Gibt denn keiner Antwort?

Entdeckungen zum 100. Geburtstag: Wolfgang Borchert und Dietrich Bonhoeffer
Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin: Volker Lösch inszeniert 2013 das Nachkriegsdrama „Draußen vor der Tür“ mit Gesprächen deutscher Soldaten.
Foto: dpa
Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin: Volker Lösch inszeniert 2013 das Nachkriegsdrama „Draußen vor der Tür“ mit Gesprächen deutscher Soldaten.

Krieg und Krankheit kennzeichneten sein kurzes Leben. Wolfgang Borchert wurde vor einhundert Jahren am 20. Mai 1921 geboren. Seinen größten Erfolg erzielte er mit seinem Drama „Draußen vor der Tür“. Der Hamburger Theologe Hans-Jürgen Benedict stellt den Repräsentanten der sogenannten Trümmerliteratur vor.

Wir sind die Generation ohne Bindung und Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund.“ So lautet eine Inschrift auf dem Hamburger Denkmal für Wolfgang Borchert (1921 – 1947), dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt. Sein Theaterstück Draußen vor der Tür ist ein Klassiker. Einige seiner Geschichten gehören bis heute zur Schullektüre. Borchert gilt als der Dichter der „verlorenen Generation“, der Kriegsteilnehmer. Er wird am 20. Mai 1921 in Hamburg als einziger Sohn eines Volksschullehrers und einer niederdeutschen Schriftstellerin geboren, schreibt früh Gedichte, beginnt eine Buchhändlerlehre, nimmt Schauspielunterricht. Am 21. März 1941 legt er die Schauspielerprüfung vor der Reichstheaterkammer ab. Gerade mal drei Monate ist er an der Landesbühne Osthannover in Lüneburg engagiert, bevor er zum Militärdienst eingezogen wird und im Oktober an die Ostfront kommt. Nach einer Schussverletzung an der linken Hand wird er im Februar 1942 zunächst in das Heimatlazarett Schwalbach verlegt. Doch im Mai wird er wegen des Verdachts der Selbstverstümmelung verhaftet und in das Militärgefängnis Nürnberg überführt. Dort wartet er drei Monate, das drohende Todesurteil vor Augen, auf seinen Prozess, wird aber von einem verständnisvollen Militärrichter überraschend freigesprochen. Kurz darauf kommt er wegen regimefeindlicher Äußerungen in Briefen erneut in Haft und wird zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Die Strafe wird in sechs Wochen verschärfte Haft mit anschließender Frontbewährung umgewandelt.

Im Dezember folgt ein erneuter Einsatz an der Ostfront, er wird mit Fußerfrierungen und Anfällen von Gelbsucht ins Seuchenlazarett Smolensk eingeliefert, dann in ein Heimatlazarett am Harz. Wieder frontdiensttauglich bringt Borchert eine Goebbels-Parodie erneut ins Gefängnis. Wegen Wehrkraftzersetzung. Er sitzt fast ein Dreivierteljahr im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Moabit, wird zu neun Monaten verurteilt, erhält Strafbewährung zwecks Feindeinsatz, diesmal schon in Deutschland, wird durch französische Truppen 1945 gefangen genommen, kann fliehen, schlägt sich nach Hamburg durch, wo er im Mai schwerkrank ankommt. Er versucht im Deutschen Schauspielhaus als Regieassistent zu arbeiten. Dann bricht er zusammen. Von Januar bis April 1946 ist er im Hamburger Elisabeth-Krankenhaus, danach pflegen ihn die Eltern zu Hause. Hier schreibt er sich seine Gefängnis- und die Kriegserlebnisse von der Seele – Die Hundeblume, Unser kleiner Mozart, Jesus macht nicht mehr mit. Im Spätherbst entsteht in wenigen Tagen das Stück Draußen vor der Tür, das so beginnt: „Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging.“ Einer, der von allen abgewiesen wird, den selbst die Elbe, als er Selbstmord machen will, wieder ausspuckt. Und das Stück endet: „Wo ist der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet ihr denn nicht? Wo seid ihr denn alle? Gibt denn keiner Antwort?“

Das Stück über den Kriegsheimkehrer Beckmann, der sich in seiner zerstörten Vaterstadt nicht mehr zurechtfindet und Gott und die Welt anklagt, vom NWDR im Februar 1947 als Hörspiel gesendet, findet eine große Resonanz. Eine Flut von Briefen und Karten trifft beim Sender ein, viele sagen, Borchert spreche aus, was sie erfahren hatten, aber nicht zu formulieren verstanden. Borcherts Erkrankung wird schlimmer. Im September 1947 kommt er ins St. Claraspital in Basel. Doch auch die Schweizer Ärzte können ihm nicht mehr helfen. Er stirbt am 20. November 1947. Einen Tag später erfolgt die Uraufführung von Draußen vor der Tür an den Hamburger Kammerspielen. Am 17. Februar 1948 wird die Urne mit seiner Asche auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg beigesetzt. Ein kurzes, von Krieg und Leid geprägtes Leben.

