Pragmatisch, vielfältig, flexibel

„Die Nachrückenden“ – so beschreibt Carsten Brall seine Pfarrgeneration
„Wir sind irgendwo zwischen Generation Golf und Generation Y, die deutsche Teilung haben wir nur zum Teil bewusst erlebt, wissen aber sehr genau, ob wir aus West- oder Ostdeutschland kommen. Wir sind Nachrückende, die dominierende Gruppe der Babyboomer ist weit vor uns.“
Foto: Andreas Harbach
„Wir sind irgendwo zwischen Generation Golf und Generation Y, die deutsche Teilung haben wir nur zum Teil bewusst erlebt, wissen aber sehr genau, ob wir aus West- oder Ostdeutschland kommen. Wir sind Nachrückende, die dominierende Gruppe der Babyboomer ist weit vor uns.“

Carsten Brall, vierzig Jahre alt, ist Pfarrer der lutherischen Kirchengemeinde Bayreuth-Stadtkirche. Er gestaltet die  zweite Folge unserer mehrteiligen zeitzeichen-Serie, in der Pfarrerinnen und Pfarrer verschiedener Generationen aus  ihrem Dienst und ihrem Leben erzählen. Brall schreibt: Wir sind öfter mit dem Rückbau als mit dem Ausbau  beschäftigt. Das prägt.

Zu welcher Pfarrgeneration gehören wir, die wir heute Ende Dreißig, Anfang Vierzig sind? Mit Blick auf den ausgezeichneten Dokumentarfilm „Pfarrer“ (2014) – darin so manch ein bekanntes Gesicht aus Studientagen – sprach ein zeitzeichen-Beitrag im November 2019 vom „Pfarrnachwuchs“. Und mehr noch: In Hamburg gibt es das so genannte Kugellagermodell. Das klingt aufregender, als es ist – und die wenigsten werden dabei an so etwas wie Kirche denken. Aber darum geht es, nämlich um die Zukunft pastoraler Dienste. Dieses Kugellagermodell versteht sich nachwuchsbezogen für Leute „U45“. Wie aber sehen wir uns selbst? Hier also der Versuch einer individuellen Antwort auf eine allgemeine Frage.

Wir sind irgendwo zwischen Generation Golf und Generation Y, die deutsche Teilung haben wir nur zum Teil bewusst erlebt, wissen aber sehr genau, ob wir aus West- oder Ostdeutschland kommen. Wir sind Nachrückende, die dominierende Gruppe der Babyboomer ist weit vor uns. Die Geschichten von überbordenden Hebräischkursen mit einhundert oder mehr Personen stammen aus grauen Vorzeiten. In meinem ersten Semester an einer gro­ßen theologischen Fakultät waren wir genau zwei Anfänger im Pfarramtsstudium. Auch mein Examensdurchgang bestand aus nicht mehr als zehn Personen.

Das prägt, denn es macht einen gro­ßen Unterschied, ob man an der Gesamtuni Teil einer sichtbaren Masse ist oder ob man als exotisches Überbleibsel eines doch nicht ausgestorbenen Orchideenfachs erscheint. Für den Pfarrdienst hat das Folgen.

Tiefgreifende Veränderung

Unser Dienst ist anders als in den Jahren zuvor, weil die Kirche selbst sich verändert hat. Wir sind öfter mit dem Rückbau (ein ziemlicher Euphemismus für einen schmerzhaften und trauerbehafteten Prozess) als mit dem Ausbau beschäftigt, das betrifft Gebäude ebenso wie Gemeindestrukturen. Es ist längst nicht mehr nur in den Großstädten so, dass die Kirche sich zurückzieht. In meiner Gemeinde in einer letztlich doch beschaulichen bayerischen Mittelstadt ringen wir um den Erhalt von Stellen und Gebäuden.

Wir müssen gleich zu Beginn unseres Dienstes diesen Rückbau in die Hand nehmen. Gleichzeitig sind wir die ersten, die mit den vielfach gelobten und kopierten Erprobungsräumen arbeiten. Ein wunderbarer Containerbegriff, bei dem man nie so ganz weiß, was alles drinsteckt. Aber er klingt verheißungsvoll, und diejenigen, die darin arbeiten, machen Lust darauf.

Niemand von uns stellt ernsthaft infrage, dass Kirche sich gewaltig ändert. Dass wir weniger sind als vor zwanzig Jahren, hat zur Folge, dass wir individuelle Lösungen suchen – und manchmal auch für uns brauchen.

Bunte Biografien

Denn wir sind vielfältig. Wir sind die „Generation Erasmus“. Uns standen die Türen nach Europa und in die Welt schon weit offen, bevor sie sich durch die Bologna-Reform wieder ein Stück weit verschlossen zu haben scheinen. Anderer Dienst im Ausland nach dem Abitur, Studienjahre unterwegs oder Auslandsvikariate sind in meiner Generation keine Seltenheit, viele haben unterschiedliche Stationen hinter sich gebracht.

