Vaterunser beim Ausräumen der Spülmaschine?

Warum wir Christen den Präsenzgottesdienst nicht zu klein reden sollten
Foto: breit & nah

Anlässlich der staatlichen Empfehlung zum Verzicht auf Präsenzgottesdienste zu Ostern von vor einer Woche, die nun wieder vom Tisch ist, tritt der Theologe und Autor Andreas Malessa dafür ein, dass die Kirchen in Sachen Gottesdienst trotz Corona weiterhin verantwortlich Präsenz anbieten sollten, statt vorauseilend verzagt sein.

Nein, ich bin kein „Querdenker“, sympathisiere nicht mal mit ihren Sympathisanten. Ja, ich fand den November-Lockdown halbherzig, den „nachgeschärften“ im Dezember und Januar notwendig, den jetzigen auch. Nein, ich will keinen Applaus von Halb- und Ganzrechten. Ja, ich bin dankbar für ein redlich bemühtes Krisenmanagement der Regierung. Ja, ich teile die Vorsorge gegen Infektionsrisiken und respektiere jede Event-Absage aus sozial-seelsorglichen Gründen. Darf ich dennoch eine Beobachtung zur Diskussion stellen?

„Bloß nicht dasselbe wie Ostern!“ sagten sich die Gesetzgeber vor einem Jahr, nachdem Kirchen geschlossen, aber Baumärkte geöffnet waren. Und gewährten im Advent 2020 den Religionsgemeinschaften ein Privileg, das Clubs, Theatern und Konzerthäusern verwehrt blieb: Veranstaltungen vorsichtig durchführen zu dürfen. Nun, Ende März, baten die Verantwortlichen in der Politik angesichts der sich verschärfende Corona-Lage dies wieder einzuschränken und Gottesdienste zu Ostern bitte möglichst nur online anzubieten.

Nun hat diese Bitte des Kanzleramtes und der Ministerpräsidentenkonferenz sehr an Wumms verloren, da sie sogar förmlich zurückgenommen wurde. Andererseits kann man der Politik diesen Vorschlag einer befristeten flächendeckenden Absage von Präsenzgottesdiensten rückblickend kaum verdenken, denn die Frage ist: Nutzten die rund 13.500 evangelisch-landeskirchlichen und geschätzt etwa 1800 freikirchlichen Gemeinden in Deutschland bisher diese „Spielräume“ (immerhin Thema der evangelischen Fastenaktion 2021)? Boten sie infektionsschutz- und hygienekorrekt wenigstens ein paar schöne, tröstliche, „heilige“ Präsenz-Erlebnisse an? Nahmen sie den Aufruf des Kulturbeauftragten der EKD, Johann Hinrich Claussen, „Kirchen für Künstler, Künstler für Kirchen“ vom Juni 2020 wahr und ernst, setzten ihn um und die Kreativen ein? Ja, einige Gemeinden taten so. Und wurden dafür zum Beispiel von der naturwissenschaftlich-medizinischen Akademie Leopoldina gelobt: „Die beiden großen Kirchen sind besonders regelkonforme Institutionen mit Blick auf die Einhaltung der Corona bedingten Abstands- und Hygieneauflagen." Die Mehrheit aber nutzte ihre Spielräume für Versammlungen nicht.

Im ersten Lockdown IT-berauscht

Obwohl das vielzitierte Diktum „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von den Worten aus Gottes Mund“ ja voraussetzt, dass die zu den unverzichtbaren Lebensmitteln gehören, oder? Monatelang ging es um das missverständliche Prädikat „systemrelevant“. Warum nicht um Begriffe wie „Gemütsernährung“ oder „Seelenpflegeartikel“? Dass Shampoo und Hundefutter überall erhältlich bleiben müssen, war unstrittig. Warum nicht auch Gedanken, Gebete, Klänge, Rituale? Getreu dem Motto der (katholischen) Kulturstaatsministerin Monika Grütters „wenn die Kultur stillsteht, braucht es die Kirchen umso dringender“?

