Vom Mut zur Wut

Christlich glauben in verletzlicher Zeit – Gedanken am Karsamstag
Kreuz auf dem Feldberg/Hessen
Foto: epd / Norbert Neetz
Kreuz auf dem Feldberg (Hessen)

Der Karsamstag ist der Tag dazwischen. Zwischen der Totenklage am Karfreitag und dem Auferstehungsjubel am Ostersonntag. Ein Tag für Gedanken „zwischen den Zeiten“. Der Bochumer systematische Theologe Günter Thomas, der vor einem Jahr auf zeitzeichen.net eine erste „Corona-Theologie“ entfaltete, zieht ein Jahr später erneut Bilanz.

Die Corona-Krise ist kein Offenbarungsereignis. Aber sie irritiert. Sie gibt etwas zum Denken, auch zum Denken des Glaubens. Das Nachdenken in den Kirchen weltweit beginnt erst. In diesem Fragen und Nachdenken bewegen wir uns in einem Dämmerlicht, in dem oft nicht ganz klar ist, was wieder gefunden und wieder entdeckt wird und was neu geschaffen wird.

„Verletzlich zu sein, in jedem Augenblick unseres Lebens, ist ein Grundzug menschlicher Lebenserfahrung. Verletzlichkeit wahrzunehmen, sie zu deuten und mit ihr umzugehen, ist eine zentrale Aufgabe christlicher Lebenskunst und Theologie“, so formuliert die Baseler praktische Theologin Andrea Bieler. Dass wir alle, stets und unvermeidlich verletzlich sind, daran erinnern uns immer wieder bestimmte, ganz konkrete und sehr verschiedene Situationen der Verletzlichkeit, ja, der Verletzung. So unterscheidet die feministische Philosophin Erinn Gilson. Wer verletzlich ist, kann verwundet werden. Corona hat konkrete Verletzlichkeiten offen gelegt, hat uns verwundet.

Zu bedenken an diesem Karsamstag sind drei Verletzlichkeiten, die uns als Kirche herausfordern: Die spirituelle Verletzlichkeit der Christen, die biologische Verletzlichkeit der Menschen und die organisatorische Verletzlichkeit der Kirche. Drei Verletzlichkeiten, drei Verwundungen.

1. Die spirituelle Verletzlichkeit der Christen: Über ein Jahr Corona-Krise zerren an den Nerven. Die Kirchen, viele hundert Gemeinden bemühen sich mit Kräften, mit vielen Ideen und Initiativen um Solidarität und gelebte Mitmenschlichkeit. Geistliche spenden digital und in maskenbewehrter Präsenz Trost und verweisen auf das Mitleiden Gottes, auf seine Nähe im Leid und in der Not.

Von vielen Kanzeln und in vielen Videos ist zu hören, dass Corona keine Strafe Gottes sei. Ich kenne niemanden, der jetzt den sonst so gerne aufgerufenen Propheten Amos zitiert: „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tut?“ (Amos 3,6) Und das ist gut so. Aber je länger die Pandemie anhält, umso bedrängender werden die Fragen: Ist das alles, was zu sagen ist? Bieten die Kirchen mehr als Mitmenschlichkeitsmanagement – so wichtig und gut, so Jesus entsprechend dies zweifellos ist? Reicht die Botschaft: Gott liebt und begleitet, schwach und selbst in Not?

