„Wachsen in allen Stücken“
In theologischen und ethischen Fragen, zum Beispiel beim Abendmahl oder in der Frage von Suizidassistenz in kirchlichen Einrichtungen, gibt es momentan erhebliche Dissense zwischen Protestanten und Katholiken. Trotzdem gilt: Ökumene ist biblisch geboten, wie der Neutestamentler Ulrich Heckel, der das Dezernat „Theologie, Gemeinde und weltweite Kirche“ der württembergischen Landeskirche in Stuttgart leitet, anhand seiner Analyse des Epheserbriefes zeigt.
Zu den ökumenisch meist zitierten Bibelworten gehört Epheser 4,5: „ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“. Darauf berufen sich Lutheraner schon im Jahre 1530 im Augsburger Bekenntnis bis in die jüngste Zeit in den Selbstverpflichtungen des Lutherischen Weltbundes (2018). Aus dem Epheserbrief begründet auch das II. Vatikanum die Einheit der Kirche und den Papst als „immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft“.
Nun möchte Kardinal Kurt Koch nach dem Vorbild der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von Vatikan und Lutherischem Weltbund (1999) eine weitere gemeinsame Erklärung über Kirche, Eucharistie und Amt erarbeiten. Auf diesem Felde hakt es zurzeit, wie die Kritik Kochs an der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zeigt (siehe Seite 71). Dabei könnte der Epheserbrief eine ideale Verständigungsgrundlage bieten.
Es ist eine Pointe, um nicht zu sagen Ironie der Kirchengeschichte, dass gerade der Epheserbrief erstmals programmatisch geleistet hat, was man 2000 Jahre später fordert, nämlich für die weltweite Kirche eine hermeneutisch reflektierte Theologie der Einheit zu entwickeln. Sieben Merkmale zählt er auf. Wie das altkirchliche Glaubensbekenntnis Nicaeno-Constantinopolitanum 387 im Glauben an „die eine, heilige, christliche und apostolische Kirche“ vier Kennzeichen der Kirche (notae ecclesiae) nennt, könnte man auch die sieben Einheitsaussagen aus Epheser 4,4–6 als notae unitatis bezeichnen, als sieben Kennzeichen für die Einheit der Kirche.
Der Epheserbrief erwähnt den Apostel Paulus als Verfasser, wird heute aber meist einem Paulusschüler um 90 nach Christus zugeschrieben. Drei Jahrzehnte nach dem Tod des Apostels wirft er die geradezu schon ökumenische Frage auf, was die von ihm gegründeten Gemeinden im ganzen Mittelmeerraum zusammenhält. Im Zentrum steht die Frage nach der Einheit der Kirche.
Die Einheit der Kirche aus Heiden und Juden: In Kapitel 2,11–18 erinnert der Autor daran, dass seine Adressaten einst als Heiden vom Bürgerrecht Israels ausgeschlossen waren, jetzt aber in Christus Jesus sind, der aus beiden „eins“ gemacht hat. Damit greift er das Resümee aus Galater 3,27f auf, dass hier nicht Jude noch Grieche ist, sondern „ihr seid auf Christus getauft“ und darum „allesamt einer in Christus Jesus.“ Und er verbindet es mit der Aussage in 1Korinther, dass alle Gemeindeglieder durch einen Geist in einen Leib getauft sind (12,13).
Durch Laib zum Leib
Für den leibhaftigen Paulus ist der Leib Christi das zentrale Leitbild für die Kirche. In Römer 7,4 bezieht er den Ausdruck exakt auf den Leib Jesu, der in den Tod gegeben wurde. Die Einsetzungsworte leiten daraus zweitens eine sakramentale Bedeutung ab: „Das ist mein Leib für euch“ (1Korinther 11,24), „die Gemeinschaft des Leibes Christi“ (10,16). Aus dieser Gemeinschaft folgert Paulus nun: Indem „alle“ von diesem „einen Brot“ essen, werden sie zu einer Einheit wie ein Leib mit vielen Gliedern. Die Gemeinschaft mit dem Leib Christi in der Mahlfeier begründet die Einheit der Gemeinde als Leib Christi. Oder in ein deutsches Wortspiel übertragen: Durch das Essen von dem einen Laib Brot sind sie alle der eine Leib, der Leib Christi.
Der Epheserbrief nimmt diese Einheitsaussagen aus Galater und 1Korinther nun so auf, dass Heiden und Juden durch die Taufe „in Christus Jesus“ „eins“ sind „in einem Leib“ und „in einem Geist“. Christus selbst ist das handelnde Subjekt: Er hat durch seinen Tod am Kreuz „Frieden gemacht“ und die Menschheit in einem Leib mit Gott „versöhnt“. Dass nun beide „Zugang“ zum Vater haben, ist ein kultischer Ausdruck für das Hinzutreten des Kultpersonals zum Heiligtum, das Treten vor Gott. Dieser Zugang geschieht im Gottesdienst, in dem die geistliche Einheit auch „in einem Leib“ sichtbar wird.
