Die umgedrehte Pyramide

Führung geht auch anders. Das wusste schon der Apostel Paulus
Foto: privat

Ein vernünftiger Auszug aus Ägypten braucht eine starke Führung. So steht es in der Bibel. Moses leitet das Volk, teilt das Meer, holt die Gebote ab usw. Auch wenn alle das gleiche Ziel haben braucht es eine Führungspersönlichkeit, die die Richtung vorgibt und auch mal durchgreift, wenn welche den Rückzug antreten wollen. Das geht auch nicht anders. Man stelle sich vor, das Volk Israel hätte leitungsfrei erstmal stundenlang debattiert, welcher Weg eingeschlagen und auf welche Weise das Meer geteilt werden soll – das wäre nie was geworden mit dem Heiligen Land. Oder vielleicht doch.

Lange war man in der Organisationsforschung davon ausgegangen, dass die Führungsetage den Masterplan entwickelt, ihn den Angestellten erklärt und die Umsetzung kontrolliert. Dass das auch anders geht, behauptet der Organisationsforscher Frederic Laloux. In seinem Buch „Reinventing Organizations“ berichtet er von einem niederländischen Pflegedienst namens „Buurtzorg“. Er bietet häusliche Pflege an und ist die beliebteste und mittlerweile größte Organisation im Bereich häuslicher Pflege in den Niederlanden (es gibt sogar schon Ableger in Deutschland). Ein Grund für ihre Beliebtheit ist die Zufriedenheit der Pflegebedürftigen: Es ist genug Zeit für sie da, und sie haben feste Betreuer*innen.

Ein weiterer Grund für die Beliebtheit ist die Abwesenheit von Führung. Abgesehen von einer kleinen Verwaltungszentrale gibt es keine Vorgesetzten, denn die Teams, bestehend aus 10-12 Pflegekräften, entscheiden alles selbst, Aufgaben (wie Urlaubs- und Dienstplanung) werden verteilt, neue Strategien besprochen und Konflikte gelöst. Und es funktioniert. Das Unternehmen wird von einem großen Ziel getragen: das Wohl der Pflegebedürftigen und die Förderung ihrer größtmöglichen Unabhängigkeit. Kein Masterplan zur Umsetzung dieser Ziele, keine Kontrolle über SMART-Ziele, nur dieses unendliche Vertrauen in die Pflegekräfte.

Zauberwort "Selbstführung"

Laloux zufolge klappt das auch in der Automobilbranche und in Software-Unternehmen. Das Zauberwort lautet „Selbstführung“: Mitarbeitende werden als kompetente Fachleute gesehen, die Verantwortung übernehmen für ihre Bereiche und ihre Gaben einbringen. Bei Buurtzorg beispielsweise führt eine Pflegekraft, die besonders gut zuhören kann, vornehmlich Beratungsgespräche durch, eine andere ist besonders gut im Umgang mit Konflikten und kann Streitigkeiten schlichten helfen. Eine dritte kennt sich so gut mit seltenen Krankheiten aus, dass sie von Kolleg*innen aus dem ganzen Land konsultiert wird.

Ich glaube, Laloux hätte sich gut mit Apostel Paulus verstanden. Der sagt in seinem ersten Brief an die Korinther Ähnliches: Alle Gemeindeglieder haben verschiedene Gaben – der eine die Gabe der Weisheit, die andere die der Erkenntnis, andere können gut heilen, andere gut prophetisch reden. „Charismen“ nennt Paulus diese Gaben, die durch Gottes Geist bewirkt und von gleicher Wichtigkeit sind. Menschen, die ihre Gaben entfalten dürfen und dafür geschätzt werden, besitzen eine besondere Strahlkraft. Paulus hat darauf gesetzt.

Wie wir wissen, hielt das nicht lang. Es kamen die Pastoralbriefe mit ihren Stellenbeschreibungen und Ämterhierarchien, die bis heute als alternativlos gelten. Gerade in Zeiten der schwindenden Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft wird als Stärke wahrgenommen, wenn die Kirche mit einer Stimme spricht – und die Stimme ist natürlich die der Kirchenleitung. Paulus und Frederic würden die Pyramide umkehren und sagen, dass die Stärke der Kirche ihre Mitarbeiter*innen (ob nun haupt- oder ehrenamtlich) sind mit ihrer je unterschiedlichen Strahlkraft. Am unteren Ende der umgedrehten Pyramide befänden sich die kirchlichen Leitungspersonen; ihre Aufgabe bestünde darin, ihren Fokus zu ändern: vom Planen und Kontrollieren zum Wahrnehmen und Beflügeln. Sie wären dafür zuständig, die Stechuhren zu entfernen (und das meine ich ganz und gar nicht metaphorisch) und die Windmaschinen aufzustellen, die den Teams helfen zu fliegen.

Hoffnung braucht Nahrung, und für mich ist die Geschichte von Buurtzorg ein Hoffnungsschimmer, dass ein anderes Arbeiten möglich ist. Der Status Quo ist eben nicht alternativlos. Oder in den Worten, die sich das Frauenwerk der Nordkirche vor Jahren zum Motto gesetzt hat: „Es geht auch anders – umkehren zum Leben.“

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