Theologisch wenig beunruhigt

Warum erscheinen die Kirchen theologisch so wenig beunruhigt, irgendwie so eigentümlich spirituell tiefenentspannt – bei aller Beunruhigung in Sachen Organisation und Finanzen. Wir sollten aufmerksam zuhören, wenn der hellsichtige Bielefelder Soziologe Rudolf Stichweh bereits vor knapp einem Jahr in der FAZ schrieb: „Die Religion könnte sich als der eigentliche Verlierer der Corona-Krise erweisen. […]“ Für Stichweh ist bemerkenswert, „dass dem Anschein nach nirgendwo religiöse Deutungsvarianten des durch das Virus ausgelösten Krisengeschehens verfügbar sind und eine relevante Rolle spielen.“

Stichwehs Warnung sollte nicht leichtfertig beiseitegeschoben werden, denn es gibt ja Menschen, die sich fragen: Warum? Wo ist Gott? Gibt es in Corona Gerechtigkeit, und wenn nicht jetzt, wann dann? Warum dieses Verhängnis? Das fragen nicht nur die religiös Unmusikalischen, die halb spöttisch, halb neugierig auf der Seitenlinie des kirchlichen Feldes stehen. Das fragen die, die eben noch mit Paul Gerhardt gesungen haben: „Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht, / laß fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht; / bist du doch nicht Regente, / der alles führen soll, / Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl.“ (EG 361.7).

Paul Gerhardt provoziert. Aber ich fürchte, viele provoziert er gar nicht mehr – weil sie sich bei kühlen Weißwein und veganem Schnitzel schon ganz mit der Abwicklung eines rettend-fürsorgenden Gottes versöhnt haben. Für manche anderen aber gilt: Paul Gerhardt lässt erkennen, wie trostlos und spirituell verletzt uns die Pandemie gemacht hat und macht.

Was ist zu tun? Einfach trotzig dagegen halten, alte Einsichten verbissen nachsprechen? Natürlich nicht. Um mit unserer spirituellen Verletzung umzugehen, sollten wir uns dem „Gebetbuch der Bibel“ zuwenden, den Psalmen. Dort tritt Glaube in mehreren Gestalten auf, wie die verschiedenen Gestalten des Gebets.

Es gibt Momente, da suchen wir eine Adresse für unseren Dank und finden sie in Gott. Verwickelt in den kleinen und den großen Alltag der Welt lebt der Glaube in der Gestalt der Bitte. „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot, um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod“, so formulierte Dietrich Bonhoeffer im Juli 1944. Besonders in Liedern und in der Aneignung fremder Texte überschreiten Christen den Dank hin auf das Lob Gottes. Verloren gegangen ist uns aber die Klage, die doch so wesentlich ist für die Psalmen. Die Klage aber, ist die Glaubensgestalt spirituell Verwundeter. Daran erinnert das Gebetbuch der Bibel. Und: Corona hat uns spirituell verwundet.

„Erlöse uns von dem Bösen“

Mit einem seelsorgerlich und theologisch scharfen Blick drängt N.T. Wright, der langjährige Bischof von Durham, in seinen Überlegungen zur Corona Pandemie darauf, „dass wir die Klage als die entscheidende erste christliche Antwort auf diese Pandemie annehmen sollten. Ungefähr ein Drittel der Psalmen beklagt, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Die Worte, die sie verwenden, sind Worte der Beschwerde: der Frage, des Kummers, des Zorns und der Frustration und, oft genug, der Bitterkeit. Sie sind alle Teil des Gebetbuchs von Jesus selbst, und das Neue Testament greift frei auf sie zurück, um nicht nur unsere eigenen Klagen auszudrücken, sondern auch den Weg Jesu.“ So Wright. Mit Jesus rufen wir in jedem Vaterunser klagend „erlöse uns von dem Bösen“. Wer kennt nicht Situationen, in den wir nicht anders können als unverschämt und bitter zu sagen: „und führe uns nicht in Versuchung“ (Matthäus 6,13)?