Überhaupt war die Vielfalt der Lebensentwürfe zum Beispiel im Vikariat enorm. Wir waren etwa gleichviele Männer und Frauen. Einige hatten Kinder oder bekamen sie während der Vikariatszeit, andere waren Singles oder in einer Paarbeziehung – die Vielfalt der Lebensentwürfe ist riesig. Als wir mit dem Vikariat begonnen haben, waren die Jüngsten Mitte zwanzig, und die Ältesten gingen auf die vierzig zu. Dazwischen waren wir altersmäßig breit verteilt.

Mir wurde deutlich: Zumindest bei uns gab es keine „Normalbiografie“ – und ich weiß nicht, ob es sie je gegeben hat. Herkunft, Ausbildungsorte und theologische Tradition waren sehr verschieden. Überdies hatte jeder Vikariatsjahrgang seine Prägung, mal ging es eher hochkirchlich zu, mal war es eher pragmatisch. Vielleicht ist es eine alte Wahrheit, die so schon öfter galt, doch gilt sie ganz bestimmt für diese Generation: Wir tragen unterschiedliche Perspektiven in die aktuellen Diskussionen ein, schon allein weil wir schwer über einen Kamm zu scheren sind.

Flexibilität als Kennzeichen

Mehr als die Erfahrung vom Ende der großen Erzählungen eint meine Generation die Erfahrung vom Ende der großen Namen. Natürlich gibt es sie noch, die Theologieprofessorinnen und -professoren, die auf die einzelnen Pfarrerinnen und Pfarrer prägend wirken. Aber welche Rolle spielte das wirklich, wenn es um die Wahl des Studienortes ging?

Man ging nach Greifswald, Kiel oder Rostock, wenn man das Meer mochte, nach Halle, Jena oder Leipzig, wenn man als Westdeutscher mal in einer ostdeutschen Großstadt gelebt haben wollte, nach Tübingen oder Heidelberg, wenn man mal an einer klassisch-altehrwürdigen Fakultät studiert haben wollte (ja, ich weiß, das trifft auf die allermeisten evangelisch-theologischen Fakultäten zu, aber Heidelberg und Tübingen umwehte immer noch die Aura des Besonderen) oder aber nach Wuppertal oder Neuendettelsau, weil man die Campus-Atmosphäre dort schätzte.

Markante theologische Schulen, die mit Orten und Eigennamen in Verbindung gebracht werden, waren weniger ausgeprägt als vor Jahrzehnten. Wir sind mobil geworden, das betrifft nicht nur die Wahl unserer Studienorte. Während meines Studiums wurden uns noch die Namen der Landeskirchen genannt, die uns aufnehmen könnten, wenn die eigene Landeskirche uns nicht übernehmen wird. Das macht etwas mit den Studierenden. In unserem Vikariatskurs waren bereits einige, die aus anderen Landeskirchen hergewechselt waren, und von zehn Vikarinnen und Vikaren aus meiner Landeskirche haben seit der Ordination drei die Landeskirche gewechselt. Die Bedeutung von Landeskirchengrenzen ist gesunken – wenn auch gewiss nicht verschwunden –, und die Fragen des eigenen Profils oder auch der Familiensituation sind wichtiger geworden.

Verschiedene Frömmigkeiten

Auch theologisch nehme ich eine große Weite in meiner Generation wahr. Im Vikariat insistierte niemand auf die eigene Rechtgläubigkeit, noch sprach man sie jemandem ab. Die Frage nach der Äußerung der eigenen Spiritualität wurde eher nach Kriterien von Kultur und Stil bemessen als nach dogmatischen Fragen. So kam es zum Beispiel, dass Worship-Music auch von gestandenen Volkskirchlichern geschätzt wurde, während erwecklich Geprägte die klassische Kirchenmusik hochhielten.

Das sorgte allerdings auch für Irritationen. Noch der sehr geschätzte Leiter meines Predigerseminars soll sich fast ein wenig erstaunt an unsere Mentorinnen und Mentoren mit den Worten gewandt haben: „Wundern Sie sich nicht, wenn die heute alle so fromm sind.“

Ich kann nur erahnen, was er meinte. Ich vermute, er bezog sich darauf, dass in dem „Vintage“ der eigenen Religiosität auch mit durchaus traditionellen Worten und Formen gespielt wurde; und Spiel ist etwas sehr Ernstes! Dieses vorurteilsfreie Ausprobieren und Aneignen roch von außen wohl nach althergebrachten Frömmigkeitsfragmenten und konservativer Dogmatik.