Manche Gemeinden mit fitten IT-Kundigen berauschten sich im ersten Lockdown noch an den Klickzahlen ihrer Streaming-Angebote. Spätestens im Advent 2020 aber dämmerte es auch den viral Erfolgreichen, dass ein „gegucktes“ Abendmahl nicht dasselbe ist wie ein erlebtes. Weil Papa, von täglichen Zoomkonferenzen im Homeoffice genervt, nicht auch noch sonntags ins Tablet starren mochte. Weil Mama beim Vaterunser erstmal die Spülmaschine ausräumte und die Kinder gnadenlos zu drei Dutzend „geileren“ Gottesdiensten switchten. Über die Verweildauer sagen Klickzahlen ja nichts aus.

Fundamentalistische Ultrakonservative, charismatisch naive Enthusiasten und russlanddeutsche Ignoranten waren vielerorts zu Corona-Superspreadern geworden. Wie der Teufel das Weihwasser fürchteten daraufhin Bischöfe, Prälaten, Dekane, Pfarrerinnen und Pfarrer eventuelle Negativschlagzeilen in der Lokalzeitung oder, Gott bewahre, in den regionalen TV-Nachrichten. Die aber lieferten meines Wissens bisher keine der seriösen Landes- und Freikirchen! Warum nicht? Weil auch hartgesotten säkulare Journalisten unterscheiden können zwischen solidarisch verantwortlichen Christengruppen und „widerständigen“ Merkelhassern in Märtyrerpose. Hat damit nicht eine kleine rechtskonservative Minderheit, haben die bekannten Ultras und Hooligans des Glaubens die Mehrheit der Kirchgänger vor sich hergetrieben?

Im Spätsommer 2020 jedenfalls verschärften manche Gemeinden die staatlichen Vorgaben noch: 1,50 Meter Abstand? Bei uns mindestens zwei Meter! Bitte genügend Distanz zwischen Altarraum und erster Reihe? Wir hängen noch eine Plexiglaswand dazwischen! 80 Leute auf 400 Plätzen erlaubt? „Wir haben die Anmeldeliste bei 40 Besuchern geschlossen“, hieß es im Newsletter einer Gemeinde mit Riesenkathedrale, „um ein Zeichen zu setzen“. Ein Zeichen wofür? Noch mehr Angst zu haben als alle anderen?

Mehr als nett umrahmte Lebensberatung

Gottesdienste bleiben möglich, sagten die Behörden selbst im Winterlockdown. Interessanterweise einer der wenigen Punkte, über die nicht gestritten wurde zwischen Bund und Ländern. Also auch Abendgottesdienste, denn sogar von der nächtlichen Ausgangssperre waren „religiöse Anlässe ausgenommen“? Nein, manche Gemeinden strichen ratzfatz sogar den Sonntagmorgen. Glückwunsch, wenn der durch akribisch organisierte Kleingruppen-Angebote ersetzt wurde. Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer mit ansprechend gestalteten Andachtsmaterialien an die Türen der Konfirmandenfamilien klopften, wenn die Begleitung Trauernder und die Seelsorge nach wie vor stattfanden!

Aber in jedem zweiten Schaukasten prangte 2. Timotheus 1 Vers 7: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“. Es blieb (und bleibt wohl 2021 hindurch) eine Ermessensfrage: Signalisieren „besonnen“ organisierte Präsenzveranstaltungen oder „Sorry, we‘re closed“-Schilder mehr Kraft und mehr Liebe gegen den „Geist der Furcht“? Ganz ohne sakramentalistisches oder gar magisches Gottesdienstverständnis muss die Frage erlaubt sein, wer noch daran glaubt, dass Liturgie und Predigt „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ stattfinden – also mehr sind als eine nett umrahmte Lebensberatung. Ein Religionsstündchen, in das man zeitversetzt montagfrüh in der überfüllten (!) U-Bahn auf postkartenkleinen Smartphone-Displays „mal reinschaut“.

