Europa zu Fuß durchqueren – das klang noch vor zwei Jahrzehnten wie eine verrückte Idee. Inzwischen sind Jahr für Jahr Hunderttausende auf den Pilgerwegen in Europa unterwegs, die den Segen der Langsamkeit und das Gehen für sich entdeckt haben. Der Pilgerpastor der Nordkirche, Bernd Lohse, erklärt, warum.
Verlier vor allem nicht die Lust am Gehen. Ich ging mich ins tägliche Wohlbefinden jeden Tag und ging fort von jeder Krankheit. Ich ging mich zu meinen besten Gedanken, und ich finde nicht einen Gedanken so schwer, dass man nicht von ihm weggehen könnte.“ (Søren Kierkegaard)
Søren Kierkegaard war ein Gehender und entwickelte seine Philosophie im Gehen. Er musste hinaus aus der engen Stadt, um denken und beten zu können. So erfuhr er, was Spaziergänger wie Pilgernde auch heute erleben: Landschaft, Bewegung und Begegnung verändern die inneren Landschaften, die Stimmung, das Selbstgefühl. Das Draußen korrespondiert mit dem Drinnen. „Beim Pilgern“, so die dänische Pilgerpastorin Elisabeth Lidell, „kommt der Glaube aus dem Kopf auf die Füße, ja in den ganzen Körper“. Glaube ist weit mehr als Denken, es ist Erleben, Erleiden, Spüren, Verstehen und Erfahren. Pilgern kann auch als „Beten mit den Füßen“ verstanden werden, es ist also „Gehen plus“. Es gibt einen geistlichen Mehrwert, der das Pilgern vom Wandern unterscheidet. Wer pilgert, setzt sich bewusst mit den Fragen nach Gott, der eigenen Identität, den Brüchen und Glücksmomenten auseinander und fragt: Welchen Sinn hat mein Leben, und gibt es da noch etwas, das ich bisher nicht als Sinn erfahren durfte? Pilgernde gehen sich also fremd, um sich ganz neu kennenzulernen. So formuliert es Detlef Lienau, evangelischer Pfarrer und Pilgerexperte.
Als innerer und äußerer Weg geht die Pilgerwanderung oft auf eine biografische und individuelle Entscheidung zurück. Zwar gibt es buchbare und geistlich begleitete Pilgerreisen, doch die überwiegende Zahl der Pilgernden geht auf eigene Faust. Sich individuell ins Fremde aufzumachen, ist immer Wesen des Pilgerns gewesen, neben allen Formen der liturgisch geprägten Wallfahrt.
Wege ins Unbekannte
„Pilger“ heißt Fremder/Fremde (Lateinisch: perigrinus) und jeder Weg ist eine Wanderung ins Unbekannte und Unverfügbare. Pilgernde setzen sich aus, dem Wetter, den Gastgeberinnen, den Menschen, die man trifft, den körperlichen Grenzen und den seelischen Qualen, Freuden und Umwegen, geschenkten Glücksmomenten und Momenten, die man sich echt schenken kann.
Pilgern ist gut biblisch. Die Heilige Schrift ist ein Buch voller Pilgererfahrungen und Geschichten von Menschen, die unterwegs sind und dort, unterwegs, Gott begegnen. Adam und Eva werden aus dem sicheren Paradies hinaus in die Unwägbarkeiten des Lebens geschickt. Gott ruft Abraham (Genesis 12) aus dem vertrauten „Vaterhaus“ und sendet ihn und Sarah „in ein Land, das ich dir zeigen werde“. Die Zukunft ist offen, das gelobte Land ein Versprechen. Gott ruft Mose mitten bei der Arbeit auf den Weg: Aus dem Dornbusch heraus hört Mose den Ruf nach Ägypten. Daraufhin beginnt eine Gruppen-Pilgerwanderung aus der Sklaverei in die Freiheit des verheißenen Landes. Und unterwegs müssen Mose und die Israeliten viele wichtige Momente durchleiden und erfahren: Da geschieht Wandlung, Transformation unter Gottes Augen. Pilgern also.
Das Gottesvolk wird, als es sich zu bequem und selbstherrlich eingerichtet hat, in die Fremde des Exils geschickt, und die Propheten rufen das erniedrigte Volk wieder hinaus aus der Fremde in eine Zukunft nach dem Weg. Ein Drittel der Psalmen kennt Pilgermotive, viele davon sind explizit Pilgerpsalmen und haben ihren Sitz im Leben in der Wallfahrtstradition Israels wie zum Beispiel in den Psalmen 84 und 122.
