Risiko Hinschauen

Über die ökumenischen Aufgaben nach dem ÖKT
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Das Motto des Ökumenischen Kirchentages 2021, der hinter uns liegt, lautete „Schaut hin“. Die interpretierende Abwandlung des Wortes Jesu in Markus 6,38 („Geht und seht nach!“) war und ist ein schönes ökumenisches Zeichen. Denn unser Hinschauen ist eingebettet in Gottes Schauen auf uns und unser Schauen aufeinander.

Für mich steht hier die Einsicht in die bedingungslose Vorgängigkeit der Zuwendung Gottes im Hintergrund, die in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 (GER) zwischen Lutheranern und Katholiken festgehalten wurde. Inzwischen hat diese damals in Deutschland so umstrittene Erklärung breite ökumenische Rezeption gefunden. Der Weltrat Methodistischer Kirchen, die Anglikanische Gemeinschaft und die Reformierte Weltgemeinschaft haben ihr zugestimmt.

„Schaut hin“ ist zugleich auch ein gesteigerter Imperativ. Es ging und geht um Hinschauen und um Verantwortung. Bedenkt man, dass der Kirchentag pandemiebedingt digital stattfinden musste, markierte das Motto eine zusätzliche Herausforderung. Denn Hinschauen am Bildschirm war die Voraussetzung, um am Kirchentag teilhaben zu können. Gefühlt haben viele von uns das ganze letzte Jahr überwiegend am Bildschirm verbracht. Viele sind die Kacheln leid, in denen man sich begegnet, während die Kontaktbeschränkungen immer noch ein verantwortungsvolles, sorgendes und kümmerndes Hinschauen eindämmen.

Auch in der Ökumene und insbesondere beim ÖKT waren diese Beschränkungen schmerzlich spürbar. Denn Ökumene lebt von Begegnungen. Und doch ist die Ökumene in Deutschland gerade besonders lebendig. Der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen hatte 2020 das Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ veröffentlicht. Die Bedeutung dieses Schritts kann man nicht zuletzt an den prompten und spitzen Reaktionen aus Rom ermessen. Erstaunlicherweise wurde dabei gar nicht an erster Stelle die inzwischen allseits als Kernproblem angesehene Frage nach dem Amt adressiert. Nein, es wird der erreichte theologische Konsens im Verständnis von Abendmahl und Eucharistie selbst hinterfragt. Und dies, obwohl sich die Gründlichkeit der theologiehistorischen Aufbereitung durchaus mit derjenigen messen lassen kann, die der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zugrunde liegt.

Aber natürlich sind die Auswirkungen für das kirchliche Leben andere. Zwar geht es noch gar nicht um eine Abendmahlsgemeinschaft der Kirchen, sondern nur um die wechselseitige Teilnahme an Eucharistie und Abendmahl einzelner Glaubender. Aber was heißt es, wenn diese offiziell der Gewissensentscheidung der Einzelnen überantwortet wird? Die ökumenische Debatte zur Tischgemeinschaft ist aktuell nicht zuletzt deshalb so komplex, weil sie zusammenfällt mit anderen Reformfragen in den Kirchen, die die Gewissen nicht weniger in Anspruch nehmen. Die Risiken des Hinschauens und der Beteiligung für TheologInnen in den Konfessionen sind dabei unterschiedlich verteilt, wie immer wieder zu erleben ist. Da kann schon einmal eine Prüfungserlaubnis zur Disposition stehen. Auch in diesem Bereich sind Hinschauen und ökumenische Solidarität angezeigt. 

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Friederike Nüssel

Friederike Nüssel ist Professorin für Systematische Theologie in Heidelberg und Herausgeberin von zeitzeichen.


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