Der geteilte amerikanische Traum

Die US-Gesellschaft ist immer noch stark gespalten – die Pandemie hat nichts daran geändert
Eine Trump-Unterstützerin und eine Gegnerin des früheren US-Präsidenten streiten in San Diego miteinander.
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Eine Trump-Unterstützerin und eine Gegnerin des früheren US-Präsidenten streiten in San Diego miteinander.

Stellt man Bewohnern von US-Großstädten wie Los Angeles oder New York die Frage, wie sie den Dialog mit Trump-Fans aufnehmen würden, erntet man nach langem Schweigen die Gegenfrage: „Warum sollte ich das tun?“ Zugleich will ein Großteil der Trump-Anhänger auf dem Land immer noch nicht glauben, dass Joe Biden die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat. Was könnte die gespaltene Gesellschaft einen, fragt sich der US-Korrespondent Roman Elsener.

New York erwacht langsam wieder. Am East River in Brooklyn wird Beach-Volleyball gespielt, vor einem fast maskenlosen Publikum. Die City kann sich das im Frühsommer 2021 erlauben. Über 50 Prozent der Bevölkerung sind geimpft, der ärgste Teil der Covid-19-Krise scheint überwunden zu sein.

Wie schnell die Impfaktion in den USA mit über 330 Millionen Einwohnern aufgezäumt wurde, verdient Respekt. Sie ist zur Zeit eines der wenigen Zeichen, dass Amerika doch funktioniert, wenn es muss. Man sitzt nun zwar wieder zusammen zum Dinner und diskutiert die Zukunft des Landes, merkt aber: Die USA sind in der Pandemie nicht zusammengerückt, im Gegenteil. Seit der Abwahl von Donald Trump ist über ein halbes Jahr vergangen. Ein Großteil seiner Anhänger im ländlichen Amerika will aber immer noch nicht daran glauben, dass Joe Biden gewonnen hat. Trump-Schilder stehen dort weiterhin auf den Rasen vor den Häusern. Darauf wird den „Psycho-Demokraten“ geraten, keinen Schritt weiter in die „Make America Great Again“-Zone zu machen. Stellt man umgekehrt Bewohnern von Städten wie Chicago, Los Angeles oder New York die Frage, wie sie den Dialog mit Trump-Fans aufnehmen würden, erntet man langes Schweigen, dann die Gegenfrage: „Warum sollte ich das tun?“ Einig scheint sich das US-Wahlvolk zur Zeit nur in einem zu sein: 80 Prozent der Bürger finden laut der Umfrage des unabhängigen Pew Research Center, dass der tiefe politische Graben zwischen Demokraten und Republikanern gefährlich für die Zukunft des Landes ist. 78 Prozent sind der Meinung, dass die beiden Parteien unbedingt zusammenarbeiten sollten. Doch bloß 21 Prozent der Wähler glauben daran, dass sich die Beziehungen bis zu den Zwischenwahlen 2022 tatsächlich verbessern. Fast doppelt so viele erwarten, dass es noch schlimmer wird. Und über 40 Prozent auf beiden Seiten des Parteienspektrums sind überzeugt, dass die anderen „abgrundtief böse“ sind. Die Wunden, die die polarisierende Politik Trumps gerissen hat, sind noch lange nicht verheilt, sie schwären und vereitern mit den Lügen, die der ehemalige Präsident weiter in die Welt setzt.

Beim Sturm auf das Capitol in Washington am 6. Januar wurde der Polizist Michael Fantone von Trump-Anhängern überwältigt und mit einem Taser schwer verletzt. Dass manche Republikaner, wie etwa der Abgeordnete Andrew Clyde aus Georgia, behaupten, die Attacke habe nie stattgefunden, es habe sich lediglich um „ordentliche Touristen, die das Gebäude besuchten“, gehandelt, ist Fantone unbegreiflich. „Diese Leute versuchten, mich zu töten, um an ihr Ziel zu kommen“, sagt der gut gebaute Polizist Monate nach dem Überfall im US-Fernsehen. Dass der Anstifter des Aufruhrs bis heute die repulikanische Partei dominiert und möglicherweise nochmals für die Präsidentschaft antreteten könnte, ist ebenso unglaublich. Vor allem auch, weil er im traditionellen Rating der US-Präsidenten, in dem jeweils über zweihundert Historiker befragt werden, bereits als schlechtester Präsident der USA aller Zeiten gewertet wird, gerade wegen der Nichteingestehung seiner Wahlniederlage und dem Sturm auf das Capitol.

