Durchzug statt Rückzug

Das „wahre Leben“ ist digital und analog zugleich
Foto: privat

„Abschalten! Kommt nix mehr. Tschüss!“ – So beliebte Peter Lustig seine Sendung „Löwenzahn“ im ZDF zu beenden und Generationen von Fernsehkindern ins Stammbuch zu schreiben, dass das „wahre Leben“ jenseits der Glotze stattfindet. Natürlich erst, nachdem sie seine Sendung doch eingeschaltet hatten. Im Zeitalter der Digitalität hat die freundliche Erinnerung „Abschalten, nich?“ keineswegs an Bedeutung verloren:

YouTube und andere Streaming-Dienste erinnern mich, weil ich es ihnen zuvor erlaubt habe, dass meine voreingestellte Sendezeit überschritten wird. 0:00 Uhr. Zeit, abzuschalten. Netflix beginnt die nächste Folge der eingeschalteten Serie zwar unmittelbar nach der gerade eben durchgebingten, aber fragt nach drei interaktionslosen Sendungen ebenfalls: „Schauen Sie noch?“

Ja, ich schaue noch! Es gibt auch immer was zu sehen in den Twitter-Timelines, den Insta-Stories, den Facebook-Gruppen und Streaming-Diensten. „Kommt nix mehr“, hat ja noch nie gestimmt. Gut, nach „Löwenzahn“ und „Maus“ begann damals irgendwann das Erwachsenen-Programm mit dem Ernst des Lebens und dem Presseclub, oder so. Heute endet das Wunsch-Programm nie.

Ein heilsamer Rhythmus für das Leben in der Digitalität?

In seiner Rede zu den Herausforderungen der Digitalisierung auf dem jährlichen Johannisempfang der EKD in dieser Woche nahm der Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Bezug auf das vierte Kapitel der EKD-Digitaldenkschrift vom Frühjahr, das sich unter der Überschrift „Dem (digitalen) Leben einen heilsamen Rhythmus geben“ dem Sabbatgebot widmet.

„Wir brauchen den heilsamen Rhythmus von Arbeit und Ruhe“, meint Bedford-Strohm, „wie aktuell das in Zeiten des Homeoffice und der für viele Menschen immer mehr zunehmenden Mail- und Zoomkorrespondenz ist, liegt auf der Hand. Zwar hilft die Flexibilität im digitalen Arbeiten, Familienleben und Freizeitverhalten besser in Einklang zu bringen. Der Preis aber ist die allzeitliche und allörtliche Erreichbarkeit.“ Es brauche darum, so Bedford-Strohm weiter, klare Offline-Regelungen, die genügend Zeit für Ruhe geben.

Nun ist das betreffende Kapitel sicher das gelungenste der ansonsten sehr gesprächigen Denkschrift, aber trotz allem Bemühen, Leben in der Digitalität zu begreifen, scheint in der herkömmlichen evangelischen Auslegung desselben nach wie vor ein vornehmlich funktionales Verhältnis zu digitalen Lebenswelten hindurch: Als ob Online-Sein vor allem Arbeit bedeutete. Als ob man sich digitale Teilhabe doch irgendwie aussuchen könnte, Einstiege und Ausstiege bewusster Planung unterlägen. Als ob sie immer als lustig oder lustvoll erlebt würde, und wenn nicht, halt abgeschaltet werden kann. Als ob sie stets und ständig dem Anspruch sinnvoller Gestaltung unterläge und nicht mindestens genauso frustrierend, nervig, triebhaft und überflüssig wäre wie das restliche Dasein.

Also klar, natürlich kann man sich als Einzelne:r oder als Familie vornehmen, einen digitalen Shabbat einzulegen und tatsächlich abschalten – jedenfalls solange der Kühlschrank noch ohne Internetconnection seinen Dienst versieht. Im Zweifelsfall bekommt man dann nur im analogen Fernsehen Internet-Content vorgelesen. Und richtig bleibt ganz sicher, dass der Übergriffigkeit von Arbeitgebern und der Lohnarbeit ganz generell auf die Sonntagsruhe gewehrt werden muss. Vor ein paar Jahren noch gab es Kirchen-Websites, die am Sonntag „geschlossen“ hatten und Besucher:innen nicht unpädagogisch auf die herrschende Sonntagsruhe hinwiesen, die man sich doch zu gönnen habe.

Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Denkschrift und Kirche rechnen damit, dass Mensch auch am Sonntag einkaufen will, arbeiten muss oder möchte, Dinge zu tun sind. Und tatsächlich steht der Sonntag ja nicht allein als Ruhetag, sondern eben als Tag der „seelischen Erhebung“ unter grundgesetzlichem Schutz. Kann denn nicht auch eine Amazon-Shoppingrunde erhebend sein?