Wahrscheinlich können nur spirituelle Übermenschen so singen, wie Dietrich Bonhoeffer einst im Gestapogefängnis dichtete: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bitteren, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern, aus Deiner guten und geliebten Hand“? Wer ist zu diesem Heldentum heute in der Lage? Jesus im Garten Gethsemane war es nicht. Er hat gezittert. „Lass diesen Kelch an mir vorüber gehen“. Der Jesus am Kreuz, dessen wir uns besonders am gestrigen Karfreitag erinnern, auch nicht. „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“? Die neutestamentliche Gemeinde, die angesichts der unbestreitbaren Kluft zwischen der Auferweckung von den Toten und ihren aktuellen Erfahrungen „Maranatha!“, „Oh Herr komm bald“ ruft, die ist dazu nicht in der Lage. Auch Jesus weint angesichts des toten Lazarus. Das Klagen gegen Gott zuzulassen, erfordert Mut, aber viele Menschen warten auf diesen Mut. Auch der Geist Gottes wartet auf diesen Mut zur Wut.

In Corona-Zeiten und auch danach brauchen wir Klagemauern. Wir brauchen tausend Ritzen, in die Menschen so heimlich wie öffentlich ihren Verzweiflungsglauben stecken können, nicht Helden spielen müssen und am Ende nicht zu Stoikern werden. Wenn die christlichen Kirchen das Hadern, die leisen und stummen Klagen, die Bitterkeit und die enttäuschten Hoffnungen nicht öffentlich als Gottesklage aufnehmen und ihnen praktische Ausdrucksformen geben können, dann werden sie, so fürchte ich, wirklich die großen Verlierer der Corona-Krise sein.

Aber für viele, innerhalb wie außerhalb der Kirche, hat Klage gar keinen Sinn mehr, weil die Adresse der Erwartung, der lebendige Gott, abhanden gekommen ist. Moralisches Heldentum hat den rettenden Gott, die Adresse der Klage, lächelnd entsorgt. „Gott wird uns nicht retten“, hörte man es selbst in Berlin im Dom, als die Klimaaktivistin Luisa Neubauer dort kürzlich predigte. Klar, wenn das so ist, dann ist auch die Klage sinnlos. Dann wachsen Landschaften einer sich radikalisierenden Trostlosigkeit, versteckt hinter wuchtigen Selbstermutigungsgesten.

Respekt, nicht nur Applaus

Wenn aber die Kirche im Licht des Ostermorgens in dieser Weltkrise zur Gottesklage findet, dann lebt sie jesuanisch. Dann gewinnt sie Respekt und nicht nur Applaus. Dann verzichtet sie auf Durchhalteparolen. Dann lebt sie im Versprechen des Geistes Gottes, der mit ihr, bei ihr und in ihr seufzt (Römer 8). Als Ort der seufzenden Geistesgegenwart sammelt die Kirche nicht die Helden, sondern die Mühseligen und Beladenen. Dann sammelt sie die, die nicht die Kraft haben, aus ihrer Verletzung eine Waffe zu machen. Dann widersteht sie der mächtigen Versuchung, in einen halb römischen, halb germanisch-lutherischen Schicksalsglauben abzugleiten.

Der Psychologe Paulus von Tarsus sieht im Ersten Korintherbrief das Problem bestechend scharf: Wenn die Christen gar nicht mehr mit dem Gott der Auferstehung von den Toten klagend-hoffend ringen, wenn sie also nicht mehr mit dem Gott ringen, der ihre Kräfte übersteigt, wohlgemerkt, auch die Kräfte des Geistes Gottes in ihnen übersteigt, dann legt sich eine wohlbekannte Lebensphilosophie nahe. Paulus wörtlich: „Lasset uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot.“ (1Kor 15,32) Etwas aktualisiert: „Ostern? Nein! Ab nach Mallorca!“

Wir brauchen den spirituellen Mut zur Wut – zu einer Klage, die Gott als Adresse hat. Ja, wir brauchen Klagemauern. Wir brauchen diese tausend Ritzen, in die Menschen ihre Seufzer und ihren Schmerz so anonym wie persönlich stecken können. Tausend Mauerritzen, in denen auch die Resignation eine schwache Geste der Hoffnung werden kann, eine Ort der Gotteserfahrung, der tröstenden Gegenwart des Geistes Gottes.