Jüngstes Beispiel der Macht, die Trump immer noch über seine Partei ausübt: Als sich die dritthöchste Republikanerin, Liz Cheney, Tochter des ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney, auf Twitter darüber erboste, dass Trump immer noch von Wahlbetrug spricht, leiteten die Republikaner prompt ein Amtsenthebungsverfahren gegen die gestandene, durchaus konservative Parteigenossin ein. Warum die Republikaner an Trump festhalten, ist angesichts der sich wandelnden Demografie in den USA nicht verständlich: Zwar sind die Weißen noch in allen US-Bundesstaaten außer Hawaii in der absoluten Mehrheit, das wird sich laut der Auswertung des „Census“, der Volkszählung von 2020, aber bis 2045 ändern, wenn die Menschen weißer Hautfarbe weniger als 50 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen werden.

Logisch wäre es deshalb, der republikanischen Partei einen offeneren Anstrich zu geben, diverser, frauenfreundlicher zu werden nach dem Macho Trump, und in Energie- und Strukturfragen moderner. Es gäbe viele Amerikanerinnen und Amerikaner aller Hautfarben als Wahlvolk zu gewinnen, das konservative Werte hochhält, für die die republikanische Partei immer einstand: wenig Steuern und kaum Einmischung des Staates ins tägliche Leben, eine kontrollierte Einwanderung, das Recht auf Schusswaffen, eine freie Marktwirtschaft.

Die Strategie der Republikaner scheint aber in die andere Richtung zu laufen: Sie schürt Xenophobie und Hass, bezeichnet Medien als „Staatsfeinde“ und unternimmt nichts, um radikalen Nationalismus einzudämmen. Verständlich, dass viele liberale Beobachter die Demokratie unter diesen Vorzeichen bedroht sehen. Die Spaltung der herkömmlichen Medien in klar parteiische Zielgruppen bedienende Sprachrohre ist seit Trump vollzogen. Die Blasenwelt der Sozialen Medien gewinnt weiter an Einfluss. Warum soll ich mich mit der Realität abfinden, wenn ich mir meine eigenen „alternativen Fakten“ – ein Begriff, den Trumps einstige Pressesprecherin geprägt hat – aussuchen kann? Diese Haltung auf beiden politischen Seiten hat in den vergangenen 16 Monaten der Covid-19-Pandemie, in der viele Menschen Zuflucht in virtuellen Welten suchten und viel Zeit in ihrer eigenen Gedankenwelt verbrachten, zu Spaltungen von Familien geführt.

Nicht nur über US-Bundesstaaten hinweg, sondern auch transatlantisch. Unterdessen fragt sich nicht nur meine überzeugt demokratische Großtante in Illinois, ob sie ihren streng republikanisch wählenden Sohn als Baby vielleicht mal auf den Kopf hat fallen lassen. Auch in Europa findet sich Verwandtschaft, die an den Unsinn von Q-Anon glaubt, ohne je einen Fuß in die USA gesetzt zu haben. Warum werden ehemals nette ältere Damen zu vergifteten Anhängerinnen von Verschwörungstheorien? Wie können solche Gräben überbrückt werden? Expertinnen und Experten der Politwissenschaft wie Anne Applebaum, Steven Levitsky oder Daniel Ziblatt weisen darauf hin, dass die erfolgreichste Strategie, den autoritären Wandel einer politischen Partei in den USA abzuwehren, historisch immer von mutigen Figuren abhing, die an ihren Überzeugungen festhielten. Deshalb sind Liz Cheney, der ehemalige Senator von Arizona Jeff Flake und Mitt Romney, Senator von Utah, sowie andere Republikaner, die Trumps „große Lüge“ kritisieren, von Bedeutung. Dass solche beliebten Politiker kaum mehr Platz in ihrer Partei finden, lässt Hoffnungen auf ein diverses Mehrparteiensystem in den USA aufkeimen.

Viel anzupacken

In der TV-Serie Designated Survior auf Netflix – einer klar liberalen Plattform – gelingt es einem parteilosen Infrastruktur-Minister, die Präsidentschaft zu erringen. Die „Independents“ werden zur stärksten politischen Kraft im TV-Land. Die wirklichen USA sind von einer solchen Entwicklung aber weit entfernt, auch wenn sich viele unpolitische Amerikaner eine stabilisierende Kraft in der Mitte wünschen. Es gibt viel anzupacken in diesem riesigen Land, und die Geschichte zeigt, dass die großen Projekte die Unterstützung beider Parteien brauchten – von den Wirtschafts- und Sozialreformen unter dem „New Deal“ von Franklin D. Roosevelt 1933 über die Verabschiedung des „Civil Right Act“ 1964 bis zur Bildungsreform unter George W. Bush 2001. Die letzte parteiübergreifende Bewegung, die das „Bipartisan Policy Center“ verzeichnet: der nach unten zeigende Daumen von John McCain, mit dem der republikanische Senator von Arizona 2017 die Gesundheitsreform seines ehemaligen Konkurrenten um die Präsidentschaft, Barack Obama, vor Trumps Attacken rettete. McCain starb kurz danach und mit ihm die Zusammenarbeit zwischen den Parteien. Ein „New New Deal“ müsste her, doch musste Joe Biden seine ersten 100 Tage im Amt nutzen, um das vorwiegend links-demokratische Programm durchzusetzen, das von seinen Wählern gefordert wurde. Nun haben die Republikaner wiederum keine große Lust, die luftigen Pläne der in ihren Augen unkompetenten Demokraten zu unterstützen.