Die sieben Kennzeichen der Einheit: Weil Christus die Einheit der Kirche bereits „geschaffen“ hat (2,14f), gilt es diese nicht erst herzustellen, sondern zu „bewahren“ (4,3). Sieben Kennzeichen werden benannt (4,1–6). Die Aufzählung beginnt mit der Doppelwendung „ein Leib und ein Geist“, die auf Taufe und Herrenmahl anspielt (siehe oben). Dann folgt die „eine Hoffnung“, zu der alle Heiligen berufen sind, den Reichtum der göttlichen Herrlichkeit zu erben. Damit erhält die Einheit der Kirche eine endzeitliche Perspektive. Sie ist noch im Werden – oder bildlich gesprochen im Wachsen, im Aufbau, in der Vervollkommnung.
Die Trias „ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ ist im Epheserbrief stilistisch kunstvoll gestaltet. Der „eine Glaube“ fasst zusammen, worin die „Einheit des Glaubens“ (4,13) besteht: Was „alle“ verbindet, ist das Bekenntnis zu dem einen Herrn samt der „Erkenntnis des Sohnes Gottes“. Die „eine Taufe“ bringt auf den Begriff, dass durch die Taufe „alle“ einer sind in Christus (Galater 3,27f), „alle“ in einen Leib aufgenommen und mit einem Geist getränkt sind (1Korinther 12,13). Am Ende steht das Bekenntnis zu dem „einen Gott und Vater aller“ als Urheber, Grund und Garant der Einheit. An diesen sieben Kennzeichen hängt die Einheit der Kirche – mehr ist nicht erforderlich.
Das Amt, die Ämter und die Einheit der Kirche: Was unter den Kennzeichen der Einheit nicht aufgelistet wird, ist das Amt. Kommt der Epheserbrief auf Ämter zu sprechen (4,7–16), so nennt er immer mehrere Funktionen und auch die Amtspersonen stets im Plural. Die Einheit der Kirche lebt vom Evangelium der Versöhnung, das schon Christus verkündigt hat (2,17) und dessen Diener Paulus geworden ist (3,6–8). Da der Apostel seit bald drei Jahrzehnten verstorben ist, muss der Epheserbrief nun eine theologische Begründung für die Verstetigung der Verkündigung liefern.
„Apostel“ und „Propheten“ sind bereits Ämter der Vergangenheit, die ins-
besondere in Gestalt des Paulus wegen ihrer grundlegenden Botschaft selbst schon als „Fundament“ der ganzen Kirche (2,20f) bezeichnet werden. Dann folgen drei Ämter der Gegenwart: Der Titel „Evangelisten“ bezeichnet keine institutionalisierten Amtsträger, bringt aber treffend auf den Begriff, was grundsätzlich Wesen und Aufgabe eines jeden Funktionsträgers ist, nämlich das Evangelium vom Frieden Christi zu verkündigen.
Umschreibende Bezeichnungen
„Hirten und Lehrer“ ist eine Doppelwendung, die die Leitungsaufgabe umschreibt. Die Aufgabe der Lehrer besteht im Weitergeben des Glaubensbekenntnisses und von Jesusworten wie der Abendmahlsüberlieferung (1Korinther 11,23; 15,1–5). Das Wort „Hirten“ wird im Neuen Testament nur in Epheser 4,11 als Titel verwendet. Es ist hier aber noch keine feststehende Amtsbezeichnung, sondern bringt lediglich die Aufgabe der Gemeindeleitung auf den Begriff, die sonst durch das Bild des Weideauftrags umschrieben wird (so Apostelgeschichte 20,28; 1.Petrus 5,2; Johannes 21,15–17).
Christus selbst, der Gekreuzigte und Erhöhte, war es, der diese Ämter der Wortverkündigung „gab“ (4,11), also einsetzte (1.Korinther 12,5.28). Weil es um die Institutionalisierung solcher Ämter überhaupt geht, vermeidet der Autor des Epheserbriefes die sonst üblichen Amtsbezeichnungen Presbyter, Bischof oder Diakon, hebt aber umso nachdrücklicher das Wesen und die Aufgabe kirchlicher Leitungsfunktionen hervor. Offensichtlich will er durch seine umschreibenden Bezeichnungen die Ämterstruktur gerade nicht festschreiben, sondern nur die prinzipielle Notwendigkeit der Wortverkündigung einschärfen, die konkrete Ausgestaltung aber bewusst für unterschiedliche Entwicklungen offenhalten. „Fundament der Einheit“ sind im Epheserbrief also nicht die kirchlichen Ämter der Gegenwart (4,11), sondern allenfalls „die Apostel und Propheten“ der Gründergeneration (2,20), denen das Geheimnis des göttlichen Heilsplans offenbart wurde. Fundamental ist strenggenommen aber auch nicht deren Amt, sondern ihr Zeugnis des Evangeliums, wie es im Epheserbrief aufgeschrieben ist (3,3–9). Auch als „sichtbares Prinzip … der Einheit“ gelten im Epheserbrief nicht die Ämter, sondern das Evangelium, und zwar im doppelten Wortsinn des lateinischen principium: Anfang und Grundlage für die Einheit ist das Evangelium vom Frieden Christi, das im Gottesdienst seinen Sitz im Leben hat.