Es nützt wenig, gegen diese schwache Glut der Wut und der stummen Klage mit dem theologischen Handfeuerlöscher vorzugehen, ein rückwärtsgewandtes und kindliches Allmachtsgottesbild oder einen Puppenspielergott zu diagnostizieren und die letzten Erwartungen an Gott im Schaum zu ersticken. Um den Puppenspielergott geht es nicht. Es geht um die Hoffnung auf Rettung, ohne die der Glaube Israels schlicht nicht verstehbar ist. Es geht um das Osterereignis, das Grundlage der Klage „O Herr, komm bald“ wurde. Aus der schwachen Glut der Klage, kann der Geist Gottes langsam das Feuer der Hoffnung und des Vertrauens in den lebendigen Gott entfachen. Die schwache Glut der klagenden Wut ist die Rückseite einer schwachen, aber hartnäckigen Hoffnung. Aus den Konfliktgesprächen mit Gott heraus kann ein Vertrauenszuwachs sich einstellen und wird Trostlosigkeit überwunden (Bernd Janowski). Die Praxis der Klage ist die Antwort auf Rudolf Stichwehs soziologisch-säkulare Gegenwartsdiagnose.

Ganz offensichtlich Getriebene

2. Die biologische Verletzlichkeit von uns Menschen: Wir sind Staub der atmet, so der Befund der zweiten Schöpfungserzählung im ersten Buch der Bibel. Wir sind leibliche Wesen. Das Fehlen einer ausreichenden Anzahl von Impfdosen erinnert daran unbarmherzig. Die nicht zu leugnende Grundlage der gegenwärtigen Einschränkungen in Politik, Sport, Bildung, Religion, Kultur und Wirtschaft – ist unsere biologische Verletzlichkeit. Rund um den Globus ringen Menschen auf der biologischen Ebene mit einem in der Alltagswahrnehmung so unsichtbaren wie zerstörerischen Feind. Wir sind ganz offensichtlich Getriebene, die Treiber sind die Mutationen. Wer mit ursprünglich wahrhaft gefährdeten, aber nun geimpften Menschen spricht, spürt, welche Last das Vakzin von ihren Schultern genommen hat. Die biologische Verletzlichkeit von uns Menschen steht machtvoll im Raum – auch im Raum der Kirche.

Sind wir als evangelische Kirche und ist die evangelische Theologie auf eine spirituelle Wahrnehmung dieses Bedrohungsgefühls vorbereitet? Können wir diese bedrohliche biologische Verletzlichkeit theologisch verstehen? Ich fürchte nein.

Es ist so erstaunlich wie offensichtlich: Das immer intensiver werdende Nachdenken über Schöpfung hat in den letzten Jahrzehnten ausschließlich der Bedrohung der Schöpfung beziehungsweise der Natur durch den Menschen gegolten. Wir, so schien es, sind die Gefährder, nicht die Gefährdeten. Der biblische Herrschaftsauftrag wurde für den ökologischen Raubbau mit verantwortlich gemacht. Es ging um die „integrity of creation“, die Bewahrung der Schöpfung, um ein Bebauen und Bewahren, für manche gar um ein Heilen der Erde. Achtsamkeit und Respekt für die Mutter Erde sollen die neuen Tugenden sein. Die radikale ökotheologische Transformation von Glaube, Liturgie, Theologie und kirchlichem Handeln steht bei einigen ganz oben auf der theologischen Wunschliste. Endlich haben all diejenigen, die an der Trennung von Thron und Altar, von Religion und Politik, von Staat und Kirche gelitten haben, ein neues Projekt gefunden.

Und dann kam Corona. Brutal und innovativ, variantenreich und rücksichtslos machen Viren weltweit, für was sie in der Evolution gut zu sein scheinen – Mutieren und den Anpassungsdruck erhöhen. Herzlos und frei jeder Barmherzigkeit suchen sie sich die Schwächsten als Opfer aus – Alte und Behinderte. Mit einem frostigen Lächeln blickt die Mutter Erde auf die Sterbenden.