Biden lud Mitte Mai Republikaner, die die veraltete Infrastruktur im Land ebenfalls als eines der größten der zu lösenden Probleme sehen, ins Weiße Haus ein, um sein 600-Milliarden-Dollar-Paket, mit dem unter anderem Verkehrswege, Internetleitungen und die Energieversorgung auf Vordermann gebracht werden sollten, vorzustellen. Tags darauf gaben die Republikaner bekannt, gerade einmal ein Viertel der Summe für diese Erneuerung Amerikas einsetzen zu wollen. So lassen sich die nötigen Investitionen nicht umsetzen. Damit kann man anstehende Probleme für vielleicht zehn Jahre überpflastern, zur Verbesserung der Struktur des Landes ist aber nichts getan. Dabei könnte die Modernisierung des veralteten amerikanischen Energiesystems – meist wird noch mit offener Gasflamme gekocht – oder des Transportwesens – die öffentlichen Bahnverbindungen sind schlechter als in manchen Entwicklungsländern – durchaus als parteiübergreifendes Projekt angegangen werden. Große Aufgaben, von denen Donald Trump in seinen vier Jahren als Präsident mit großem Gepolter abgelenkt hat. Um Wählerstimmen zu gewinnen, gaukelte er Amerika ein Modell vor, von dem jeder CEO eines seriösen globalen Unternehmens weiß, dass dieses in der heutigen Welt nicht mehr standhält. Texas, bisher ein solider republikanischer Gliedstaat, hat diesen Winter einen Stromausfall erlebt, der in der heutigen Zeit von smarten, digitalen Programmen für die Energieversorgung eigentlich nicht mehr passieren dürfte. Dem verheerenden Blackout folgte eine Trinkwasser-Krise im wasserarmen Gliedstaat. Statt einer Diskussion über die nötigen Investitionen in eine nachhaltige Zukunft wurde aber beiderseits sofort die Schuldfrage erhoben: Die Republikaner machten den zu raschen Umstieg auf erneuerbare Energiequellen verantwortlich, die Demokraten suchten die Schuld – wohl mit Recht – bei den Betreibern der Stromnetze in Texas, die nicht den Sicherheitsbestimmungen der restlichen US-Energiebehörden unterworfen sind und Profit vor Netzstabilität gesetzt haben. Was etwa den Direktor des Institute of Energy der Universität von Texas in Austin, Dr. Varun Rai, nachts nicht schlafen lässt, ist die Frage, wie denn die Summen zusammengebracht werden können, die die amerikanische Infrastruktur braucht. Er bezeichnet die Aufgabe als eines der größten Unterfangen, mit dem sich die USA in ihrer Geschichte auseinanderzusetzen haben. Gleichzeitig sieht Dr. Rai darin aber auch eine Chance: Über die Zukunft der USA nachzudenken, sei der beste Weg, dieses Land wieder auf gemeinsamen Kurs zu bringen.

Am Ende geht es um den Amerikanischen Traum, den Glauben daran, dass mit redlicher Arbeit und einem fairen Staat jede Idee eine Chance hat. Hier liegt der Ansatz, mit dem es Amerika in der Vergangenheit immer wieder geschafft hat, sich entgegen aller physikalischen Gesetze am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Manchmal reicht der bloße Glauben, um den Graben der Lügen zu überbrücken. Den Realitätssinn sollte man dennoch nicht verlieren. „Don’t believe everything you think“, besagt ein Aufkleber, der immer öfter auf den Heckseiten von Autos zu sehen ist, so auch auf dem Volvo meiner Mitbewohnerin in New York. Vielleicht könnten sich Trump-Fans und -Gegner unter diesem Motto zu ersten Annäherungsversuchen treffen, während der Rest der Welt mithilft, wieder den Amerikanischen Traum zu träumen. Kleine Lichtblicke, dass parteiübergreifende Gesetzgebung in der USA doch noch möglich ist, zeigten sich kürzlich gleich dreimal: Zuerst verabschiedeten das Repräsentantenhaus und der Senat mit einer überwältigenden Mehrheit den „COVID-19 Hate Crimes Act“, mit dem die Attacken auf Amerikaner asiatischer Herkunft gestoppt werden sollen. Diese hatten zugenommen, da Trump das Coronavirus stets als „China-Virus“ bezeichnet. Dann stimmten alle Demokraten und immerhin 35 von 211 Republikanern im Repräsentantenhaus für die Schaffung einer Kommission, die untersuchen soll, wie es zum Sturm auf das Capitol am 6. Januar gekommen war. Und drittens legten demokratische und republikanische Abgeordnete gemeinsam einen Plan vor, wie das Boden-Verkehrsnetz endlich modernisiert werden kann. 

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