Über den Tod hinaus

Anna Scholz hat unsere Verbindungen mit und zu Verstorbenen theologisch vermessen
Anna Scholz
Foto: privat

Wo sind unsere Toten? Was bedeuten sie und unsere Beziehung zu ihnen für die Wirklichkeit, die uns ausmacht? Die hessische Theologin Anna Scholz geht in ihrer Dissertation diesen existenziellen Fragen nach – anthropologisch, philosophisch, theologisch und auch ganz praktisch.

Im Anschluss an mein Abitur in Kassel habe ich ein paar Semester Kunstgeschichte studiert. Dann bin ich sehr jung Mutter geworden und habe meine Lebensplanung nochmal neu überdacht. Nach der Geburt meiner Tochter habe ich zuerst eine Erzieherinnenausbildung abgeschlossen, denn ich brauchte in absehbarer Zeit einen Beruf, mit dem ich für meine Tochter und mich würde sorgen können, und dass die Erfüllung dieser Notwendigkeit mit Kunstgeschichte etwas kompliziert werden könnte, war eine vermutlich berechtigte Befürchtung. Ich habe ein Jahr lang in der stationären Jugendhilfe in Kassel gearbeitet und dann festgestellt, dass ich vielleicht doch noch mal ein Studium wagen sollte. Und so bin ich nach Berlin gezogen und habe dort mit Theologie begonnen, zu der Zeit noch gar nicht mit dem klaren Berufsziel „Pfarrerin“, sondern eher, weil mich das breite Spektrum des Fachs interessiert hat.

Während des Studiums war ich in einer Art Lesezirkel mit dem Theologen Ulrich Barth, der damals in Berlin als Seniorprofessor lehrte, und bin auf diese Weise in den „Dunstkreis“ der Systematischen Theologie geraten. Dort ist dann auch die Idee entstanden zu promovieren. Aber es sollte von vornherein keine klassische Unipromotion sein – also mit einer Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin, denn dann dauert das Ganze mindestens fünf Jahre. Ich war ja nicht mehr so jung und wollte auf jeden Fall erstmal das Vikariat absolvieren, sprich die weiteren berufsbiografischen Voraussetzungen unter Dach und Fach bringen.

Zum Glück gibt es in meiner Kurhessischen Heimatkirche mit dem Hans-von-Soden-Institut das tolle Angebot, als Pfarrerin für drei Jahre besoldet mit A10 ein Forschungsprojekt mit Promotion abzuschließen – das passte für mich nach dem Vikariat gut. Mein Promotionsthema fand ich während eines Praktikums im Vikariat in der Klinikseelsorge, als ich an einer Bestattungs- und Trauerfeier für sogenannte Sternenkinder teilnahm, also für Kinder, die im Umfeld der Geburt verstorben sind. Das hat mich tief bewegt, und ich habe mir die Frage gestellt: „Was passiert hier eigentlich?“ Natürlich ist es ein Abschiednehmen von den toten Kindern, aber andererseits – so paradox es klingt – ist es auch ein Willkommensritual, das diesen Kindern einen Personenstatus zuspricht: Die Namen werden genannt, und die Eltern werden zumindest in einem semiöffentlichen Kontext als Eltern anerkannt. Das war deutlich mehr und deutlich anders als das, was bei einer „gewöhnlichen“ Trauerfeier passiert, wenn es eine lange Lebensgeschichte zu erzählen gibt. Streng genommen hob die Feier die kleine, winzige Lebensgeschichte dieser Kinder überhaupt in den Status der Erzählbarkeit. Dieses Erlebnis führte mich zur Wahl des Themas und zu meiner Dissertation mit dem Titel „Name und Erinnerung – Anthropologische und theologische Perspektiven auf Personalität und Tod“, die jetzt im Juni bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig erscheint.