Schließlich erlebt der galiläische Jude Jesus bei einer Pilgerreise nach Jerusalem (Lukas 2, 41ff.) seine Berufung. Nach einem Leben als Bauhandwerker bricht er auf in ein unstetes Leben auf dem Weg und sammelt um sich Menschen, die ebenfalls mit Gottes Geist unterwegs sein wollen. Die „Jesus-Bewegung“ nach dem Neutestamentler Gerd Theissen ist der Anfang einer neuen, sehr mobilen Weltreligion, die sich in wenigen Jahrzehnten nach Jesu Tod und Christi Auferstehung zwischen Galizien und Indien, Rom und Äthiopien verbreitet hat. Selbst die Auferstehung ist eine Weg-Erfahrung, wie die Emmaus-Jünger (Lukas 24) es zeigen.
Grenzsituationen
Altes und Neues Testament stecken voller Erfahrungen von Menschen auf Wegen, die dort ihre Gottesbegegnungen hatten. Sie wurden bewegt, Neuland zu betreten, aufzustehen aus Depression und Verzweiflung und gelockt in eine andere Wirklichkeit als die Vertraute. Es scheint Gottes Prinzip zu sein, Menschen in Religionen, die starr geworden sind, zu bewegen, damit wieder Leben und Resonanz ins Glaubensleben kommen. Aufbruch ist der erste Schritt der Pilgernden.
Pilgernde machen Erfahrungen. Doch Erfahrungen spielen in der überaus verkopften protestantischen Theologie eine eher mindere, untergeordnete Rolle. Sie zählen zum Bereich des Subjektiven, der kaum systematisch erfassbar ist. Die Erfahrungen, die Menschen beim Pilgern machen, können von lebensverändernder Bedeutung sein. Sie reichen bis in den Bereich von Offenbarungen, tiefen Erkenntnissen und spirituellen Erlebnissen. Manchmal berichten Pilgernde von Wundern. Sie machen transformatorische Erfahrungen und kehren als andere heim als die, die aufgebrochen sind. Oft wird ein Mensch durch die Erfahrungen unterwegs erst zum Pilger, zur Pilgerin. Entdeckung einer religiösen Identität oder Klärung biografischer Fragen, auch Glaubensfragen, denen sie sich bisher nicht gestellt hatten, sind bei Pilgernden verbreitet anzutreffen. Davon zeugt eine inzwischen unübersehbare Literatur von Pilgerbiografien.
Pilgernde erleben Grenzsituationen: Sie kommen an körperliche und seelische Grenzen, haben sich überfordert, werden durch Blasen ausgebremst, hatten zu wenig Wasser im Rucksack oder werden vom Gewitter überrascht. In der langen Stille unterwegs beginnen die ungeklärten Themen zu ihnen zu sprechen, Trauer meldet sich oder ein ungelöster Konflikt. „Irgendwann hat dich der Weg so weit, und du kannst nur noch heulen“, zitiert der deutsche Komiker Hape Kerkeling eine Pilgerin auf seiner Pilgerreise über den Jakobsweg 2001.
Pilgernde erfahren echte Weggemeinschaft und Tischgemeinschaft: Unterwegs spricht man mit wildfremden Menschen über vertraulichste Themen, erlebt, wie kostbar die Gemeinschaft am Tisch in der Herberge ist, wenn alle ihre „Schätze“ teilen und plötzlich irgendjemand einen Kanten Brot bricht und jemand anders eine Flasche Wein in die Runde gibt. Diese Erfahrungen sitzen tief, insbesondere in einer stark individualisierten Gesellschaft, in der Essen oft zur reinen Nahrungsaufnahme oder zum Luxuskult verkommt.
Außerdem erfahren Pilgernde, welche Wirkung Landschaft, Wetter und das In-der-Natur-Sein auf sie ausüben. Sich selbst als Teil der Schöpfung zu begreifen, ist selbst für Nichtglaubende eine beglückende Erfahrung. Die Herausforderung durch die Natur ebenso wie die Überwältigung durch Schönheit, Lichtschauspiel und das Begreifen, „wie klein der Mensch ist“, erzeugen eine nachhaltige Wirkung.
Es gibt auch Scheitern auf dem Weg: Pilgernde müssen abbrechen, umkehren. Auch Trauer und Schmerzen gehören zum Pilgern wie die Blasen an den Füßen. Und doch können Pilgernde noch im Scheitern erfahren, dass sie getragen werden: Da ist zum Beispiel die Solidarität der Weg-Gemeinschaft. Jemand sucht den nächsten Bus raus, trägt dem anderen den Rucksack ein paar Kilometer oder hört einfach stundenlang zu.
