Adrian Loretan, Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der katholischen Theologischen Fakultät der Universität Luzern, bündelt in diesem Buch sein Plädoyer für die Anpassung religiöser und weltanschaulicher „Wahrheitsansprüche“ an eine vorgegebene und vorzugebende Menschenrechtsethik.
Zwei Religionen hat er besonders im Blick: Zum einen geht es ihm aus einer religionspolitischen Außenperspektive um die menschenrechtliche Läuterung des Islam; zum anderen verficht er aus einer kirchenpolitischen Binnenperspektive die Forderung, die im Zweiten Vatikanischen Konzil zur Höhe der Menschenrechte gebrachte kirchliche Soziallehre auf die römisch-katholische Kirchenverfassung unmittelbar anzuwenden. Ausweislich eines Verzeichnisses von Erstveröffentlichungen ist etwa die Hälfte des Textes aus sieben 2012 bis 2015 erschienenen Aufsätzen wiederverwendet und hier zusammen mit verbindenden und hinzutretenden Abschnitten in eine neue Gliederung eingearbeitet worden. Das Buch reiht sich in eine stetige Arbeit des Autors am Verhältnis zwischen Religion und Menschenrechten ein.
In mehreren, ohne Scheu vor Redundanz durch das Thema gefädelten Schleifen stellt der Text den in der europäischen und angloamerikanischen Rechtskultur gewonnenen Wert der „Freiheitsrechte“ jedwedem dazu in Konkurrenz tretenden „Wahrheitsanspruch“ gegenüber. Unter „Freiheitsrechte“ fasst der Autor dabei nicht im juristischen Sinn vor allem Ansprüche des Bürgers gegen den Staat auf die Freiheit von ungerechtfertigten Eingriffen, sondern weitergehend Programmsätze der politischen Ethik, die mit der Anerkennung der „Würde der Person“, der „Trennung von Kirche und Staat“ und vor allem der „gleichen Rechte der Frauen“ ansprechbar sind. Die ihnen entgegenstehenden „Wahrheitsansprüche“ identifiziert er im Wesentlichen mit diversen „Fundamentalismen“, insbesondere einem christlichen und einem islamischen. Bevor die „Feinde der Religion“ sich bestätigt fühlen können, gibt er ihnen noch mit, „dass auch säkulare Weltanschauungen nicht davor gefeit sind, fundamentalistisch zu argumentieren“; das wird markig, aber nur knapp und auch etwas schräg ausgeführt.
Auf der Seite des religiös und weltanschaulich neutralen Staates sieht der Autor das Problem in der Religionsfreiheit: Diese dürfe dem Widerspruch gegen menschenrechtliche Forderungen keine Deckung geben. Der Autor lässt es darüber hinaus nicht im Sinne des liberalen Grundrechtsverständnisses ausreichend sein, dass Religionsgemeinschaften die zum Schutz der Menschenrechte gesetzte Rechtsordnung einhalten. Er erwartet, dass sie sich in einen „Dialog“ mit den säkularen Menschenrechtsideen einfinden, in dem sie diese in ihrer religiösen Wahrheit wiederzuerkennen, vor- oder nachzubilden haben. Als einen dieser Erwartung entsprechenden „Vordenker der Freiheitsrechte“ aus der jüdischen politischen Ethik stellt er Moses Mendelssohn vor. Aus der katholischen Tradition hält er vor allem die Leistungen des mittelalterlichen Kanonischen Rechts und der Spätscholastik für die naturrechtliche Rechtsbegründung allen Positionen entgegen, die die Legitimität des Kirchenrechts an einer Wahrheit außerhalb des universalen, eben naturrechtlich vorgegebenen „Freiheitsethos der Rechtswissenschaften“ messen wollen. Folgerichtig ist solche zivilreligiöse Ertüchtigung denn auch für islamische Religionsgemeinschaften das Entréebillet zur europäischen Kultur. Die evangelische Kirche hingegen kommt allenfalls am Rande vor, etwa wo es heißt, von der Gebotenheit innerkirchlicher Grundrechte wüssten „selbst religiöse Autoritäten“, nämlich Papst Paul VI. und Wolfgang Huber.
Aus rechtswissenschaftlichem Blickwinkel sind vor allem zwei kritische Beobachtungen festzuhalten: Erstens muss gerade eine auf die Ideen der Aufklärung gestützte Begründung einer freiheitlichen Rechtsordnung die Distanzierung von religiösen und weltanschaulichen Wahrheitsansprüchen, zu der sie sich verpflichtet, im Angesicht religiöser und weltanschaulicher Antithesen als ein Problem ihrer eigenen Begrenztheit erkennen und verhandeln. Der Griff zu einem Naturrecht oder zu einer universalen Zivilreligion kann das nicht verdecken. Zweitens kommt eine Rechtsordnung, will sie freiheitlich sein und bleiben, nicht um das Wagnis herum, es auf eine staatlicherseits unkonditionierte bürgerliche Freiheit religiöser und weltanschaulicher Wahrheitsansprüche ankommen zu lassen und die staatliche Hoheit auf die rechtfertigungsbedürftige Beschränkung ihrer Wirkungen für Gemeinwohlbelange zurückzuziehen. Eben das ist ja die Idee der Freiheitsrechte, und das gilt auch für die korporative Religionsfreiheit. Deren Konditionierung zum Zweck einer staatlichen Fürsorge für das religiöse Wohl ihrer Mitglieder, wie der Autor sie in Gestalt demokratischer und binnenfreiheits- und -gleichheitsrechtlicher Auflagen empfiehlt, ist ein Motiv des Staatskirchentums, dem gegenüber freilich das schweizerische Verfassungsrecht und -verständnis bekanntlich und auch hier ersichtlich großzügiger ist als andere.
Michael Germann
Michael Germann ist Professor für Öffentliches Recht, Staatskirchenrecht und Kirchenrecht an der Universität Halle.