Kirche auf Kuschelkurs

Warum fällt es und so schwer, Distanz auszuhalten?
Foto: Christian Lademann

Ich kann ihn noch riechen, als wäre es gestern gewesen. Dieser Duft nach 4711, der noch tagelang in Räumen blieb, selbst wenn meine Tante schon längst wieder abgereist war. Sie war eine dieser gefürchteten Tanten, die einen immer viel zu eng an ihren weichen Busen drücken. Immer blieben Lippenstiftreste auf meiner Kinderwange hängen und dann wurde aufs Taschentuch gespuckt, um schließlich die Grenzüberschreitung perfekt zu machen. Meine Tante war herzensgut. Aber Distanz war ein Fremdwort für sie und mir graute immer ein wenig vor dem nächsten Besuch mit Kuschel-Angriff.

Meine Kirche ist manchmal auch ein bisschen so wie meine Kuschel-Angriff-Tante. Manchmal habe ich den Eindruck, es gibt so etwas wie einen Kontakt-Fetisch in unserer Kirche. So eine unbändige Lust zum Dauerkuscheln.

Schon lange reden wir in der Kirche über neue Kontaktflächen mit kirchenfernen Menschen und wir gestalten sie schon längst. Nicht selten scheint sich damit aber eine Art Geheimziel zu verbinden: die Maximierung von Nähe. Kontakt ist dann gut, wenn er sich verstetigt. Begegnung ist dann erfolgreich, wenn sie zu einer Intensivierung von Bindung führt.

Wer einmal ein gelungenes Gespräch mit einer Pfarrerin auf einer Hochzeitsmesse hatte, der soll doch dann bitteschön nicht bloß kirchlich heiraten, sondern am besten wöchentlich in den Sonntagsgottesdienst kommen oder aber sich zumindest, wenn der Nachwuchs da ist, der Eltern-Kind-Gruppe anschließen.

Kulturwandel nötig

Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen liefern uns ein hohes Maß an Differenzierungsfähigkeit hinsichtlich der unterschiedlichen Grade von Kirchenbindung. Weitestgehend ausgeblieben scheint mir allerdings eine kollektive Verständigung über die Haltungen im Hinblick auf diese unterschiedlichen Nähen und Distanzen zur Kirche. 

Rein zahlenmäßig betrachtet ist Distanz zur Kirche der Normalmodus von Mitgliedschaft. Mir stellt sich die Frage, wie wir für diese Menschen kirchliche Arbeit gestalten können und dabei ihren Modus von Mitgliedschaft eben nicht implizit als defizitären Typus wahrnehmen, sondern diese Distanz auch aushalten können ohne diese Leute zwanghaft in eine größere Nähe ziehen zu wollen.

Im Hinblick auf die Kasualpraxis haben wir in den vergangenen Jahren sorgsam gelernt, der Singularität von Begegnung und Kontakt einen Wert beizumessen. Von diesem Gelernten her muss sich ein Kulturwandel quer durch alle kirchlichen Handlungsfelder ergeben, der es ermöglicht unterschiedliche Nähen und Distanzen gleichwertig (!) zuzulassen.

Die Ressource für diesen Kulturwandel müssen wir nicht erst suchen, sondern wir haben sie längst. Die Bibel erzählt nicht nur von den Jüngerinnen und Jüngern, die Jesus eng begleitet haben, die Erzählungen sind voll von einmaligen Begegnungen. Die Bibel weiß etwas davon, dass das Evangelium immer als singuläres Ereignis erfahrbar wird. Sicher gehört zum christlichen Glauben auch Übung und Verstetigung, aber es geht auch zutiefst um Singularität. Das müssen wir neu lernen. 

So viele Menschen sind ansprechbar auf religiöse Themen, aber sie sind es eben nicht immer und ständig. Als Pfarrerin fällt es mir gar nicht so schwer diese Perspektive mal probeweise einzunehmen, denn wenn ich nicht beinahe täglich mit religiösen Fragen beschäftigt wäre, würde mir wohl die religiöse Dimension meines Lebens auch dann und wann im Alltag wegrutschen. Das ist nichts Defizitäres oder gar Bedrohliches, es ist schlicht normal. Odo Marquart hat den charmanten Gedanken der Notwendigkeit einer Entlastung vom Absoluten formuliert. Wir können uns nicht immer und ständig den großen Sinnfragen stellen, aber hier und da scheinen sie im alltäglichen Leben auf, manchmal ganz flüchtig.

Kontrollverlust als Herausforderung

Wenn meine Kollegin und ich am Himmelfahrtstag den Marburger Oberstadtaufzug in ein Himmelfahrtserlebnis verwandeln und sich diejenigen, die einsteigen mitten zwischen Wolken wiederfinden und sich selbst im Spiegel sehen mit der Überschrift „Du bist himmlisch“, dann geht es uns im wesentlichen um solche Menschen, die sich vielleicht für einen Moment ins Spiel bringen lassen, aber nur, wenn es keine weiteren Verpflichtungen nach sich zieht.

Die Pandemie zwingt uns alle zum Kontaktfasten, auch die Kirche und das fällt ihr schwer. Nicht umsonst beginnt gefühlt  jeder zweite Zoom-Gottesdienst mit einer Litanei darüber, was jetzt alles gerade nicht sein kann. Das Narrativ, wieder in Kontakt kommen zu müssen trotz Distanz ist massiv. Und es ist ja auch Richtiges daran. Es gibt ja auch eine ganze Reihe von Menschen, denen dieser Kontakt jetzt fehlt.

Die Gefahr besteht allerdings darin, dass sich durch die aktuelle Situation das kirchliche Streben nach Bindungsmaximierung verstärkt. Natürlich braucht es kirchliche Präsenz in der Krise. Aber warum nicht auch mal einen Moment die Distanz aushalten lernen? Für einen Augenblick mal nicht den wärmenden Resonanzraum einer Gruppe Hochverbundener um sich spüren, der einem immer dieses wohlige Gefühl von Bedeutsamkeit vermittelt. 

Distanz auszuhalten hat auch etwas mit Kontrollverlust zu tun. Es bedeutet, dass wir als kirchlich Aktive religiöse Angebote gestalten, die sich verselbstständigen, von Menschen in individueller und oft nicht beobachtbarer Form angeeignet werden. Letztlich geht es um die grundlegende Frage nach der Religionsfähigkeit von Kirche. Kontrollverlust ist ein harter Brocken für Institutionen, zumal wenn dieser Kontrollverlust frei und selbstlos geschehen soll. Die Kirche wird sich dieser Herausforderung stellen müssen, wenn sie mehr und anderes sein will, als eine nervige Tante auf Kuschel-Angriff.

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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