Ich fürchte, wer nur eine Integrität der Schöpfung bebauen und bewahren will, leugnet die Härten der Evolution. Die in ökotheologischen Kreisen verbreitete Idee einer nur zu bewahrenden Integrität der Schöpfung ist ein romantischer Traum von einem paradiesischen Zustand, der nie existierte und nie existieren wird. Biblisch-theologisch hat das Bauen und Bewahren seinen Ort im Paradies. Doch das Paradies ist nicht unsere Welt. Und vor dem Tor des Paradieses steht heute ein Engel mit zwei Flammenschwertern. Auf dem einen steht „Mutation“ und auf dem anderen steht „Selektionsdruck“ geschrieben.

Bitter und kränkend

Haben wirklich wir Menschen erst einen Risikoplaneten geschaffen? Für die über 99 Prozent aller bekannten Arten, die noch vor dem Auftauchen des Menschen vernichtet wurden, war der Planet schon vorher zu riskant. Für Lazarus übrigens auch. Evolutionäre Biologie ist bitter und kränkend, man könnte sagen: paradiestraumdesillusionierend. Es scheint so, als hätten die gegen die Evolution demonstrierenden Rechts-Evangelikalen viele neue Verbündete innerhalb und außerhalb der Kirche gefunden.

Weil die Christen nicht das Leben vergöttern, feiern sie an Ostern nicht die Regenerationskräfte der Natur und auch nicht das Wunder der Fertilität, das uns eine Göttin der Fruchtbarkeit gewähren könnte. Christen feiern auch nicht – etwas vornehmer – die abgründige und kostspielige Kreativität der Evolution. Trotz aller Eier, Blumen und Hasen. Wir feiern nicht einfach naturreligiös den Sieg des Lebens über den Tod. Nein, wir feiern die „unglaubliche“ Auferstehung Jesu Christi von den Toten in der Macht des Geistes Gottes. Gottes Sieg über den Tod. Wir feiern den Anbruch der neuen Welt Gottes – einer Welt ohne Intensivstationen und ohne Impfzentren, ohne einen Lazarus.

Was vereint unseren Bundestrainer Jogi Löw, den Befreiungstheologen Leonardo Boff und wohl auch Luisa Neubauer und sicherlich noch so manchen anderen? Sie vereint, dass sie lieber schuldig als biologisch verletzlich sein wollen. Die Selbstanklage ist dem Eingeständnis der Ohnmacht vorzuziehen. Sie alle wollen lieber die Menschen für das Virus verantwortlich machen, als Ihre biologische Verletzlichkeit, ihr Ausgeliefertsein an die Natur eingestehen.

Es ist zweifellos demütigend und kränkend zu sehen, dass nicht nur wir Menschen die Schöpfung bedrohen. Wir, die wir den technischen Macher nur zu gern durch den moralisch-rettenden Macher ersetzt möchten, sind durch das Virus mit der Einsicht konfrontiert: Wir sind nicht Herr oder Frau im biologischen Haus, weder als Macher, noch als Retter – und schon gar nicht als Heiler. Aber wir wären lieber schuldig als verletzlich. Covid, das wollen wir uns schon selbst angetan haben. Die Leugnung der biologischen Verletzlichkeit kennt viele Gesichter und erstaunliche Bündnisse. Hinter der Maske der Demut – welch ein Hochmut und Stolz!

Umschließt Gott also alles, was existiert, mit seiner Zärtlichkeit? Dies ist, so fürchte ich, ein theologisch törichter Gedanke. Er wird auch nicht dadurch besser, dass er von Papst Franziskus stammt und in der viel und gerne zitierten Enzyklika „Laudato si“ steht. Ist die Erde wirklich, wie er sagt, „eine schöne Mutter, die uns in die Arme schließt“ – aber dummerweise eben einigen Menschen die Luft nimmt? Wer möchte mit dem Coronavirus unbedingt in einer Schöpfungsgemeinschaft leben? Die südafrikanische Variante des Virus will weder bebaut noch bewahrt werden, sie will bekämpft und beherrscht werden.