Menschen bekommen beim Pilgern ein Maß für ihr Sein, erleben sich zwischen Staunen und Scheitern und erfahren diese Zeit trotz allem als überaus sinnvoll. Deshalb bleiben viele Erstpilgernde beim Gehen. Sie erzählen: „Auch wenn es sauschwer war, es war echt und es war gut. Und ich hätte nicht gedacht, dass Gott auch da war.“
Dass es gut war, hängt mit dem Erlebnis der Selbstwirksamkeit und eigenen Veränderung zusammen. Menschen staunen, was sie doch konnten, obwohl der Respekt vor dem Weg so mächtig war. Sie haben sich völlig neu erlebt und in einfachsten Unterkünften waren sie „zuhause“. Sie haben erfahren, dass nicht Luxus das Leben reich macht, sondern dass Glück manchmal im Einfachen schlummert. Solche Erfahrungen hinterlassen Spuren und verwandeln Menschen.
Tatjana Schnell, Psychologie-Professorin in Innsbruck, hat sogar festgestellt, dass Pilgern nachhaltigere positive Veränderungen in Menschen ermöglicht als Psychotherapien. Pilgernde erleben sich als selbstwirksam und behütet, als Teil einer Gemeinschaft des Wegs und können alte Bilder vom Leben ablegen. Wie wenig ein Mensch braucht zu einem guten Leben und welche Elemente wesentlich sind, verändert den Blick aufs Leben: Begegnungen, Bewegung, Ausgespanntsein zwischen Himmel und Erde, Echtheit und Gastfreundschaft. Diese Elemente sind für ein Menschenleben heute wie zu biblischen Zeiten wesentlich.
Mehr noch: Unterwegs können sich seelische Krisen lösen, weil Pilgernde sich öffnen gegenüber den fremden Anderen. Es stellt jemand die Frage, die man sich selbst nicht stellen kann, oder hat eine Antwort im Gepäck, die man sich selbst nicht geben kann. Manchmal fliegt Pilgernden von irgendwo ein Wort zu, das sich als transformativ herausstellt: ein Bibelwort in einer Pilger-andacht aufgeschnappt, ein Schriftzug auf einer Hauswand, wie zum Beispiel bei Hape Kerkeling, ein Lied, das jemand gesungen hat, oder ein Gebet auf einem zerknitterten Zettel.
Pilgernde kehren anders zurück, als sie aufgebrochen sind. Sie erfahren auf dem Weg etwas, das ihr Leben verändert. Sie erleben gravierende Transformationsprozesse: Menschen finden einen Weg für die Zukunft, erfahren sich neu und die Gewichtungen und Werte im Leben verändern sich in Richtung auf Echtheit, Entschleunigung und fort vom Besitzen, hin zum Sein. Viele Pilgernde machen religiöse Erfahrungen und brauchen Menschen, mit denen sie dieses intime Thema teilen können.
Eindrucksvoll und sehr klar ist die Pilger-Typologie, die Christian Kurrat entwickelt hat. Der Sozialwissenschaftler hat sieben biografische Motive für das Pilgern beschrieben, gestützt auf empirische Forschung. Als die sieben biografischen Pilgertypen nennt er: Bilanzierung, Krise, Auszeit, Übergang, Neustart, Stellvertretung und Berufung. So weist er nach, dass neben den traditionell religiösen Motiven die Gründe fürs Pilgern in lebensgeschichtlichen Momenten zu finden sind, häufig an Übergängen. Darin spiegelt sich sehr deutlich die Individualisierung der Gesellschaft. Zugang zur Religion muss oft erst durch das Nadelöhr der individuellen Erfahrung gehen. Ob sich Spiritualität oder Religion als relevant erweisen, hängt mit biografischen Erfahrungen zusammen. Sie können sehr stark sein und Menschen als Suchende auch in Kontakt mit den Kirchen bringen. Ob die Kirche ein relevanter Ort werden kann, hängt wiederum an der Offenheit der Personen, die die Gemeinde repräsentieren, und an der Fähigkeit, die individuellen Erfahrungen von Menschen zu achten.
Auch die Erfahrung des Hamburger Pilgerzentrums zeigt, dass viele junge Menschen pilgern, um nach Abitur oder Ausbildung einen Orientierungsraum zu betreten: Wo will ich hin in meinem Leben? Insbesondere männliche Pilger fragen sich beim Eintritt in den Ruhestand: Wer bin ich noch ohne meine berufliche Rolle? Wo will ich jetzt mit meinem Leben hin? Für viele Frauen ist das Pilgern eine Möglichkeit, sich nach der Zeit der Kindererziehung neu zu orientieren.