Borchert musste, wie die meisten seiner Generation, Soldat werden. Er wurde in den grausamen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geschickt. Er gehörte zu der „verlorenen Generation“, wie sie sich selbst nannte. Und er wurde der erste große Dichter der „Kahlschlagliteratur“. Seine Erzählungen erfassten die unmittelbare Nachkriegsmentalität genau, die Verdrängung der eigenen Schuld im Kampf ums Überleben. Das Leiden, das anderen Völkern von den Deutschen, von der deutschen Wehrmacht millionenfach angetan wurde, klammerte er dabei aus. Kein Wort von dem Vernichtungsfeldzug im Osten, der 22 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete.
Kein Wort von der Vernichtung von sechs Millionen Juden. Es gibt bei Borchert eine Tendenz, seine Generation pauschal von aller Schuld zu entlasten. Hierin liegt wahrscheinlich auch ein Grund für seinen großen Ruhm in der Nachkriegszeit. Klage statt Anklage, Selbstmitleid, poetisch-dramatisch, statt genauer Ursachenanalyse. Immer wieder das larmoyante Beharren darauf, Opfer zu sein. Sicher, Borchert hasste das Nazisystem und machte sich unter Gefahr für das eigene Leben darüber lustig. Doch in vielen Erzählungen dominiert die Perspektive der Täter als – Opfer. Aber es gibt eine ganz wichtige Ausnahme, das ist sein kompromissloser Antimilitarismus.

Religiöser Dichter

Lakonisch-sarkastisch findet er sich in den Lesebuchgeschichten: „Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter. Warum nicht, fragte der Soldat.“

Mitreißend-aufrührerisch sagt er es in seinem großen Sag-Nein-Gedicht, einer Kampfansage an Krieg und Kriegsvorbereitung, sein letzter Text, in der Schweiz auf dem Krankenlager verfasst: „Du Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt: Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen, sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!“

Und so weiter – in 14 Beschwörungen NEIN zu sagen unter allen Umständen, wenn jemals wieder zum Krieg gerüstet werden sollte, klagt er das ein, was Dietrich Bonhoeffer bereits 1934 in Fanö von der Kirche gefordert hatte: Sie möge ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus den Händen schlagen. Dieser Sag-Nein-Aufruf, dies Vermächtnis Borcherts, der in Zeiten der Friedensbewegung häufig zitiert wurde, wird Bestand haben. Und bleiben werden auch die Geschichten, die von Menschlichkeit in grausamen Zeiten handeln. Etwa Nachts schlafen die Ratten doch. Ein kleiner Junge, der sich nicht wegtraut von dem im Bombenhagel eingestürzten Haus, unter dem sein verschütteter Bruder liegt. Er möchte die Ratten von ihm fernhalten, die Ratten, die von den Toten essen. Da sagt der Mann, der ihn gefragt hatte, was er denn hier tue: „Ja, hat euch euer Lehrer denn nicht gesagt, daß die Ratten nachts schlafen.“ Mit dieser Notlüge hilft er dem Jungen, endlich loszulassen und sich dem Leben zuzuwenden. Und er verspricht ihm ein kleines Kaninchen. Anrührend auch die Weihnachtsgeschichte Die drei dunklen Könige, in der drei abgerissene Männer in Soldatenuniformen einem neugeborenen Kind und seinen Eltern kleine Geschenke machen – einen geschnitzten Esel, eine Zigarette für den Vater, zwei Bonbons für die Mutter – und dann still weiterziehen. Oder in Das Brot die Notlüge eines Ehemanns, der nachts aufsteht, um sich heimlich das letzte Stück Brot zu holen – was von der Frau ertragen wird, um ihm die Scham zu ersparen. Wunderbar die heitere Erzählung Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels über zwei Menschen unterschiedlicher Herkunft, der joviale, gutgestellte Onkel des Erzählers und der kleine, geduckte Kellner. Sie haben den gleichen Zungenfehler, können kein scharfes S sprechen. Nach anfänglicher Fehldeutung, einer wolle den anderen aufziehen, erkennen sie sich als Brüder im Leiden.

