trainieren an manchen Universitäten simulierte Patient:innengespräche, um das Überbringen von schlimmen Diagnosen zu lernen. Manche Krankenhäuser bieten ihrem Personal Seelsorge oder „Trauersprechstunden“ an. An der Universität Regensburg wird seit kurzem ein Master in „Perimortalen Wissenschaften“ angeboten; der Begriff ist den pränatalen Wissenschaften entlehnt und richtete sich auf alle Studien über den Tod und das Sterben. Zudem soll beleuchtet werden, wie es um die psychische Gesundheit von Bestatter:innen bestellt ist.

Individuelle Trauer

Allen am Tod und Sterben Beteilig-ten, von den Hinterbliebenen, die an den Arbeitsplatz zurückkehren müssen, über das Krankenhauspersonal bis hin zu den Bestatter:innen, muss Unterstützung gegeben werden. Ein Krankenhaus oder ein Bestattungsinstitut ist ein Arbeitsplatz, an dem es bei dort Angestellten zu Trauer und Traumata kommen kann; in Extremfällen wie der Pandemie auch zu „posttraumatischen Folgestörungen“.

Ein indischer Bestatter drückte das vor kurzem in den internationalen Nachrichten so einfach wie drastisch aus: „Wir bestatten gerade nicht nur Menschen, sondern die ganze Menschlichkeit.“

Trauern ist menschlich und der achtsame Umgang mit Trauer und Traumata am Arbeitsplatz hat seine Daseinsberechtigung, auch wenn wir ihn erst lernen müssen. Trauern ist sehr individuell und selbst auf wissenschaftlichem Niveau wird immer noch gestritten, was Trauer eigentlich ist.

Die Weltgesundheitsorganisation hat „anhaltende Trauerstörung“ in die „Internationale Klassifikation von Krankheiten“ eingestuft. Die Wissenschaft sagt, dass diese infolge verdrängter, nicht verarbeiteter Trauer auftritt und zu Depressionen führen kann. Ein Grund mehr, mit Trauer und Traumata offener umzugehen, auch am Arbeitsplatz!

Der Deutsche Hospiz- und Palliativverband (DHPV) plädiert dahingegen dafür, Trauer als „Belastungsstörung nach Verlust“ einzustufen, denn, so seine Begründung, „bei Einführung dieser Diagnose (der WHO, Anm. der Autorin) besteht die Gefahr, die Trauer insgesamt wieder als ‚Störung‘ wahrzunehmen sowie den Trauerprozess zeitlich zu normieren.“ Nichts ist so individuell wie Trauer, darauf will der DHPV hier verweisen und genau das sagt auch die renommierte Trauerspezialistin Chris Paul, deren Maxime lautet: „Trauer ist die Lösung, nicht das Problem“. 

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