„Himmel, hilf!“

Wie der evangelische Propst in Jerusalem die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts erlebt
Jerusalem im Mai 2021
Foto: Joachim Lenz

Seit gut einer Woche heulen in Jerusalem immer wieder die Sirenen und warnen vor den Raketen der Hamas. Joachim Lenz, evangelischer Propst in Jerusalem schildert, wie er die vergangenen Tage erlebt hat.  

Es ist unwirklich. Am Montagabend der vergangenen Woche, kurz nach 18 Uhr, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben die Sirenen eines Luftalarms gehört. Es hört sich an wie zu Kinderzeiten, als samstags manchmal die Sirenen heulten. Zu Probe- und Wartungszwecken damals, jetzt als echte Warnung. Was zu tun ist, weiß ich ja: In den Bunker, ansonsten in den zweiten Stock eines Gebäudes, möglichst in einen fensterlosen Raum, jedenfalls weg von allen Fenstern – und warten. Wenn es nach zehn Minuten keinen weiteren Alarm gibt und es auch nicht kracht, mache man weiter wie zuvor.

Es knallt nicht und es gibt auch keinen weiteren Luftalarm, also gehe ich zurück an den Schreibtisch. Sieben Raketen waren auf Jerusalem abgefeuert worden, keine hat ihr Ziel erreicht. Die 3.500 anderen Raketen in der vergangenen Woche zielten auf andere Städte. Die Abwehrraketen des israelischen Iron Dome haben viel zu tun und arbeiten präzise.Allerdings höre ich es, wenn am Tempelberg oder am Damaskustor die Schockgranaten gezündet werden. Von der Terrasse aus kann ich gut unterscheiden, wo es gewalttätig wird: 350 Meter Luftlinie bis zum Tempelberg, etwas mehr bis zum Damaskustor. In Sozialen Medien und Zeitungen lese ich von den Ausschreitungen dort, von Verletzten. Ich halte mich von den Hot Spots fern – und erlebe Frieden, der doch gar nicht ist.

Menschenleere Gassen in Jerusalem
Foto: Joachim Lenz
 

Wenn ich zur Haustür hinausgehe, ins christliche Viertel, ist dort alles ruhig. Zu ruhig: Es kommt fast niemand in die Altstadt. Die meisten Läden bleiben geschlossen: Es ist wie in der Zeit des strikten Lockdowns. Dabei hatte es sich im Land doch seit einigen Wochen wieder fast wie früher angefühlt. Wovon leben die Händler und ihre Familien eigentlich seit Beginn der Pandemie und jetzt? Aber es wird offiziell gewarnt, in die Altstadt zu gehen, da sind sich israelische Behörden und die deutsche Botschaft einig. Viele Menschen hier bleiben in den letzten Tagen überhaupt daheim, wenn es geht. Auch die Einkaufsstraßen in Westjerusalem sind längst nicht so belebt wie sonst.

Was ist Wahrheit?

Auf Facebook poste ich zwei Fotos und bitte, mit uns für Frieden zu beten. Ein Foto zeigt einen Screenshot meiner israelischen Warn-App, auf der voraussichtliche Einschlagorte der Raketen aufgelistet sind. Das deutsche Gegenstück NINA tönte manchmal, wenn Starkregen drohte. Bei „Red Alert“ gibt es ständig neue, lange Warnlisten.

Ein Pfarrer aus der palästinensischen Schwesterkirche meldet sich bei mir mit einer Personal Message: Er sei traurig über meinen Post. Schließlich, so schreibt er, fliegen die Raketen der Hamas auf Städte, in denen die Menschen Bunker haben und sich schützen können – anders als in Gaza, wo die israelischen Streitkräfte ihre Luftschläge ausführen und die Bevölkerung schutzlos ist. Ja, denke ich, das stimmt!

Aber es ist auch nur die eine Seite der Wahrheit: Bunker gibt es im Gazastreifen nämlich reichlich, nur leider nicht für die Bevölkerung. Ich könnte also antworten, dass die Hamas ihre Gelder besser für anderes als unterirdische Militäranlagen und Raketen ausgegeben hätte. Bloß würde diese Wahrheit nichts am Leid der Menschen in Gaza ändern. Und die Gründe für die Gewalt dieser Tage liegen zum guten Teil Jahrzehnte zurück.

