Die Früchte, welche die gegenwärtige Hannah-Arendt-Renaissance hervorbringt, sind vielfältig. Unter den – jenseits von Kaffeetassen – relevanten Beiträgen zur neuen Prominenz der deutsch-amerikanischen Intellektuellen sind solche wie die letztjährige Ausstellung des Deutschen Historischen Museums „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“, welche zwar Diskurse, an denen sich Arendt beteiligte, dokumentieren, ohne jedoch zu den großen Linien vorzudringen, die ihrem Werk noch für die heutige Welt Bedeutung verleihen. Anderen, wie dem zur Ausstellung erschienenen gleichnamigen Sammelband, gelingt dies durchaus. In besonderer Weise macht sich jedoch der in New York lehrende Philosoph Richard J. Bernstein um die Auslotung der Aktualität Arendts verdient: Why Read Hannah Arendt Now fragte der Titel seines 2018 veröffentlichten Buches, dessen nun erschienene deutsche Ausgabe sie als „Denkerin der Stunde“ herausstellen will.

Dies tut der von Andreas Wirthensohn – unter Wahrung des für englischsprachige Sachbücher typischen eingängigen Duktus – übersetzte Band, indem er zentrale Texte Arendts aufgreift und vornehmlich zu aktuellen politischen Herausforderungen in Beziehung setzt: Zwangsmigration, Israel-Palästina-Konflikt, öffentliche Debattenkultur, totalitaristische Tendenzen und deren Abwehr. Am Ende des Buches steht eine eindringliche verantwortungsethische Zuspitzung der heutigen Botschaft von Arendts Denken: „Wir sollten Arendt heute lesen, weil sie die Gefahren, mit denen wir es nach wie vor zu tun haben, so scharfsinnig erkannt und uns davor gewarnt hat, darüber gleichgültig oder zynisch zu werden. Sie drängte uns dazu, Verantwortung für unser politisches Schicksal zu übernehmen. Sie brachte uns bei, dass wir über die Fähigkeit verfügen, gemeinsam zu handeln, etwas in Gang zu setzen, anzufangen, danach zu streben, dass Freiheit weltliche Wirklichkeit wird.“ Vor dem Hintergrund des Jahres 2020, das mit der Auseinandersetzung um den Umgang mit der Corona-Pandemie nochmal in besonderer Weise die Gefahr von Populismus und Fake News – vor allem in den USA und Brasilien, aber auch hierzulande – vor Augen geführt hat, liest sich gerade das Kapitel über „Wahrheit, Politik und Lüge“ besonders eindrücklich. Immerhin zeigt sich ausgehend von Arendts Deutungskategorien eine beängstigende „Ähnlichkeit zwischen organisierter Lüge, fiktionaler Image-Pflege, Täuschung und Selbsttäuschung, wie sie heute vorherrschen, und den Methoden, die totalitäre Regime zur Perfektion getrieben haben“.

Es dürfte im Sinne Arendts, die selbst das „Wagnis der Öffentlichkeit“ einging, sein, dass einige der Aktualisierungen durchaus auch zum kritischen Hinterfragen und Weiterdenken einladen. Das gilt etwa für die Überlegungen Bernsteins zur aktuell anhaltenden Flüchtlingskrise. Dass wir es auch hierin mit einem Angriff auf das „Recht, Rechte zu haben“, zu tun haben, dürfte außer Frage stehen. Bernsteins Postulat, mit „den immer weiter anwachsenden Massen an staatenlosen Menschen und Flüchtlingen überall auf der Welt, die behandelt werden, als seien sie überflüssig, sollten wir Arendts Warnung ernst nehmen, dass zwischen der Zerstörung des Rechts, Rechte zu haben, und der Vernichtung von Leben nur eine schmale, fragile Trennlinie verläuft“, macht freilich eine deutlich stärkere Differenzierung zwischen dem historischen Hintergrund Arendts und der gegenwärtigen weltpolitischen Lagebeschreibung notwendig, die womöglich viel stärker von failed und failing states als von Totalitarismus geprägt ist

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Foto: Andreas Helle

Tilman Asmus Fischer

Tilman Asmus Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt als Journalist über Theologie, Politik und Gesellschaft


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