Es gab tapfere Ehrenamtliche, die mit doppeltem Kraft-, Zeit- und Finanzaufwand hyperkorrekte „musikalische Andachten“ organisiert hatten, weil ein Orgelkonzert von der Empore, eine Video-Installation in der Apsis oder Psalmrezitationen vom Band wahrlich ungefährlicher sind als es der Black Friday im wuseligen Outlet-Center war. Oder es ein Mallorca-Urlaub ist. Kaum war die erlaubte Anzahl Tickets verkauft, kam par ordre du mufti das Verbot von der regionalen Kirchenverwaltung! Zur besseren Infektionsprophylaxe, schon klar, mancherorts aber auch „aus Solidarität mit anderen Solokünstlern“. Wie das? Wenn die Cellistin und ihr Pianist nicht in der Stadthalle konzertieren dürfen, sollen sie das in der Kirche erst recht nicht?! Das hätte man exakt andersherum beschließen können und ich fürchte, mancher Virtuose – mit dessen Glanz sich Kirche sonst gerne schmückt – wird sich post-coronesisch daran erinnern.

Nochmal Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die im Dezember in der ZEIT schrieb: „Bringen wir bitte nicht Kirche und Kultur gegeneinander in Stellung. Im Zweifelsfall würden die Kirchen geschlossen und die Theater trotzdem nicht geöffnet. Zumal die Kirchen zu den wichtigsten Kulturträgern in Deutschland zählen. Sie selber unterschätzen manchmal, was für ein bedeutender Orientierungspunkt sie sind.“ Dieses Unterschätzen der eigenen Bedeutung nannte der Ex-EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber neulich in zeitzeichen „Selbstverzwergung“.

Vor- und fürsorglich, aber populistisch

Am Geld kann es nicht liegen: „Ich spiele doch lieber zwei Mal am Abend vor wenigen, als kein Mal vor niemandem“ sagten viele Musizierende und halbierten ihre Gage. „Ich war seit März 2020 in keinem Konzert und seit November in keinem Restaurant, da kann ich heute locker für drei spenden“ sagten Kirchgänger am Klingelbeutel. „Eine Veranstaltung planen und dann nicht dürfen, ist traurig. Keine zu planen und dann zu hören, man hätte gedurft, ist noch trauriger“ sagten Ehrenamtliche.

Gegen so viel Zuversicht und kreative Kraft half dann mancherorts nur noch die Anekdoten-Evidenz: Aber in X-Stadt hat sich Chorsängerin Y infiziert! Bestürzend, keine Frage. Wo passierte es denn? Weiß der Geier. Das Gesundheitsamt und die Corona-App wissen es jedenfalls nicht. „Es hätte im Gottesdienst Deine alte Mutter treffen können. Wenn nicht dort, dann auf der Fahrt dorthin!“ Ein Passepartout-Argument, dem plausible Allgemeingültigkeit zugestanden wird. Sowas nennt man Populismus. Ein diesmal vor- und fürsorglicher, aber halt Populismus. Nicht hinzugehen – wie es fast neunzig Prozent der Kirchgänger an Heiligabend taten – bleibt ja jedem unbenommen.

Es geht um die Aufrechterhaltung eines Angebots. Mehr nicht. Nein, bitte keine Tricksereien am Gesetz vorbei. Aber bitte mehr erlebbare statt beteuerte Hoffnungszeichen. Wenn Kontaktbeschränkungen noch länger andauernde „neue Normalität“ werden – was Gott und der Impfstoff verhüten mögen – ist es doch fatal, wenn der Staat dazugelernt hätte, aber diesmal die Kirchen dasselbe wie Ostern 2020 machen. Zumachen nämlich. Nach sieben Wochen ohne. Ohne alles. Bitte das nicht, sondern bitte das: Verantwortlich und verantwortbar Präsenz anbieten – mindestens in der (auferstehungs-beseelten) Zeit des Kirchenjahres ab Ostern.

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Andreas Malessa

Andreas Malessa ist Hörfunkjournalist bei ARD-Sendern, Theologe, Musical-Songtexter („Martin Luther King") und Buchautor.


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