Besserwissereien und Schuldzuweisungen helfen niemandem, in diesem Land und in dieser Situation schon gar nicht. Ich halte lieber die Klappe, auch ohne mich gibt es schon unfassbar viele Nahostspezialisten. Per Messenger verabrede mich mit dem Kollegen für ein Gespräch. Demnächst, wenn Besuche wieder ungefährlich sind. Ich muss mit ihm reden – ich verstehe ja, dass er mit den Menschen seines Volkes leidet. Und ich versuche zu lernen, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt in dieser verfahrenen Situation. Das ist mehr als nur sich einzugestehen, dass man selbst nicht im Besitz der Wahrheit ist. Das habe ich längst verstanden, hoffe ich, als theologische Erkenntnis, immer wieder durch persönliche Erfahrung kräftig bestätigt. Ich habe die Lösung nicht und nicht die Wahrheit, okay. Aber es gibt hier nicht nur eine Wahrheit, oder? Daran habe ich zu kauen.

Es ist bedrohlich, aber nicht bei mir

Nun, eine gute Woche nach den sieben Raketen, ist es in der Altstadt von Jerusalem absolut still. In der Westbank wurde am Tag 8 zu einen „Tag des Zorns“ aufgerufen, zum Protest gegen die Bombardierungen des Gazastreifens und gegen die israelische Politik überhaupt. In Ostjerusalem haben die Geschäfte zu. Generalstreik. Das deutsche Vertretungsbüro in Ramallah hat die Deutschen gestern zu einer Videokonferenz zusammengerufen und informiert. Man solle besser daheimbleiben, jedenfalls an kritischen Orten nicht zu Fuß unterwegs sein, und man solle den Stadtteil Sheik Jarra und die Altstadt meiden. Nun: Ich wohne in der Altstadt. Unsere Mitarbeiter aus der Westbank kommen heute nicht zur Arbeit, die Checkpoints sind dicht.

Eine Kollegin zeigt mir ein Handyvideo von Sonntag, aufgenommen aus ihrer Wohnung. Auf der anderen Straßenseite steht ein junger Mann mit dem Gewehr im Anschlag und beobachtet, welche Autos vorbeikommen. Ein zweites Video aus dem Wohnzimmer zeigt eine Horde schreiender junger Männer, wie sie die Straße entlanglaufen. Die Kollegin bleibt lieber in der Wohnung und kommt nicht zur Arbeit. Ein andere erzählt mir, dass ihr israelischer Mann ihr gesagt hat, sie solle nur im Notfall auf die Straße. Den fälligen Einkauf von Zitronen und Frischmilch lässt er nicht als Notfall gelten. Ich kenne ihn ein wenig: ein besonnener, fröhlicher, kluger Mann, bestimmt kein ängstlicher Typ.

Es ist verstörend

Ach ja: Ich war am Samstag zu Gast bei einer arabischen Hochzeit. Dreimal war sie seit Mai vergangenen Jahres verschoben worden, wegen Corona. Jetzt hat der Brautvater 250 doppelt geimpfte Gäste eingeladen und will nicht nochmals verschieben. Einige Angehörige können nicht dabei sein, sie leben in der Westbank. Eine palästinensische Hochzeitsband begleitet das Brautpaar, wie es mit den Gästen in die orthodoxe Kirche des Elias-Klosters und später in den Festsaal hineintanzt. Trommeln, Pauken, Gesang und … drei Dudelsäcke, virtuos gespielt. Aber ja, hier war einmal britisches Mandatsgebiet, hier gab’s auch Schotten, denke ich. Lachend, lärmend, überschäumend fröhlich geht es in den Abend. Alle haben sich auf das Schönste herausgeputzt und sind supergut gelaunt. Es wird gegessen, getrunken, getanzt und ausgelassen gefeiert, dass es nur so kracht.

Hochzeit in Jerusalem
Foto: Joachim Lenz
 

Stop! Es kracht gerade nicht. Die Feier findet am Rande Jerusalems statt, wohin die Raketen der Hamas nicht reichen und wo die Hooligans beider Seiten nicht auflaufen. Hier werden das Leben und die Liebe gefeiert, Raketen und Bomben fliegen 80km weiter westlich. Da sind Angst und Elend und da wächst der Hass. Nach Mitternacht gehe ich heim, durch die verlassenen Gassen der Altstadt. Das soll man nicht tun, hat die Botschaft gesagt. Aber erstens ist alles still und zweitens wohne ich hier. Als ich später im Bett liege, höre ich Flugzeuge. Das müssen Militärjets sein, denke ich, zivil fliegt nichts in der Nähe von Jerusalem. Ich schlafe problemlos ein.

Es ist verstörend hier in diesen Tagen. Das Wort gehört eigentlich nicht zu meinem aktiven Wortschatz, ein besseres fällt mit aber nicht ein: Es ist verstörend! Der aktuelle Gewaltausbruch wird hoffentlich bald vorüber sein. Der Nahostkonflikt bleibt. Viele Menschen im Lande haben sich offenbar daran gewöhnt, bei anderen wächst der Hass. Wie soll es da besser werden? Himmel, hilf!

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