Anwältin der Grauzonen

Die Theologin Dorothee Arnold-Krüger über Seelsorge und assistierten Suizid
Symbolfoto Sterbebegleitung
Foto: dpa/ Werner Krueper

Um mehr über Erfahrungen in der seelsorglichen Begleitung eines assistierten Suizids zu erfahren, hat Dorothee Arnold-Krüger, theologische Referentin im Zentrum für Gesundheitsethik an der evangelischen Akademie Loccum, zusammen mit ihrer Kollegin Julia Inthorn eine Studie unter Pastorinnen und Pastoren der hannoverschen Landeskirche durchgeführt.

zeitzeichen: Frau Dr. Arnold-Krüger, Anlass Ihrer Befragung war das Bundesverfassungsgerichtsurteil von Februar 2020, das eine Neuregelung des Paragraphen 217 StGB vorsieht. Welche Erfahrungen in der Begleitung von assistiertem Suizid können Sie bei Pastorinnen und Pastoren ausmachen?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Zunächst hatten zum Zeitpunkt der Befragung im vergangenen Jahr fünf Prozent der Befragten überhaupt Anfragen zur Begleitung erhalten. Diese kamen größtenteils von Personen, die einen assistierten Suizid für sich erwägen. 42 Prozent der Befragten, die eine Anfrage erhielten, haben die Begleitung abgelehnt, 16 Prozent haben sie übernommen und weitere 42 Prozent haben gesagt, sie seien teils, teils damit umgegangen. Das heißt, teils angenommen, teils abgelehnt.

Was umfasst denn die Begleitung eines assistierten Suizids?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Das war in unserer Studie die Frage nach dem, was gewünscht wurde und was dann tatsächlich stattgefunden hat. Sie lässt sich unterteilen in die Bereiche Beratung, Begleitung und den des Rituals. Zum ersteren gehören zum Beispiel die Begleitung einer Entscheidungsfindung, eine ethische oder auch eine theologische Beratung, die Unterstützung bei der Organisation, die Kommunikation mit Angehörigen und die Begleitung der An- und Zugehörigen. Wir haben auch angefragt, ob eine Begleitung ins Ausland gewünscht wurde oder eine Begleitung in der konkreten Sterbesituation. Relativ deutlich wurde die Begleitung der Entscheidungsfindung gewünscht. Die Unterstützung bei der Organisation sowie die Kommunikation und Begleitung der An- und Zugehörigen waren auch entscheidende Punkte. Die Begleitung in der konkreten Sterbesituation wurde verhältnismäßig wenig nachgefragt, auch keine Begleitung ins Ausland.

Und was hat konkret stattgefunden?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Wenn man sich das anschaut, dreht sich das Bild ein bisschen. Vor allem stattgefunden haben die Begleitung und die Kommunikation mit den An- und Zugehörigen. Das stand stärker im Fokus als die Beratungen, die immer noch recht ausführlich ausfielen, oder auch als die Begleitung der Entscheidungsfindung. Und es gab keine Unterstützung bei der Organisation.

Wie fiel der Blick auf Rituale aus?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: In unserem Fragebogen zählten zum Ritual Bestattung, Aussegnung, Abendmahl und Beichte. Tatsächlich gewünscht waren im Vorfeld vor allem Aussegnung, Bestattungen und auch das Abendmahl. Diese haben auch stattgefunden. Eine Beichte in keinem Fall.

Und was sind die Kriterien für die Übernahme einer Begleitung?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Ganz überwiegend der persönliche Kontakt mit 57 Prozent, aber auch die Schwere der Erkrankung und die familiäre Situation. Die Art der Durchführung war ebenso ein entscheidender Punkt. Und die Frage, ob ein Sterbehilfeverein involviert ist, und wo der assistierte Suizid durchgeführt würde. Die Länge der Bekanntschaft war weniger entscheidend.

Welche Fragen stellen sich daraus perspektivisch?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Gewünscht wird von zwei Dritteln der Befragten ein individueller Umgang mit solchen Anfragen. Und siebzig Prozent sagen, dass sie sich dezidiert einen Dialog innerhalb der Kirche und der Theologie wünschen, der zu einem individuellen Umgang befähigt. 65 Prozent der Befragten sagen, dass sie sich einen stärkeren Einsatz in Kirche und Diakonie für die Palliativversorgung wünschen. Gefordert wird also der Einsatz von Kirche und Diakonie für den Lebensschutz. Und gleichzeitig der Einsatz für die Selbstbestimmung. Da wird die Ambivalenz sehr deutlich. Und 57 Prozent fordern klare rechtliche Beschränkungen. Aber nur 27 Prozent wünschten sich eindeutige Vorgaben, wie mit Anfragen bei einem assistierten Suizid umzugehen sei. Es ist gewünscht, Fort- und Weiterbildung zu haben.

Heißt das, dass die Kirche der seelsorgerlichen Freiheit mehr Raum geben soll?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Ja. Unbedingt. Das kann man aufgrund der Studie so festhalten. Wenn man sich die gesamte Untersuchung anschaut, wird deutlich, dass die kirchlichen Positionierungen ausgesprochen kritisch gesehen werden. Und zwar die Positionierung sowohl gegen als auch für einen assistierten Suizid. Es wird deutlich, dass sie nicht der Orientierung der eigenen ethischen Positionierung dienen. Nur rund ein Viertel der Befragten hat die kirchlichen Reaktionen begrüßt.