Authentisch Geistlicher sein

Was ist jetzt meine Generation von Pfarrerinnen und Pfarrern? Ich erlebe meine Generation, vereinfacht gesagt, als Geistliche, die nach Authentizität streben. Natürlich werden sich auch Angehörige anderer Generationen mit Recht als Geistliche verstehen. Und genauso werden Pfarrerinnen und Pfarrer aus meiner Generation mit großer Hingabe andere Bilder von sich haben. Aber die Zeit großer dogmatischer oder ethischer Grabenkämpfe war in meiner Ausbildungszeit längst nicht so ausgeprägt, wie es in den Geschichten älterer Semester anklang, und im aktiven Dienst ist davon kaum etwas zu spüren. Viel wichtiger war die Frage nach der eigenen Haltung zum Glauben und die Frage, wie wir Glaube und Beruf erleben. Die Bedeutung einer Zufriedenheit in einem ganzheitlichen Sinn ist gewachsen.

Vielleicht ist es das auch, was in zz 11/2019 zur heutigen Pfarrerausbildung von Kay-Ulrich Bronk, dem Direktor des Prediger- und Studienseminars der Nordkirche in Ratzeburg, mit Leidenschaft und etwas Irritation angedeutet wird. Vermutlich waren wir deshalb nicht mehr so „kritisch“ in der Theologie, weil wir den Relevanzverlust der Kirche intuitiv aufgenommen haben und wir heute in unserem Beruf weniger streiten, sondern andere Wege suchen. Das Schrumpfen der Kirche hat die Felder jenseits der Gemeindegrenzen frei werden lassen und Felder eröffnet, die wir mit unterschiedlichen Mitteln bespielen. Manch einer wird dabei zum Performer des Evangeliums. Dabei gilt es, den jeweils eigenen Stil zu finden.

Das kann durchaus diskursiv geschehen, wie man an Textil- oder Liturgiedebatten sehen kann. Diese haben passenderweise ihren Ort weniger im klassischen Printmedium als in Social Media oder im direkten eigenen Umfeld und schaffen es durchaus, in meiner Generation die Gemüter in Wallung zu bringen.

Die aktuelle Corona-Krise befördert diesen Stil. Jede Generation versucht auf ihre Weise, die Menschen zu erreichen – aktuell geschieht viel über digitale Kanäle. Die jüngere Generation versucht es oftmals weniger über abgefilmte Gottesdienste, sondern erscheint vielmehr als Gesprächspartner – oder kokettiert fast schon mit ihrer (Pfarr-)Rolle. Sie positioniert sich weniger als predigende Amtsträgerin, sondern als authentische Influencerin.

Eine Identität für die Zukunft

Ich schätze meine Generation innerhalb und außerhalb der Sphäre von Theologinnen und Theologen. An uns mit unserer geballten Vielfalt stellt sich allerdings die Frage, wie wir in Zukunft Volkskirche sein wollen. Denn mit der Auflösung der Mehrheitskultur in viele Subkulturen sind wir mitten in einem Prozess, der „die Pfarrerin oder den Pfarrer für alle in eine ziemliche Zerreißprobe bringt.

Wie will man in diesen Zeiten für seine Gemeindeglieder ungeachtet von Herkunft, Bildungsstand und Vermögen gleichermaßen da sein? Das ist schwierig. Die Milieu-Debatte zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts hat es deutlich gemacht. Dennoch gibt es Lösungen. Als Pfarrer inspiriert mich der schon viele Jahre alte Artikel „Der Prediger in der Predigt“ von Manfred Josuttis, abgedruckt in dem Sammelband Predigt. Texte zum Verständnis und zur Praxis der Predigt in der Neuzeit von Friedrich Wintzer aus dem Jahr 1989. Anhand des „Ich“ in der Predigt differenziert er zwischen den verschiedenen Rollen des Predigers und schafft es, Amt und Authentizität zusammenzubringen. Für eine pastorale Identität der Gegenwart scheint mir das eine der zentralen Fragen zu sein.

„Volkskirche leben“, das heißt in meiner Generation: authentisch Teil der Kirche sein. Kirche ist eben eine Option unter vielen geworden, und ich bin als Pfarrer für mein weitgehend säkulares Umfeld das Gesicht dieser Organisation. Indem ich sichtbar im Dienst – und der endet bekanntlich nicht mit dem Verlassen des Pfarrbüros – meinen Glauben lebe, gebe ich dem Christsein ein Gesicht, nämlich mein Gesicht. Trotzdem oder auch gerade deshalb achten wir auf Grenzen und Privatheit. In Zeiten allgemeiner Erreichbarkeit via E-Mail und Smartphone mit allerlei Apps einerseits und dem Rückgang von Pfarrstellen samt der damit verbundenen Fokussierung auf die, die übrig bleiben, andererseits müssen wir vieles neu justieren.

Ich glaube, dass meine Generation ihr „Pfarr-Ich“ anders finden muss als die Generationen vor uns. Wir haben große Freiheiten, unseren schönen Dienst mit Leben zu füllen. Wie gut ist es, wenn das fröhlich-authentisch und zugleich gewissenhaft-verantwortlich gelingt. 

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