Wiedergabe einer Gesprächssequenz im Seniorenkreis: Eine Frau sagt: Wir sind Vertriebene, keine Flüchtlinge. Das ist etwas ganz Anderes. Eine zweite, mit gleichem Kindheitsschicksal, meint darauf: Aber man muss diesen Menschen doch helfen.
Wer sich fragt, wie es solche Differenzen unter Christen geben kann, der ist nach der Lektüre des vorliegenden Sammelbandes klüger. Denn die klare kirchenleitend-ökumenische Option für Schutzbedürftige 2015, die überzeugende „Evidenz und Mobilisierungskraft des biblischen Ethos“ sowie das seitherige Engagement vieler Christen in der Geflüchtetenhilfe sind nicht selbstverständlich. Schon die kirchliche Zustimmung zum sogenannten Asylkompromiss von 1993 als „Beitrag zum inneren Frieden der Gesellschaft“ verweist auf eine Gegenbewegung, in der nationale Interessen die Weite des christlichen Ethos begrenzen.
Die stärker systematischen wie die historischen Einzelbeiträge des Bandes lassen zwar eine gewisse Entwicklung hin auf „eine global ausgerichtete, authentisch christlich und humanitär agierende Kirche“ erkennen. Doch scheint die Ambivalenz bei diesem Thema immer wieder durch. Sei es bei der Remigration von traditionalistischen Böhmischen Brüdern aus Polen und der Ukraine in ihr „Vaterland“ nach 1945. Sei es bei der letztlich erfolgreichen Integration gutausgebildeter koreanischer Krankenschwestern, über die es in einer Aktennotiz des Diakonie Bundesverbandes 1966 hieß: „Nach anfänglichen Missverständnissen (sie hielten es nicht für ihre Pflicht, einmal mit dem Staubtuch über den Nachttisch zu fahren, sondern fühlten sich als Arzthelferinnen) seien sie freundlich, sauber, ehrlich und anstellig.“
Der Blick in die Zeitgeschichte offenbart immer wieder Muster und Stimmungen, die auch heute zu beobachten sind. Die Appelle der Augsburger katholischen Bischöfe zur Solidarität mit Flüchtlingen und Vertriebenen liefen bereits 1945 oft ins Leere – auch bei engagierten Gläubigen. Und schon 1949 stellte sich für den hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje die Frage: Können die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren oder nicht? Verbunden mit der Unsicherheit, „ob es bei der kirchlichen Flüchtlingsarbeit um interimistische Hilfe geht oder ob eine komplexe Integrationsaufgabe ansteht“.
Ebenso interessant ist die These, dass die eher positiv konnotierte Entdeckung des Islam als Religion im christlich-muslimischen Dialog der 1970er- und 1980er-Jahre sich heute in ihr Gegenteil verkehrt hat. Jetzt wird die „religiöse Zugehörigkeit zum Islam“ oftmals zum „Integrationshemmnis“ stilisiert.
Dass der Band ein Fragezeichen hinter die Hauptüberschrift setzt, ist daher berechtigt. Nicht nur aufgrund des schwammigen Begriffs Willkommenskultur, sondern auch wegen der damit verbundenen pauschalen Selbstzuschreibung. Deutschland ist ein Land, in dem momentan „eine auf Großzügigkeit und Humanität angelegte Migrationspolitik in weite Ferne gerückt zu sein scheint“ und in dem etwa das „Kirchenasyl als Akt christlicher Solidarität“ weiter von Bedeutung sein wird. Auch „die seit Jahrzehnten erhobene Forderung nach einem Einwanderungsgesetz“ ist – noch immer – „nicht umgesetzt“.
Die Integration von Migranten bleibt ein wichtiges Handlungsfeld christlicher Akteure. Sie „reißt“, wie nach 1945, „die volkskirchliche Normalfrömmigkeit aus ihrer Komfortzone“.
Sebastian Kranich
Sebastian Kranich ist Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen.