„Die ganze Nation will seinen Tod!“
Seit der Erfindung der bewegten Bilder ist die Bibel als Thema sehr beliebt – doch dabei wird zugleich ein Vorurteil gepflegt, das seit der Stummfilmzeit und bis ins neue Jahrtausend hinein in Jesus-Filmen immer wieder zu beobachten ist: Uralte judenfeindliche Stereotype finden Eingang in diese Filme, mal deutlicher, mal versteckter. Manfred Tiemann, Experte für Bibelfilme, klärt über den Antisemitismus auf der großen Leinwand auf.
Mit der Erfindung des Films durch die Gebrüder Louis und Auguste Lumière im Jahr 1895 bekommen biblische Erzählungen und ihre bildlichen Darstellungen neue Interpretationsmöglichkeiten. Und schon 1897 erscheint die erste filmische Version der Leidensgeschichte Jesu: in Frankreich unter dem Titel La Passion du Christ. Der fünfminütige Film ist nicht mehr erhalten geblieben, aber klar ist: Bibelfilme wurden oft instrumentalisiert, in Mission und Politik. Und leider lassen sich Tendenzen und Zeichen von Antisemitismus sowohl in älteren wie auch in neueren Bibelfilmen finden.
Bei diesen judenfeindlichen Tendenzen wurden in Jesus-Filmen vor allem folgende Vorlagen mit antijudaistischen Inhalten aufgegriffen: Im apokryphen Petrusevangelium aus Syrien, entstanden in der Mitte des zweiten Jahrhunderts, verspotteten, bespuckten und schlugen einige Juden Jesus, legen ihm ein Purpurgewand an. Einer der Juden setzte hier einen Dornenkranz auf sein Haupt. Laut einer diskriminierenden Kleiderordnung im Mittelalter des Papstes Innozenz III. mussten Juden nach einer Bestimmung des 4. Laterankonzils im Jahre 1215 einen spitzen so genannten Judenhut sowie einen gelben Judenring auf der Brust tragen. Das Mainzer Diözesankonzil verlangte 1229 das Tragen eines langen „Judenrocks“ (Kaftan) mit gelbem Brustzeichen und eines langen spitzen Barts. In vielen Passionsspielen des 17. und 18. Jahrhunderts, etwa den „Passions-Spielen“ der Freilichtbühne Freiburg, rief das jüdische Volk: „Ans Kreuz mit ihm, die ganze Nation will seinen Tod!“
Diese judenfeindlichen Bestimmungen oder Erzählungen wurden schon sehr früh in Bibelfilmen aufgegriffen. Viele Regisseure aus der Stummfilmzeit filmten beliebte Passionsspielaufführungen fast dokumentarisch ab. Wenn auch der gesprochene Dramentext fehlte, wurden dem Filmzuschauer antisemitische Stereotype deutlich vermittelt.
Juden als Außenseiter
Dafür ist der obige Ausschnitt aus dem Film Intolerance (USA 1916) ein Beispiel: Zwei Juden (Erich von Stroheim und Gunther von Ritzau) werden als Außenseiter gezeichnet und wenden sich bei der „Hochzeit von Kana“ bewusst von Jesus und der fröhlichen Hochzeit ab. Mimik und Körperhaltung zeigen Neid gegenüber der Hochzeitsgesellschaft. D. W. Griffith hatte in seiner ursprünglich ersten Fassung noch stärkere antisemitische Szenen, die er nach heftigen Protesten bei den ersten Aufführungen herausnehmen musste. In den beanstandeten Szenen lässt Griffith die Juden Jesus ans Kreuz nageln – was historisch natürlich falsch ist, die Kreuzigung geschah durch Römer.
Auch der deutsche Film I.N.R.I. Ein Film der Menschlichkeit aus dem Jahr 1923 nutzt überdeutlich antisemitische Klischees: Robert Wiene lässt nicht die Römer, sondern die jüdischen Bewohner Jerusalems eine Dornenkrone für Jesus flechten. Die Juden werden als die „Christusmörder“ verunglimpft – in dem Film schlagen sie Jesus mit Ruten und foltern ihn.
Judenfeindlichkeit ist auch im Film Der Galiläer (Deutschland 1921, Regie: Dimitri Buchowetzki) unübersehbar. Der Film ist ein Zusammenschnitt, und zwar eine Kurzfassung der aufgenommenen „Passions-Spiele“ der Freilichtbühne Freiburg. Diesem Film zufolge trägt nicht Judas allein, sondern das gesamte jüdische Volk die Schuld am Tode Jesu. Offensichtlich begeistert eilen Juden in diesem Streifen zur Kreuzigungsstätte, um dicht dabei zu sein. Durch die Viragierung, also Einfärbung des Filmmaterials, erhalten die Szenen mit jüdischem Personal eher kalte und grelle, die Jesusszenen dagegen eher warme Farben. Die Kreuzigung Jesu wird dabei eingetaucht in helles grelles Gelb. Antisemitische Tendenzen werden besonders in den Textpassagen des jüdischen Volkes deutlich: Volk: Pilatus muss ihn kreuzigen lassen! (…) Wir ruhen nicht eher, bis er das Urteil ihm gesprochen hat. Ans Kreuz mit ihm, Die ganze Nation will seinen Tod – den Tod, das Blut. (…) Der Nazarener sterbe! (…) Wir wollen, dass Pilatus das Todesurteil spreche! (…) Alle: Ans Kreuz mit ihm! – Ans Kreuz! Schlagt ihn ans Kreuz! Alles Volk: Ans Kreuz, ans Kreuz mit ihm!
Antisemitische Tendenzen sind auch zu finden in heute noch bekannteren Filmen, etwa in King of Kings (USA 1927, Regie: Cecil B. De Mille), zum Beispiel an der Figur Kaiphas, und auch in Das Kreuz von Golgatha (Frankreich 1935, Regie: Julien Duvivier) – hier wird das Verhalten der Jerusalemer Bevölkerung klar antisemitisch gezeichnet.
In Die Zehn Gebote (The Great Commandment, USA 1939) hatten Juden nach der Anweisung von Regisseur Irving Pichel eine lange Barttracht. Nicht nur der Rabbiner Lamech fordert in diesem Film seinen ältesten Sohn Joel auf, Rache zu üben – sondern mit ihm alle jüdischen Männer: Joel soll den Römer Longinus töten. Joel ist von der Lehre Jesu überzeugt. „Vielleicht ist er der Messias, auf den wir alle gewartet haben. (…) Ich glaube, dass dieser Mann unser Volk retten kann. Deswegen müssen wir uns ihm anschließen! Ich werde es auf jeden Fall tun!“ Joel erinnert sich an Jesu Worte: „Vergiss nicht, was ich dich gelehrt habe. Gehe hin und liebe deinen Nächsten.“ Als Joel sich der Rache verweigert und der Feindesliebe Jesu folgt, spürt er dem Film zufolge den Hass seiner eigenen Leute, die ihn sogar umbringen wollen. Rabbiner Lamech zu Joel: „Du bringst Schande über mein Haus!“ Vorsorglich nimmt der Römer, so zeichnet es der Regisseur, Joel in „Schutzhaft“ – „um ihn vor seinen eigenen Leuten zu retten“, wie es im Film heißt.Auch fast zwanzig Jahre später und nur wenige Jahre nach dem Holocaust findet man weiterhin judenfeindliche Klischees. In Los misterios del Rosario (Jesus Christus – Der Weg des Herrn, Spanien 1957) sind es nicht allein die römischen Soldaten, die Jesus verspotten. Zwei Männer aus dem jüdischen Mob machen eifrig mit und treten an Jesus heran: „Wir sind ihm doch so treu ergeben, nicht wahr, mein Herrscher? Sind Könige nicht dazu verpflichtet, für ihre Untertanen aufzukommen? Aber vielleicht anstatt eines Wunders verrätst du uns lieber ein kleines Geheimnis?“
In diesem Film bindet ein Jude Jesus die Augen zu. Die jüdische Menschenmenge im Hintergrund stimmt zu, lacht freudig und amüsiert sich. Ein weiterer Jude ruft Jesus am Kreuz zu: „Wenn er der Messias ist, der Auserwählte, der Sohn Gottes, so steige er vom Kreuz und helfe sich selber! Dann werden wir an ihn glauben. Hilf dir selbst!“ Im Bibeltext (Lukas 23, 36) rufen die römischen Soldaten diesen Satz.
Auch eine Generation später sind judenfeindliche Klischees immer noch präsent – und das bei einem Regisseur der Extraklasse: In Die letzte Versuchung Christi des US-Filmemachers Martin Scorsese aus dem Jahr 1988 sind Juden weiterhin die „Christusmörder“, die, gemäß uralter antisemitischer Vorurteile, geldgierig seien. Juden werden in diesem Film bei ihrem Auftritt im Tempel in Verbindung gebracht mit Handel, Profitgier und Geld. Merkmale eines so bösen wie klassischen Antisemitismus sind erkennbar – etwa wenn Jesus einen Rabbi fragt: „Hast du genügend profitiert?“ – „Genügend!“
Eine besondere Rolle spielt die zweifache Verfilmung des Musicals Jesus Christ Superstar: In der ersten, US-amerikanischen Interpretation aus dem Jahr 1973 teilt Norman Jewison die Welt in gute und böse Menschen, und die Typisierung der Juden ist klar antisemitisch. Hier die Gruppe der Jünger und Anhänger Jesu: eine multiethnisch gemischte, fröhlich tanzende und lebensbejahende Schar. Es sind Kinder und junge Erwachsene, sie alle sind in leuchtend-bunte Farben gekleidet und wirken insgesamt sympathisch. Dort die Gruppe des Hohen Rates: Die Männer wirken als Monstren, die in schwarzen Kutten und mit immensen Hüten böse Assoziationen wecken sollen. Als bedrohlich düstere Krähen am Gerüst erscheinen sie als aggressive Wesen, die Ängste auslösen. Pharisäer und Priester sind sich in diesem Film einig: „Verwirrende Umsturzideen, die wir nicht aufkommen lassen dürfen. Er ist gefährlich. Um unsrer und um des Volkes willen: Dieser Jesus muss sterben!“
Kaum besser ist es im Jahr 2000 bei der englischen Interpretation des Musicals Jesus Christ Superstar . Gale Edwards setzt in seiner verfilmten Bühnenshow Tendenzen von antisemitischen Darstellungen fort: Die Vertreter des Judentums werden in dunkler Kleidung und mit bedrohlichen Gebärden als Monster gezeigt: „Jesus muss, Jesus muss sterben!“ Im Tempel feilschen wieder jüdische Geldwechsler und Händler: „Nur herein, kleine Preise hier, komm zu mir, beste Ware hier!“ Der Tempel ist zur Spielhölle und Go-Go-Bar geworden. Jesus: „Mein Haus war einst ein Haus des Friedens, doch ihr macht daraus eine Wucherhöhle! Haut ab!“ Kaiphas sagt in dem Streifen: „Wir bezahlen dich in Silber, Bargeld“ (...) „Judas: Ich brauche dein Blutgeld nicht!“ (…) Die Menge ruft: „Wir haben keinen König außer Caesar!“ (…) „Pilatus, kreuzige ihn! Kreuzigen! Erinnere dich an Caesar!“
Die wohl krassesten antisemitischen Klischees der jüngsten Zeit zeigt Mel Gibson in Die Passion Christi, entstanden in den USA 2004. Der Fim spielte mehr als sechshundert Millionen US-Dollar ein – und strotzt vor antisemitischen Formen. Gibson arbeitete mit Kontrasten: Hier die „schlechten“ Juden – dort die „guten“ Römer. Der Hohepriester, der Hohe Rat und große Teile des jüdischen Volkes werden im Film negativ gezeichnet. Römische Figuren werden dagegen aufgewertet, zum Beispiel die Frau des Pontius Pilatus. Im Film reicht diese Claudia der trauernden Maria strahlend weiße Trosttücher. Sie beobachtet die Geißelung Jesu mit Bestürzung und Missbilligung.
Selbst der brutale römische Statthalter Pontius Pilatus bekommt in Gibsons Film beinahe humane Züge – im Gegensatz zum Hohenpriester Kaiphas, der als schmutzig gekleideter Jude mit schiefen Zähnen völlig unsympathisch wirkt. Der Satan als androgyne Figur und als Gegenspieler Gottes schleicht durch die Reihen der Juden, als sei Jerusalem sein Reich und als seien die Juden sein Volk.
Die beiden großen Kirchen und der Zentralrat der Juden in Deutschland warnten vor 17 Jahren in einer gemeinsamen Erklärung vor einer antisemitischen Instrumentalisierung des Films: „Die Darstellung des Films birgt die Gefahr, dass antisemitische Vorurteile wiederaufleben. Dies ist besonders brisant angesichts einer Situation in Europa, in der ein Erstarken antisemitischer Tendenzen erkennbar ist.“
Überall auf der Welt können sich bis heute Regisseure offenbar ihrer judenfeindlichen Vorurteile nicht erwehren: In Maryam Al-Muqaddasah (Saint Mary; Iran 2002/2010) von Shahriar Bahrani leidet Maryam (Maria) unter dem Patriarchat. Sie öffnet sich jüdischen Frauen und wird als selbstbewusste, „emanzipierte“ Frau gezeichnet. „Wie kann ich erzählen, dass mich niemand berührt hat?“ Maryam steht in Konfrontation zu den jüdischen Autoritäten, die der Film als finstere und streng blickende Gestalten eindeutig antijüdisch zeigt. Dazu passt: Maryam wird in diesem Film von jüdischen Priestern belästigt. Der von „The Jesus-Film Project“ („Campus für Christus“) beauftragte, im japanischen Anime-Format gedrehte Film Die letzten drei Tage (2012) betont den Spott der Juden über Jesus am Kreuz: „Anderen hat er geholfen, nun soll er sich selbst helfen.“ Auch der Film Rabbuni oder die Erben des Königs aus dem Jahr 2015 zeigt überdeutlich antisemitische Tendenzen, wenn Juden mit Tieren verglichen werden.
Ein paar Lichtblicke
Aber es gibt auch ein paar Lichtblicke: In letzter Zeit gibt es drei neuere Jesus-Filme, die auf Antijudaismen verzichten. Da ist zum Beispiel Mark Dornford-May. Er aktualisiert in seinem sozialkritischen Film Son of Man (Südafrika 2006) das Leben und Wirken Jesu. Jesus vermittelt darin die Friedensbotschaft. Der Film-Jesus wächst in der südafrikanischen Stadt Judea auf und begeistert mit seinen Reden die Menschen. Die Regisseurin Brigitte Maria Mayer möchte in dem deutschen Film Jesus Cries aus dem Jahr 2015 eine „zeitgenössische Verfilmung der Geschichte von Jesus von Nazareth“ schaffen – und aufzeigen, dass „das Ende einer ungerechten Welt möglich ist“. Ein positives Beispiel ist auch der Film von Garth Davis Maria Magdalena: In der amerikanisch-britisch-australischen Koproduktion aus dem Jahr 2018 sind endlich ganz klar die Römer für die Kreuzigung Jesu verantwortlich. Der Film wertet die Rolle von Maria Magdalena (Rooney Mara) auf – er zeichnet ein faszinierendes Frauenporträt.
Einen originellen Ansatz wählt auch der Schweizer Regisseur Milo Rau in dem bisher jüngsten Jesus-Film 2019. Er betont in Das neue Evangelium, produziert von SRF SSR, ZDF, die radikale soziale Botschaft der Jesus-Geschichte mit Laiendarstellern. Rau zeigt die Alltagsrealität von Geflüchteten, die für Hungerlöhne in Italien auf Tomatenfarmen arbeiten. Hier ist Jesus ein politischer Aktivist, der eine Partei gründet, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern. Von Judenfeindlichkeit ist hier, rund hundert Jahre nach dem ersten Jesus-Film, überhaupt nichts zu sehen.
Manfred Tiemann
Manfred Tiemann ist Studiendirektor i.R. Er lebt in Heidenheim.