Nicht einfach ein Freund des Lebens

Bildlich gesprochen, kommt das tödliche Gift nicht erst durch den Menschen auf die Blühwiesen der Evolution. Es wächst da ganz natürlich. Die Visionen des Propheten Jesaja, dass das kleine Kind mit der giftigen Schlange spielt und der Löwe Stroh frisst, dies sind Visionen radikaler Hoffnung auf eine neue Welt Gottes – die nicht von uns gebaut wird, auch nicht durch unsere Unterlassungshandlungen.

Jede Nadel einer Corona-Impfung injiziert die Einsicht mit: Gott ist nicht einfach ein Freund des Lebens. Wer so denkt, macht ihn zum Dämon. Gott ist auch ein Feind des Lebens – des bedrohenden und chaotischen, als Nacht und Zerstörung hereinbrechenden Lebens. Gott ist ein Feind manchen biologischen Lebens zugunsten heilvoll gelingenden biologischen Lebens – von Menschen und anderen Geschöpfen. Jeder Kinderarzt kann davon erzählen.

Der jüdische Bibelwissenschaftler Jon Levenson hat schon vor über 30 Jahren darum der christliche Theologie ins Stammbuch geschrieben: Nehmt die biblischen Traditionen der Schöpfung durch Chaosüberwindung ernst. Schon 1947 hat Karl Barth eine Schöpfungstheologie entfaltet, die die Unterscheidung vom Chaos und das Zurückdrängen des Chaos ins Zentrum stellt. Lebensbedrohliche Krankheit ist darum für Barth ein Einbruch der Chaosmächte – und dies erfahren wir gegenwärtig.

Wir Christen und nicht nur wir, sind Partner Gottes in einem noch offenen Prozess schöpferischer und auch erschöpfender Chaosbewältigung. Und die Biotechnologie gehört jetzt zweifellos auch dazu. Nicht umsonst hat der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theissen auf den anti-evolutionären, antiselektiven Impuls der Jesusbewegung hingewiesen. Darum bauten Christen von Anfang an Kirchen und Hospitäler – als Orte der Barmherzigkeit und des Protests gegen biologisch-naturales Elend. Sie bauten keine Altäre für eine Muttergottheit.

Sicher, dieser Prozess des Weltenbaus durch Chaosbewältigung ist selbst nicht ohne Risiko. Nicht nur Ozeane voller Plastikmüll sind ein beredtes Zeugnis davon. Die Liste ist lang. Sind die Chaosbewältigung und die Gefahrenabwehr selbst zu riskant, ja gefährlich, Chaos erzeugend? Dies ist unstrittig in vielen Fällen die bedrängende Frage. Die feine Linie zwischen dem notwendigen Zurückdrängen des Chaos und der Vergrößerung des Chaos durch eben diese Chaosbewältigung, zeigt an, wo unsere ökologischen Probleme liegen.

Fest entschlossen, hochmotiviert, gewaltsam

Beim politischen Kampf um diese Linie dürfen wir die Augen auch nicht vor dieser Tatsache verschließen: In der Geschichte führen leider auch manche zerstörerischen Spuren der Gewalt und des Blutvergießens zu fest entschlossenen, hochmotivierten Menschen guten Willens. Sie führen zu Menschen, die radikal, guten Gewissens, sich ganz auf der guten Seite der Geschichte wähnend, ein Programm der Weltrettung verfolgten. Nicht selten waren es Jugendbewegungen. Terror will immer das Beste in Namen des Guten in der Situation offensichtlicher Zeitknappheit. Die Menschen, die unbedingt, bedingungslos, nur das Gute wollen, sind die gefährlichsten. Dies ist die auf den ersten Blick verstörende Einsicht eines Paulus, eines Martin Luthers, eines Johannes Calvins. Die Schlussfolgerungen aus dieser Einsicht sind Grund evangelischer Freude und Freiheit.