„Gott ist einer, er ist mein Befreier“

Wie das mit der Erhebung der Seelen am besten funktioniert, das zu beurteilen, nimmt sich die Evangelische Kirche nicht mehr heraus. Die Freiheit digital ist da sehr freizügig. Ich habe mal nachgelesen in einem Buch, das hübsch evangelisch „Denk mal nach … mit Luther: Der Kleine Katechismus – heute gesagt“ heißt. Das Buch ist 1989 im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirchen der Union (Bereich Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West) im Gütersloher Verlagshaus erschienen. Die Erklärung zum – hier - 3.  Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“ lautet:

Was heißt das?

Gott ist einer,

er ist mein Befreier.

Er schenkt mir Ruhe für Leib und Seele

und gibt mir sein Wort.

Das soll ich gern hören

und mich am Geschenk des Lebens

freuen.“

Im Kleinen Katechismus für die Peter-Lustig-Generation wird jede Gebotserklärung mit „Gott ist einer, er ist mein Befreier“ eingeleitet. Ich finde das catchy und es dürfte ungefähr der Linie entsprechen, die Gebote als hilfreiche Begleiter für ein in Freiheit zu gestaltendes Leben aufzufassen, die auch heute noch in der Evangelischen Kirche vorherrschend ist. Augenscheinlich jedenfalls.

Denn die Freiheit ist im 1989er-Katechismus eben nicht per se gesetzt, sondern wird geschenkt, geliehen, beschafft – „er ist mein Befreier“. Ruhe für Leib und Seele in der Digitalität gibt es nicht umsonst, sondern nur zum Preise des Nicht-Gesehenwerden, des Nicht-Hörens und Nicht-Sprechens oder zumindest einer Prise FOMO, also der Angst, etwas zu verpassen.. Wohl dem, der das zumindest teilweise aushalten kann.

Freiheit in, nicht jenseits der Digitalität

Langfristig aber stellt sich die Frage, wie wir Ruhe für Leib und Seele in der Digitalität finden können, nicht durch einen künstlichen, auch nur zeitlichen Verzicht auf digitale Teilhabe. Rückzug ist keine Option, Durchzug ist angesagt. In der Digitalität leben heißt ja mitnichten, nur vor dem Bildschirm zu gammeln, sondern dass digitale Kommunikation integraler Bestandteil des Lebens ist. Es sind eben nicht allein Stecken und Stab des Höchsten, die trösten, sondern auch das Smartphone in der Hand und die Fotos von den Enkeln in der Messenger-Gruppe (Apropos: Bitte wechseln Sie alle zu Signal!)

Dem Volk auf der Wüstenwanderung helfen die gebotenen Ruhetage, doch braucht es auf dem digitalen Camino mehr als Verschnaufpausen. Es braucht designierte Ruheorte in der Digitalität. Oasen, an denen Leib und Seele ruhen können. Und es braucht Speisung unterwegs. Digitales Manna. Worte, die ich gerne höre.

Übrigens, liebe christliche Content-Creator:innen, regnet es biblisch nicht immerzu Manna vom Himmel, sondern sowohl zeitlich als auch mengenmäßig klar definiert. Gerade so viel, wie man braucht, nicht mehr. Der Allmächtige beschränkt sich darauf, was sein geheiligtes Volk braucht. Überfluss ist überflüssig.

Leben in der Digitalität

Es braucht also beides: Zunächst die Emanzipation vom Programmschema, wie schon Peter Lustig lehrte. Dazu gehört, den Algorithmen so weit wie möglich zu widersprechen (wenn man es denn will), das Regiment über die eigene Timeline zumindest weitgehend zurückzuerobern, Smartphones abzuschalten, Emails unbeantwortet zu lassen, Internet-Päuschen einzulegen.

Doch hinzukommen muss ein Bewusstsein dafür, dass die Digitalität kein Erprobungsraum, sondern Lebensraum ist. Dass man gut online sein kann, ohne senden zu müssen. Dass man dabei sein kann, ohne sich von allem erregen zu lassen. Dass man gut Netflix- und Spotify-Accounts nutzen kann, und trotzdem des Abends mit der Klampfe am Lagerfeuer oder mit einem Glas gutem Roten (aber nicht mehr!) an der Feuerschale sitzen kann.

Leben in der Digitalität funktioniert nicht mehr in der Dichotomie von On-/Off-Line. Es geht nicht um ein Nebeneinander von analoger und digitaler Welt, das „wahre Leben“ ist digital und analog. „Klare Offline-Regelungen“ funktionieren nur, wenn man unter Digitalität das Internet versteht. Es geht darum, das richtige Maß eigener emotionaler und intellektueller Verfügbarkeit und Beteiligung in einer immer schon digitalen Welt zu finden. Erwachsensein in der Digitalität heißt demnach, Ver- und Gebote funktional zu begreifen und die Digitalität selbst als Fluidum, nicht umgedreht.

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