„Ich will, daß du seiest, was Du bist“
„In der caritas lebend wird die Welt zur Wüste statt zur Heimat.“ So greift Hannah Arendt Augustins Vorstellung der Liebe direkt an. Was das bedeutet und warum sie das tut, das erforscht Rosa Coco Schinagl.
Zum Thema meiner Dissertation kam ich mehr oder weniger durch Zufall: Mir fiel im ersten oder zweiten Semester meines Studiums der Evangelischen Theologie ein Mängelexemplar der Anfang der Nullerjahre erstmals komplett und unverändert veröffentlichten Dissertation der Philosophin und Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt (1906 – 1975) in die Hand. Der Titel: „Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation“. Augustin interessierte mich als Kirchenvater, Liebe stellte ein spannendes Thema dar, jedoch das Wichtigste war, dass es von Hannah Arendt verfasst wurde. Ich habe angefangen, darin zu lesen, aber es bald wieder weggelegt, weil das Lesen mir schwerfiel, auch wegen der vielen lateinischen und griechischen Originalzitate darin.
Dabei habe ich eigentlich auch deshalb angefangen, Evangelische Theologie zu studieren, weil mich gerade die alten Sprachen und das klassische Studium unter anderem mit Philosophie und Geschichte reizten – ebenso „das Unsagbare“ und Menschliche, dem man in diesem besonderen Studium nachspürt.
Einige Jahre nach Beginn des Studiums interessierte ich mich zunehmend für das Thema Liebe – und da fiel mir das Buch Arendts wieder ein: Ich schrieb über ihre Dissertation meine Masterarbeit und wurde von meinen Professoren ermutigt, daraus ein Promotionsprojekt zu entwickeln. Zuerst war ich demgegenüber skeptisch, aber langsam fand ich Gefallen an einem eigenen Dissertationsprojekt über die Liebe. Eine Dissertationsförderung durch Villigst unterstützte mich bei meinem Vorhaben.
Damals war Arendt noch nicht in aller Munde, das kam erst etwa ab 2012, nicht zuletzt wegen des Films von Margarethe von Trotta, dem Erstarken rechtspopulistischer Regierungen und der Geflüchteten aus Syrien. Mich interessierte neben dieser faszinierenden Frau auch die Weimarer Republik, in der ihre Dissertation entstand. Aber es ging mir vor allem um die große Denkerin Arendt. Deshalb mein Thema: Hannah Arendts Denken im Kontext der Weimarer Republik – Ihre Kritik am Liebesbegriff als Gesellschaftskritik.
Als Arendt mit 22 Jahren ihre Dissertation über Augustin (354 – 430) bei Karl Jaspers in Heidelberg im Fach Philosophie abschloss, war der spätantike Philosoph und Theologe gerade in der akademischen Welt stark en vogue. Das lag vielleicht an dem 1 500. Jahrestag seines Todes, womöglich auch daran, dass der Kirchenvater in einer Zeit des Übergangs lebte, was vielen Gelehrten der Weimarer Republik in ihrer Zeit ähnlich vorkam.
Ich finde es zweifelhaft, dass Arendts „Frau-Sein“ in der Forschung oft eine so prominente Rolle spielt. Unglücklich finde ich auch, dass Arendts Dissertation fälschlicherweise oft als eine Reaktion auf die am Ende unglückliche Beziehung mit dem Philosophen Martin Heidegger (1889 – 1976) gelesen wird. Das wurde bereits zu stark und ohne Belege in ihre Dissertation hineingelesen und bestimmte deren Rezeption fast ausschließlich. Wer liest schon Heideggers Werk biografisch mit Blick auf seine weiblichen Liebesbeziehungen? Auch spielte für ihre Beschäftigung mit Augustin weniger der Augustin zugeschriebene Satz „Amo: Volo ut sis“ aus einem Brief Heideggers 1925 („Amo heißt volo ut sis, sagte einmal Augustin: ich liebe Dich – ich will, daß du seiest, was Du bist.“) eine Rolle, sondern eher die Tatsache, dass sie mit dieser Arbeit über Augustin eine akademische Laufbahn plante.
Ich untersuche und interpretiere Arendts Dissertation quellenbasiert. In ihrer Dissertation schreibt Arendt den durchaus provokanten Satz: „In der caritas lebend wird die Welt zur Wüste statt zur Heimat.“ Damit greift sie Augustins Vorstellung der Liebe direkt an. Arendt konstatiert, dass der christliche Liebesbegriff die Menschen in die Isolation führe, da der Mensch nach Augustin lediglich zu Gott strebe. Bei dieser Strebebewegung vergesse der Mensch die Gemeinschaft – und die Welt verkomme zur Wüste, weil die horizontale Ebene Mensch-Mensch im Gegensatz zur vertikalen Ebene Gott-Mensch an Relevanz verliere.
Auch die Nächstenliebe hat Arendt zufolge den Nächsten nicht wirklich im Blick, denn durch ein gestärktes Selbst, das durch das Bewusstwerden des eigenen Selbst gefördert wird, wird der Andere zum Anlass genommen, um Gottes Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen. Das alles mit dem Ziel, schließlich nach dem Tod im ewigen Heute zu verweilen, wodurch der Mensch die „Gegenwart vernachlässigt“. Seinen Nächsten aber stoße er durch dessen Nivellierung, eben als bloßes Mittel zum Zweck der Nähe zu Gott, mit in die Isolation. Als Resultat, so Arendt, werde die Welt zur Wüste – unbewohnbar. Die Philosophin konstatiert, dass „erst die Liebe zur Welt … coelum et terra zur Welt“ macht und damit essentiell für eine Gesellschaft ist.
Zu fragen wäre etwa, wie weit solche indirekte Mahnung Arendts zur Hinwendung zum Menschen, in die Politik und Gesellschaft (und eben keine Weltabgewandtheit) auch aus ihrem jüdischen Hintergrund zu verstehen ist, da dort die Gemeinschaft Priorität hat – aber die Frage nach Arendts jüdischen Einflüssen auf ihre Theorien ist nicht Teil meines Dissertationsprojektes. Jedoch wird bereits in ihrer Dissertation deutlich: Arendt geht es immer um eine vita activa, ein aktives Leben im Hier und Jetzt, wobei sie das Denken immer als Teil eines für die Gesellschaft aktiven Lebens begreift.
Ich glaube, dass Arendt in ihrer Dissertation schon die Grundlinien ihrer Philosophie/politischen Theorien und ihrer Weltanschauung anklingen lässt, nämlich einer Liebe zur Welt, die es demokratisch zu gestalten gilt.
Mir würde es gefallen, wenn ich durch meine Dissertation dazu beitragen könnte, dass der wissenschaftliche Begriff von Liebe und das darin liegende Potenzial wieder mehr in der Theorieentwicklung an Bedeutung gewinnen könnte – ähnlich den Konzepten von Solidarität, Verantwortung, Respekt oder Hoffnung, die wieder stark in Mode gekommen sind. Bei Arendt hingen am Ende alle ihre Theorien zusammen und bedingten sich gegenseitig – ein ewiger Prozess des Denkens. Sie hat erkundet, was es heißt, liebend zu leben. Was sie unter Liebe begriff, ist wert, diskutiert zu werden, um Gesellschaftsstrukturen zu verstehen und Wandel zu ermöglichen. Gerade heutzutage, in der die Erde die wohl größten Umbrüche erleben wird, die durch unser Handeln – oder nicht Handeln – bestimmt sind.
Aufgezeichnet von Philipp Gessler
Rosa Coco Schinagl
Rosa Coco Schinagl ist Theologin. Sie lebt in Berlin.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.