Was ist nun zu tun angesichts der biologischen Verletzlichkeit? Mein Vorschlag: Chaosbegrenzer und Chaosbewältiger spirituell wahrnehmen und würdigen.  Weltenretter wie Fridays for Future stehen in der öffentlichen und der kirchlichen Anerkennung hoch im Kurs. Doch der Blick auf die Schöpfung als Begrenzung und Überwindung des Chaos weitet den Blick, macht ihn barmherzig. Die Weltenretter stehen auf den breiten Schultern derer, die auf vielfältige Weise, in großer Regelmäßigkeit und zumeist sehr still das Chaos begrenzen und zurückdrängen – und jede Woche den Müll abholen.

Den Kampf der Chaosbegrenzung kämpfen jeden Tag Millionen Menschen in unserem Land. Die gilt es wahrzunehmen, zu würdigen, theologisch und spirituell wertzuschätzen. Sondergottesdienste für Steuerfachgehilfen, pharmazeutische Assistenten, Maschinenbauer oder gar Lastkraftwagenfahrer? Für die wahrhaft Bewegten dürfte dies maximal spirituell unsexy sein – aber vielleicht ist es notwendig? Wir sollten uns nicht täuschen: Die Menschen spüren beides: subtile spirituelle Verachtung und echte spirituelle Würdigung. Werden Chaosbegrenzer gewürdigt, dann blüht der Protestantismus als Alltagsreligion auf und erliegt nicht den Sirenengesängen der Selbstverzwergung und Selbstradikalisierung. Dann entfaltet sich die kreativ-schöpferische Seite dieser biologischen Verletzung.

3. Die organisatorische Verletzlichkeit der Kirche: Corona machte deutlich, dass Kirche in weiten Bereichen Versammlung, soziologisch gesprochen, Interaktion unter Anwesenden ist. Die letzten Monate verdeutlichten, was trotz aller medial-digitalen Bemühungen fehlt: leibliche Gemeinschaft. Leibliche Präsenz: in Chören, Gottesdiensten, Initiativen und stützenden und bergenden Begegnungen. Auf das Haus weithin zurückgeworfen, zeigte sich, was die letzten Jahrzehnte verkümmert war: Haus- und Familienfrömmigkeit. Vielfältige, beherzt entwickelte, innovative Medienformate ersetzten und ersetzen immer noch leibliche Gegenwarten. Kirche kann zoomen, Kirche kann twittern und vieles mehr. Großartiges wurde hier geleistet. Und niemand weiß, ob es ein Zurück zu den alten Formaten geben wird. Sicher ist nur: Die Organisation der Kirche wurde an einem ihrer wundesten Punkte getroffen.

Feuchter Atem und warmer Geruch

An vielen Orten ist daher nun zu Recht und mit guten Gründen der Ruf nach mehr Medienkompetenz, mehr Medienkommunikation und mehr Medienpräsenz zu hören. Hier gilt es aufzuholen und zu entwickeln. Aber die Frage ist: Wie sollen die Landeskirchen, wie die Gemeinden nach dem Lockdown auf die Verwundung zu reagieren? Wie ist mit der Wunde, der Erfahrung dieser Verletzlichkeit der Organisation in der Zeit nach Corona umzugehen?                                                                    

Sportmanager, Spieler und Fans hoffen auf die rituelle Ekstase der Bochumer Ostkurve. Künstler strecken sich aus nach dem Zauber der Bühne vor einem aufmerksamen Publikum. Lehrer setzen auf die motivierende Macht des Charismas im Klassenraum und Erzieher wollen angstfrei weinende Kinder an die Wange drücken. Demonstranten verlangen nach der politischen Vergemeinschaftung im Tumult, und wenn es sein muss, Schulter an Schulter unter dem Wasserwerfer oder im Tränengasnebel. Die Festivalkultur hofft auf eine Wiederauferstehung, notfalls durch Schlamm- und Regengemeinschaften à la Woodstock. Die Nachtschwärmer und Tänzer sehnen sich nach dem feuchten Atem und dem warmen Geruch anderer Menschen, nach Berührung.