Borchert hat sich einmal in einem Selbstinterview als „religiösen Dichter“ bezeichnet. Wieso? Bei Borchert ist häufig kritisch von Gott die Rede. In Borcherts Erzählung Die Kegelbahn heißt es: „Dann sagte der eine: Aber Gott hat uns so gemacht. Aber Gott hat eine Entschuldigung, sagte der andere, es gibt ihn nicht. Das ist seine einzige Entschuldigung …“ Oder in dem Fragment Generation ohne Abschied, einem Versuch, die Lage der verratenen Generation zu beschreiben: „Aber sie gaben uns keinen Gott mit, der unser Herz hätte halten können, wenn die Winde der Welt es umwirbelten. So sind wir die Generation ohne Gott, denn wir sind die Generation ohne Bindung, ohne Vergangenheit, ohne Anerkennung …“ Borcherts Äußerungen sind von einer seltsamen Ambivalenz bestimmt. Einerseits sagt er angesichts des sinnlosen Weltzustandes: „Es gibt keinen Gott.“ Andererseits wünscht er sich einen Halt, einen Sinn gebenden Grund. Beckmann klagt in Draußen vor der Tür über das Alleingelassensein, schreit: „Wo warst du eigentlich, als die Bomben brüllten, lieber Gott?“

Und dann gibt es bei Borchert ein pantheistisches Lebensgefühl. In seiner Erzählung Die Hundeblume bringt ein Gefangener vom Rundgang eine kleine Löwenzahnpflanze mit in seine Zelle: „Er trug sie behutsam wie eine Geliebte zu seinem Wasserbecher, stellte das erschöpfte kleine Wesen da hinein, und dann brauchte er mehrere Minuten – so langsam setzte er sich, Angesicht in Angesicht mit seiner Blume. Er war so gelöst und glücklich, dass er alles abtat und abstreifte, was ihn belastete: die Gefangenschaft, das Alleinsein, den Hunger nach Liebe, die Hilflosigkeit seiner zweiundzwanzig Jahre, die Gegenwart und die Zukunft, die Welt und das Christentum – ja, auch das!“

Diese Formulierung erinnert an eine Aussage Bonhoeffers aus den Gefängnisbriefen im Jahr 1944. „Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute eigentlich für uns ist. Die Zeit, in der man alles den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber (…) Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen(…) Wir müssen leben ohne die Arbeitshypothese Gott.“ Was ich entdeckte: Ein paar Monate waren sich die beiden so unterschiedlichen und doch von ähnlichen Fragestellungen bewegten Menschen räumlich sehr nah. Anfang 1944 wird Borchert in das Untersuchungsgefängnis Lehrter Straße in Berlin-Moabit eingeliefert, gar nicht so weit entfernt von der Haftanstalt Tegel, wo Bonhoeffer einsitzt. Wir wissen aus Bonhoeffers Briefen, dass ihn das Schicksal der jungen Soldaten, wie Borchert einer war, in Tegel besonders beschäftigte. Häftlinge, die wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe, wegen Zersetzung der Wehrkraft oder Sabotage einsaßen und in dieser Lage ohne kundige Beratung und oft ohne Mittel für einen Verteidiger blieben – mit dem Tod als sicherem Schicksal vor Augen. Bonhoeffer versuchte auf verschiedene Weise, diesen jungen Männern zu helfen, durch Vermittlung eines Rechtsbeistandes und Geldzuwendungen für juris-tische Beratung, und konnte so auch einige Häftlinge vor dem Schlimmsten bewahren.

Bonhoeffer findet Trost im Leiden Christi: „Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade nur so ist er bei uns und hilft uns.“ Borcherts Problem ist, dass er im Leiden Jesu keinen Trost, keine Ermutigung und schon gar nicht Gott wiederfinden kann. Er lässt Beckmann in Draußen vor der Tür sagen: „Du bist tot, Gott. Sei lebendig, sei mit uns lebendig, nachts, wenn es kalt ist, einsam und wenn der Magen knurrt in der Stille – dann sei mit uns lebendig, Gott.“ Aber sogleich die Enttäuschung: „Ach, geh weg, du bist ein tintenblütiger Theologe, geh weg, du bist weinerlich, alter, alter Mann.“ Die Wortwahl zeigt, dass Borchert etwas von der Paradoxie kennt, die Bonhoeffer mit dem „Gott ist ohnmächtig und schwach“ beschreibt. Auch Borchert weiß von einem mitleidenden erschütterten Gott, allerdings mit dem Hang zum Weinerlichen. Das ist ihm zu wenig. Dieser Gott gibt keinen Halt.

Eine letzte, unvermutete Nähe zwischen Bonhoeffer und Borchert tritt in der Schlussstrophe von Bonhoeffers bekanntestem Gedicht und dem kurzen Credo Borcherts zu Tage. Bonhoeffer schrieb zum Jahreswechsel 1944/45, nun schon in der Haft des Reichssicherheitshauptamtes der SS: „Von guten Mächten wunderbar geborgen / Erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist mit uns am Abend und am Morgen / Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Borchert aber bekannte: „Was morgen ist, auch wenn es Sorge ist, ich sage: Ja.“

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"