Eine Metaphysik des Tanzes. Eine Metaphysik des Schwebens. Nichts weniger. Ja, es sind Leviathationskräfte, die beim Hören der Musik von Leonard Cohen auf den Leib überspringen, aber diese Musik ist kein wildes Tier, sondern sie tritt behutsam näher, wirbt zumeist scheu darum, den Raum zu füllen.
Nicht nur im Alterswerk, sondern bereits seit den Anfängen spürt man die Schwere gelebten Lebens, einen dunklen Grundton, der mitschwingt, der erschreckt und zugleich fasziniert, weil die mitreisende Freude doch die Oberhand gewinnt. Richtig. Man kann dieser Musik trauen, sich fallen lassen, um erhoben zu werden. Diese Dialektik, die allein durch die tragende Stimme ausgelöst wird, funktioniert auch dann, wenn man nicht präzise den Texten folgt. Die hermeneutische Kunst von Uwe Birnstein besteht darin, den spirituellen Kern der Texte behutsam ans Licht zu heben. Und die poetisch-religiöse Qualität, verdichtet präsentiert, lässt mächtig staunen.
Weil Birnstein die Biografie nur auf die spirituellen Schlüsselsituationen hin ablauscht, ist ein schmales, aber enorm erhellendes Buch entstanden. Cohens früh verstorbener Vater hatte bestimmt, zur Bar Mizwa solle der junge Leonard die in Leder gebundenen Bücher des mittelalterlichen Dichters Geoffrey Chaucer, die Werke von William Wordsworth und Lord Byron aus der Familienbibliothek geschenkt bekommen. (Heute traut sich niemand mehr, solche Geschenke zur Konfirmation zu machen, Geld oder digitale Technik, bitteschön). Fünfzehnjährig entdeckt Leonard in einem Antiquariat Gedichte von Federico García Lorca und dessen Seelengefährte Walt Whitman, diese Texte, die eine sexuelle Erfahrungsreise mit dem Gottesglauben in Verbindung bringen wollen, prägen neben der Bibel – er sei, so notiert er, „geboren im Herzen der Bibel“ – seine Textarbeit. Der tanzende und singende König David wird ihm zur Identifikationsfigur. Ein Psalm Cohens, vorzusingen.
Flowers for Hitler ist sein dunkelstes Buch, das mit Sarkasmus nicht spart. Leonard Cohen trifft sich zum Gespräch mit Hitler und ermahnt ihn wie ein pubertierendes Kind: „Bleib nicht die ganze Nacht wach und schau nicht Paraden auf Late-Night-Shows!“ Fünfzig Jahre später wirft dieser Satz ein helles Schlaglicht auf die aktuelle Situation in Amerika: Donald Trump, so wird kolportiert, habe begeistert vor dem Fernsehen gesessen, als seine Anhänger zum Capitol marschierten und den Aufstand machten. Cohens späterer Welthit „Dance me to the End of Love“, ein Favorit zur atmosphärischen Einstimmung auf Hochzeitsfeiern, hat, wie er in einem Interview verrät, einen dunklen Ursprung, denn in den Konzentrationslagern wurde von einem Streicherquintett aufgespielt, wenn die Nazis ihre Morde begingen. Birnstein spricht vom „Liebestanz im Feuerofen“.
Und auch das. Cohen will endlich die Lust im Christentum, mit dem er sich, wie auch mit dem Buddhismus, lange sympathisierend auseinandersetzte, heimisch machen: „Denk dran, als ich mich in dir bewegte, da bewegte sich mit uns der Heilige Geist. Und jeder unserer Atemzüge war ein Hallelujah.“ Ziemlich forsch. Und nicht ganz ohne Komik vorstellbar.
Seine letzte CD habe ich einen ganzen Vormittag, als die Meldung seines Todes kam, in einer Endlosschleife angehört und noch vor dem Mittagskaffee heiter getanzt. Thanks for the dance.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.