Die These meiner Arbeit ist, dass wir Menschen zu unseren Toten ein personales Verhältnis aufrechterhalten, und im Zuge der Arbeit gehe ich der Frage nach, wie man diese These anthropologisch und theologisch begründen kann. Ich bin dabei ein paar Umwege gegangen, denn mir war es wichtig, dass die Ergebnisse und Erkenntnisse nicht nur im theologischen Binnenraum plausibel erscheinen, deswegen haben auch soziologische und philosophische Gedanken einen hohen Stellenwert.

Einer meiner Hauptautoren ist dabei Helmuth Plessner (1892 – 1985), der als Biologe und Philosoph eine Doppelperspektive einnimmt. Plessner entwirft eine anthropologische Theorie, die in einer überzeugenden Verbindung aus naturwissenschaftlicher und hermeneutisch-philosophischer Perspektive plausibel zu machen vermag, warum wir Menschen uns – schlicht gesagt – Sachen vorstellen, die nicht da sind. Das ist ein guter Anknüpfungspunkt, denn wenn wir über den Tod sprechen, betreten wir immer einen Bereich, über den niemand etwas wissen kann. Trotzdem sind wir geneigt, uns Vorstellungen über den Tod und darüber hinaus zu machen, und ich fand es interessant, der Frage nachzugehen, ob es so etwas wie eine anthropologische Relevanz religiöser Sprache gibt. Damit ist noch nicht unmittelbar sofort die dogmatische Fachsprache oder die christlich-theologische Tradition gemeint, sondern viel weiter gefasst die Sprache, die die Dimension des – im Wortsinne – Unverfügbaren erfasst oder berührt.

Ich halte es für wichtig, dass wir unser Reden über den Tod stärker reflektieren. Die Entwicklung hin zu Reflexion und Kreativität in diesem Bereich ist ja schon seit einiger Zeit zu beobachten und gerade jetzt durch die Pandemie und die Debatte über das einsame Sterben wird unsere Trauerkultur massiv beeinflusst. Wenn ich mit Pfarrkollegen spreche, höre ich gelegentlich ein Bedauern darüber, dass die meisten Menschen in Trauergesprächen nicht explizit christliche Sprache für Hoffnungsbilder über den Tod hinaus benutzen. Alles sei im Niedergang begriffen. Aber das sehe ich gar nicht so, denn es gibt eben einfach eine Transformation von Bräuchen und damit verbundenen Bildern und Hoffnungen, und damit haben wir alle auch im Pfarramt zu tun.

Ich habe selbst eine große Lockerheit in mir entwickelt, auch gegenüber den Vorstellungen, die sich manche Menschen über den Verbleib ihrer Toten machen, ja, ich finde das überhaupt nicht schlimm. Letztlich sind auch unsere klassischen christlichen Bilder in erster Linie eine poetische und phantasievolle Form, sich dem Tod und der Sehnsucht nach Trost und Hoffnung darüber hinaus zu nähern und ihn irgendwie sprachlich zu fassen – strenggenommen auf einen Begriff bringen kann man diese Dinge sowieso nicht, denn es geht ja gar nicht um Begriffe, sondern um eine Art von Beziehung.

Wichtig wurde mir in diesem Zusammenhang auch das Werk des französischen Philosophen und Musikwissenschaftlers Vladimir Jankélévitch (1903 – 1985). Der sagt sinngemäß: „Der Tod ist etwas, über das wir nicht sprechen können, das Unaussprechliche, aber wenn wir auf den Friedhof gehen, dann ist da irgendetwas unter dieser Marmorplatte.“ Ich finde es wichtig, für dieses Irgendwas Sprache und Ausdrucksformen zu finden. Das geschieht inzwischen vermehrt und sehr individuell. Ein wichtiges Beispiel dafür ist das Bemühen um eine bewusste Bestattung von sogenannten Sternenkindern – denn hier zeigt sich deutlich, dass sich das, was wir als Person bezeichnen, nicht mit harten juristischen, medizinischen oder philosophischen Mitteln feststellen lässt, sondern eine Realität ist, die sich anhand von Relationen und Emotionen bildet. 

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