Zensiert

Marcel Proust: eine Amor fou

Eine der vielen Neuerscheinungen anlässlich des 150. Geburtstags von Marcel Proust (1871 – 1922) im Juli behandelt die Liebe und Freundschaft zwischen ihm und dem Musiker Reynaldo Hahn. Anhand von Briefen und Skizzen hat die Autorin Lorenza Foschini rekonstruiert, wie sich eine Jugendliebe in eine lebenslange Freundschaft verwandeln konnte und Hahn in den Mittelpunkt der Suche nach der verlorenen Zeit rückte, ohne jemals genannt zu werden. Als sie sich in den Salons der mondänen Pariser Gesellschaft kennenlernen, ist Proust noch ein unbekannter, aufkeimender Schriftsteller, Reynaldo Hahn bereits ein gefeierter junger Komponist und Musiker, ein Wunderkind aus Caracas. Berühmt, schön und exotisch, dazu von jüdischer Herkunft, scheint er wie vorgesehen für Proust.

Für die jungen Männer von Welt war es Liebe auf den ersten Blick, eine Amour fou. Zwar stand die Homosexualität seit Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich nicht mehr unter Strafe, doch war sie gesellschaftlich nicht akzeptiert, auch wenn der Freundeskreis der beiden schönen und begabten jungen Männer Diskretion übt. So schwanken die Verliebten in dem Wissen, dass in England gerade Oscar Wilde für dieses „Vergehen“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, zwischen Schuld und Euphorie. In ihren Briefen reden sie sich oft in einer Geheimsprache an, die sich bis heute nicht endgültig dechiffrieren lässt, und stehlen diskrete Stunden auf Reisen in die Bretagne und Normandie. In einer Notiz zu den Guermtanes notiert Proust: „Unbedingt aufnehmen: Reynaldo, der vor dem Himmel einer Meereslandschaft Hérodiade singt. Nie könnte ich das vergessen.“

Aber Proust, der Tyrann in Liebesdingen, hat das absurde Verlangen, den geliebten Menschen voll und ganz zu besitzen, was krankhafte Folgen nach sich zieht. Verdächtigungen, peinliche Befragungen, Nachforschungen läuten nach zwei Jahren das Ende der Beziehung ein, Reynaldo ist erschöpft. Und Proust, der Eifersüchtige, beginnt eine Affäre mit einem jungen Mann – eine von vielen in Folge. „Unsere Freundschaft hat nicht mehr das Recht, hier etwas zu sagen, dafür ist sie jetzt nicht mehr stark genug“, schreibt Proust am Ende dramatisch.

Man begegnet sich weiter bei gemeinsamen Bekannten und acht Jahre später flammt die Liebe wieder auf. Doch der Krieg und die neue Gesellschaftsordnung schaffen Probleme, die Verhältnisse haben sich umgekehrt, nun ist Proust der gefeierte Romancier, ausgestattet mit dem Prix Goncourt, während der Stern des Musikers gesunken ist. Proust lebt krank und isoliert in seinen eigenen vier Wänden, der andere neigt zu Depressionen, es gibt kaum noch Begegnungen in der Öffentlichkeit. Nun, das zeigen Briefe, gelingt es ihnen, in eine dauerhafte Freundschaft zu wechseln. Am Ende erfährt Reynaldo Hahn als erster vom Tod seines Gefährten und eilt zu ihm, um die folgende Nacht Wache an Marcels Totenbett zu halten.

Und der Wind weht durch unsere Seelen – das hatte Hahn beim Kennenlernen an den Rand einer Partitur geschrieben, ganz im schwärmerischen Stil jener Zeit. Nicht viel ihrer Korrespondenz blieb erhalten, denn nach Marcels Tod verbrannte die Witwe seines Bruders einen großen Teil seiner Papiere, Fotografien und Briefe, um die „Schande“ der Familie auszulöschen, Prousts Homosexualität. Das gleiche Schicksal, aus gleichem Grund, ereilte einen großen Teil der Briefe von Reynaldo Hahn. Noch nach dem Ableben der beiden Protagonisten wurde ihre Liebe zensiert, verdrängt und ausgelöscht. Anhand der noch vorhandenen Schriften bildet diese Biografie einer Beziehung kein kitschiges Abbild intimer Briefe ab, sondern ist leicht und romanhaft erzählt. Plaudernd führt Lorenza Foschini durch 237 Seiten, die auch ein Weg durch die Suche nach der verlorenen Zeit sind.

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