Wie beurteilen die Seelsorger generell das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Dreißig Prozent der Befragten haben das Urteil begrüßt. Eine Person schrieb aber: „Einen assistierten Suizid in begründeten Fällen rechtlich möglich zu machen, habe ich begrüßt. Dass Vereine sich der Durchführung annehmen, ist mir unheimlich.“ Und zu den kirchlichen Reaktionen schrieb jemand: „Positionierungen kirchlicher Vertreter unter medialem Druck sind verständlich, aber greifen zu kurz, wenn der öffentliche Diskurs nicht ausreichend geführt wird.“ Und eine andere Person formulierte: „Keine Positionierung, sondern Argumentationshilfen liefern, Menschen können dann selber denken.“

Kirchliche Positionierungen in der Öffentlichkeit haben andere Adressaten als die Seelsorgerin und der Seelsorger.

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Ganz genau. Wichtig ist zu betonen, dass wir diese Befragung im Jahr 2020 durchgeführt haben, also zu einem Zeitpunkt, als eine Vielzahl der Diskurse der vergangenen Monate noch nicht stattgefunden haben. Und es lagen auch noch keine Gesetzentwürfe für eine Neuregelung vor. Der Abschluss der Studie lag wenige Tage vor Erscheinen des FAZ-Artikels von Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie. Das nur als Hintergrund.

Wie wird denn die Schwierigkeit der Situation an sich bewertet?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Grundsätzlich gibt es eine Ambivalenz, jemanden zu begleiten, wenn man selbst einen assistierten Suizid ablehnt. Es ist dann immer eine Dilemmasituation zwischen dem eigenen professionellen Selbstverständnis und der eigenen Haltung. Ein ganz großer Teil der Befragten hat angegeben, dass für sie die Solidarität mit den betroffenen Personen und den An- und Zugehörigen entscheidender sei als die eigene moralische Haltung. Aber das bringt natürlich eine Spannung in die Situation hinein. Und zweitens muss man sich vor Augen halten, dass Seelsorge die Haltung des Nondirektiven, also des Nichtbewertenden, innehat. Diese Haltung kann man in der konkreten Situation wahrscheinlich oft nur schwer durchhalten, weil die eigene moralische Haltung so stark betroffen ist. In diesem Fall gerät Seelsorge in Konflikt mit ihrer eigenen Grundhaltung. Das heißt also, Seelsorge ist manchmal auch Anwältin der Grauzonen, wenn man darunter versteht: Seelsorge ist ambivalenzsensibel. Man muss klar festhalten, dass, wenn Seelsorgerinnen sich dafür entschieden haben, einen assistierten Suizid zu begleiten, es noch lange nicht heißt, dass sie einen assistierten Suizid auch bejahen.

Gibt es weitere Eckpunkte in der Seelsorge?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Unsere Studie hat hier verschiedene Eckpunkte aufzeigen können. Der eine ist die Selbstbestimmung der Betroffenen, die einen assistierten Suizid für sich erwägen, aber auch die der Seelsorgerinnen und Seelsorger. Ein anderer Eckpunkt wäre die Solidarität mit den Betroffenen. Des Weiteren der des Aushaltens einer Leidenssituation. Menschen darin zu bestärken, diese Situation auszuhalten. Und als vierter Punkt tatsächlich die ethischen Bedenken gegenüber einem assistierten Suizid. Das ist schon ein erhebliches Spannungsfeld, in dem sich Seelsorge bewegt. Und gleichzeitig sind Seelsorgerinnen und Seelsorger immer auch mit verschiedenen Aufträgen unterwegs, mit einem kirchlichen und mit dem, den die Betroffenen an sie stellen. Hier kommt dazu, dass Seelsorge ja prinzipiell eine Lebensbejahung und Lebensstützung mit sich bringt. Hier sind die Seelsorgerinnen und Seelsorger in einer Situation gefragt, Menschen zu begleiten, die ihr Leben gezielt beenden wollen. Und das auch noch solidarisch, nicht-wertend zu begleiten und möglicherweise auch theologisch zu rechtfertigen. Das ist eine große Herausforderung.

Was wünschen sich die Pastorinnen und Pastoren von ihrer Kirche in dieser Situation?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Gefordert wird die Möglichkeit zur eigenen ethischen Urteilsbildung in Fort- und Weiterbildungen. Das betrifft sicherlich auch den Bereich der rechtlichen und medizinischen Grundlagen. Gefordert wird auch eine Schärfung der Rolle der Seelsorge.

Was ist Ihr Fazit?

DOROTHEE ARNOLD-KRÜGER: Die vermutete Ambivalenz hat sich bestätigt. Wir schließen noch eine qualitative Studie an. Interessant werden dabei die Orte werden, an denen sich diese Fragen stellen. Altenpflegeeinrichtungen und die Ortsgemeinde zum Beispiel, die mit diesen Fragen konfrontiert werden. Seelsorgerinnen und Seelsorger in einer Einrichtung arbeiten möglicherweise in einem multiprofessionellen Team und agieren anders, als wenn sie in einem Gemeindepfarramt eingebunden wären.

 

Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 24. Juni per Videokonferenz.
 

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Foto: Jens Schulze

Dorothee Arnold-Krüger

Dr. Dorothee Arnold-Krüger ist Theologische Referentin am Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG) an der Evangelischen Akademie Loccum in Hannover.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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