Achtsame Bewegung
Viele Menschen werden Pilgerin und Pilger in oder nach einer schweren Erkrankung, einer starken Erschütterung. Freerk Baumann, Sportwissenschaftler der Universität Köln, und sein Team haben nachgewiesen, welchen positiven Einfluss das Pilgern für Menschen nach Krebserkrankungen hat. Sie haben in ihrer Forschung allerdings stark die physiologischen Faktoren in den Blick genommen. Nähme man die psychologischen Faktoren in den Blick, würde die positive, heilsame Wirkung noch viel deutlicher erscheinen.
Pilgern tut, wie alle Formen achtsamer Bewegung, den Menschen gut, und das darf als das Hauptmotiv gesehen werden. Pilgernde erleben sich beschenkt und begnadet. Es ist auch diese Erfahrung, die Pilgernde prägt: Wir haben es nicht in den Händen und können das Wesentliche nicht planen. Pilgern lässt uns die Unverfügbarkeit des Lebens ahnen.
Europa zu Fuß durchqueren – das klang noch vor einem Jahrzehnt eher wie eine verrückte Idee. Inzwischen sind Jahr für Jahr Hunderttausende auf den Pilgerwegen in Europa unterwegs, die den Segen der Langsamkeit und das Gehen für sich entdeckt haben. Sie erfahren, wie wenig man wirklich braucht, um glücklich und im Frieden zu sein: die Ladung eines Rucksacks, die Begegnung mit anderen Menschen, der Natur und dem Unplanbaren reichen aus.
Pilgernde kommen in Kontakt mit der Schöpfung und lernen, sie als Gleichnis für die geistliche Tiefendimension des Lebens zu verstehen. Natur und Landschaft sind „gottoffen“, und der Begriff der Schöpfung wird verstanden, weil sich Pilgernde oft selbst als Geschöpfe wahrnehmen, Lebewesen im Kontakt mit allem, was lebt. So erwächst auf dem Pilgerweg eine praktische Erfahrungstheologie, die „friluftsliv“-haltig ist („Friluftsliv” bedeutet auf Norwegisch „Freiluftleben”), das heißt, dem Konzept des Lebens in der freien Natur folgt und starke Elemente einer Ökophilosophie in sich trägt. Hier kann es sehr hilfreich sein, sich mit der skandinavischen Ökophilosophie etwa des norwegischen Philosophen Arne Naess vertraut zu machen.
Unterwegs entstehen vielfältige Resonanzen mit den anderen Pilgerinnen und Pilgern, mit der Natur und der Schöpfung, den eigenen Themen im unsichtbaren Rucksack, mit Körper, Geist und Seele. In diesem Resonanzraum ist die Religion stets präsent, wenn auch dezent, und viele Pilgernde kehren zurück mit dem Bedürfnis, sich spirituell eine Heimat zu suchen, so wie sie es fragmentarisch unterwegs erlebt haben, am liebsten als Gastgeber in einer Herberge.
Pilgernde Vorausgänger
Wer ist da, wenn die Pilgernden zurückkehren? Haben evangelische Kirchengemeinden die nötigen offenen Türen und Herzen, die Theologie das sensible Gespür für die Themen und das kirchliche Personal die notwendige Liebe zum Menschen in seinem So-Sein? Pilgernde sind Vorausgänger einer ganz anderen Form von lebensnaher Spiritualität, aber sie wollen nicht vereinnahmt werden von einer unbeweglichen Kirchlichkeit.
Deswegen bleibt die Frage: Wie kann Kirche selbst so beweglich und gastfreundlich sein, dass sie Menschen in ihren vielfältigen Bewegungen und den „unruhigen Herzen“, wie es der heilige Augustin sagt, nahe sein kann? Das unruhige Herz ist die Wurzel der Pilgerschaft. Im Menschen lebt die Sehnsucht, die ihn hinaustreibt aus dem Einerlei des Alltags und aus der Enge seiner gewohnten Umgebung. Immer lockt ihn das andere, das Fremde … Im Grunde sucht er ruhelos den ganz Anderen und alle Wege, zu denen der Mensch aufbricht, zeigen ihm an, dass sein ganzes Leben ein Weg ist, ein Pilgerweg zu Gott (Augustin).
Bernd Lohse
Bernd Lohse ist Pilgerpastor der Nordkirche in St. Jacobi in Hamburg.