Und die Kirche, was macht die Kirche? Sie denkt öffentlich vornehmlich über Digitalisierung nach. Kann das sein? Ich denke, die eigentliche Herausforderung für die Kirche ist nicht die Digitalisierung im Sinne technisch vermittelter Kommunikation und neuer sozialer Medien.

Die Herausforderung, sozusagen der vergrabene Schatz, ist die leibliche Präsenz. Hier werden Erfahrungen gemacht, die ich Ankererfahrungen nennen möchte. Erfahrungen die tief prägen oder gar umprägen. Verwandelnde Erfahrungen. Erfahrungen, die in Geschichten eingehen. Wirklich bewegende und gründende Erfahrungen. Ankererfahrungen sind solche, von denen mediale Praktiken noch Jahre später profitieren, die sie oft als Voraussetzungen benötigen.

Für einen religionssoziologischen Blick ist deutlich: Seit mehreren tausend Jahren werden in allen nur denkbaren Religionen aller nur denkbarer Weltgegenden religiöse Ankererfahrungen in Körper eingeschrieben – wie auch immer wir dies heute moralisch bewerten. Ja, wir benötigen digitale Plattformen. Aber wir brauchen sie deswegen, damit auf ihnen neue und renovierte Modelle von Präsenz, geplant, gestartet, beobachtet, vernetzt und ausgetauscht werden. Selbstverständlich nicht nur solche für die sogenannten „intensiven Mitglieder“ der Kerngemeinde. Nein, ebenso für die „interessierten Mitglieder“ und, ja, auch für die „distanzierten Mitglieder.“

Intensivierung der Begegnung

Wir benötigen viele neue Präsenzformen, die niederschwellig sind, da zu viel Intimität immer mehr Menschen ausschließt als sie einschließt. Präsenzformen für das Feiern, das Trauern, die stille Teilhabe, für das Da-sein. Für all dies bedarf es der zuträglichen, der flankierenden und vernetzenden digitalen Kommunikation. Selbstverständlich. Sie ist aber kein Sehnsuchtsort und kein Ersatz. Die Chefs von Bayern München und Borussia Dortmund wissen das. Die Kulturmanager wissen dies auch. Wir sollten es auch wissen. Es geht also darum, Ereignisse und mediale Kommunikation zu verweben, Ereignisse medial vorzubereiten, zu erweitern und zu erinnern.

So verstanden dient die digitale Kommunikation der Intensivierung der Begegnung im Raum und in der Zeit. Die Vielfalt und Intensität leiblicher Präsenz und die der Medienkommunikation sind – so erstaunlich dies auf den ersten Blick erscheint – heute nur zugleich steiger- und erweiterbar. Hier kann die Verletzung durch Corona kreative Energien freisetzen. Zu den versammelten Jüngern kommt der auferstandene Christus und der Geist an Pfingsten.

Conclusio: Eine kreative kirchliche Verarbeitung der drei Verwundungen kann gelingen in einer Kirche, die in der Kraft des Geistes Jesu Christi lebt und leben will;

- eines Geistes, der uns Seufzen und Klagen lässt und so als Geist des Trostes und der Hoffnung bei uns ist und wahre Menschlichkeit befördern möchte;

- der uns von Illusionen befreit und uns zu ehrlichen, entschlossenen und kreativ-umsichtigen Partnern, Gestaltern und nicht zuletzt Wertschätzenden der Chaosbegrenzung machen möchte;

- der uns die vielgestaltige Gegenwart Christi eröffnet, wo zwei oder drei im Namen Christi versammelt sind – wenn es Not tut, auch per Zoom.

(Der Text geht auf einen am 23. März 2021 gehaltenen Vortrag vor der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zurück.)

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