Folgerungen für die Ökumene: Der Epheserbrief fragt programmatisch nach der Einheit der Kirche. Das Bild vom einen Leib beschreibt nicht die einheitliche Organisation einer Körperschaft, sondern die Vitalität eines lebendigen Organismus. Mit der Vielfalt der Glieder sind nicht einzelne Kirchen gemeint, sondern alle in Christus Versöhnten. Die Einheit wird als personale Gemeinschaft der vom Geist Geheiligten, Gläubigen und Getauften verstanden, aber nicht von der Institution her gedeutet. Wesentlich bleibt nur die institutionelle Verankerung des Verkündigungsamtes, da die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden von der Verkündigung des Evangeliums lebt.
Als Gemeinschaft aller Gläubigen hat die Einheit der Kirche einen geistlichen Charakter, aber sie ist keine rein spirituelle oder ideelle Größe, sondern gewinnt leiblich sichtbare Gestalt, wo die Gemeinschaft der Versöhnten „in einem Leib“ zusammenkommt, das heißt: im Gottesdienst. Hier wird der Epheserbrief vorgelesen, das Evangelium des Friedens verkündigt, getauft, im Mahl die Gemeinschaft des Leibes Christi gefeiert, gebetet und gesungen. Diese Einheit gilt es in ökumenischen Gottesdiensten zu bewahren und wiederzugewinnen.
Das Sakrament der Einheit: Nach der Magdeburger Erklärung aus dem Jahre 2007, in der es erstmals zu einer formellen Vereinbarung über die wechselseitige Anerkennung der in elf verschiedenen Kirchen in Deutschland vollzogenen Taufen kam, gilt die „eine Taufe“ (Epheser 4,5) „als ein Zeichen der Einheit aller Christen“. Ist die Taufe als Sakrament der Einheit anerkannt, so stellt sich umso schmerzlicher die Frage, warum die Eucharistie beziehungsweise das Abendmahl immer noch das Sakrament der Trennung ist, an dem die Spaltung des Leibes Christi sichtbar wird. Oder paulinisch ausgedrückt: Warum die Aufnahme in den Leib Christi durch die Taufe akzeptiert werden kann, die Teilnahme an der Gemeinschaft des Leibes Christi in der Mahlfeier aber verwehrt bleiben soll. Dies ist ein krasser Widerspruch, mit Kardinal Kasper gesprochen „eine tiefe Wunde am Leib des Herrn und letztlich ein Skandal. Wir dürfen uns damit nicht abfinden.“
Nach Paulus geben beide Sakramente Anteil am Heil Christi (1Korinther 10,1–4), sowohl die anfängliche Aufnahme in den Leib Christi durch die Taufe (12,13) als auch die regelmäßige Vergegenwärtigung dieser Gemeinschaft im Herrenmahl (10,16f). Daher wäre es im Sinne einer paulinischen Theologie des Leibes Christi, im ökumenischen Gespräch vom „einen Leib“ ausgehend den Zusammenhang zwischen der Eingliederung durch die „eine Taufe“ und der Aktualisierung dieser „Gemeinschaft des Leibes Christi“ in der Mahlfeier beim Essen von dem „einen Brot“ neu herauszuarbeiten und für die Praxis zu entdecken.
Die gemeinsame Erklärung: Für die gemeinsame Erklärung über Kirche, Eucharistie und Amt bietet der Epheserbrief also eine ideale Grundlage. Sie könnte auf den sieben Kennzeichen der Einheit aufbauen. Auch zu den Ämtern könnte sie gemeinsam festhalten, dass sie von Christus eingesetzt sind und ihr Wesen durch die Verkündigung des Evangeliums bestimmt ist. Besteht in dieser biblischen Grundlage Einigkeit, müssten in einem differenzierten Konsens Unterschiede in der Ämterstruktur nicht mehr kirchentrennend wirken, sondern könnte die weltweite Kirche in versöhnter Verschiedenheit als lebendiger Organismus in der konkreten organisatorischen Ausgestaltung als Körperschaft, in Ämtern, Liturgie, Mission und Diakonie so vielfältig sein wie ein Leib mit vielen Gliedern. Dann könnte auch gezeigt werden, was die paulinische Theologie des Leibes Christi für Taufe und Abendmahl bedeutet.
Belastende Konflikte
Es ist sehr bedauerlich, dass aktuelle ökumenepolitische Konflikte zurzeit die theologische Grundsatzarbeit belasten. Sie bleibt wichtig, obwohl viele abwinken und zuweilen sagen: „Ach, die Theologen“. Aber um möglichst viele mitzunehmen auf dem Weg der Einheit und um eine im Wortsinne nachhaltige Lösung auch in Lehrfragen zu erreichen, die für Katholiken und unter den reformatorischen Kirchen, besonders für die Lutheraner, von vitalem Interesse bleiben, ist es wichtig, dass es auch auf dem Feld der Theologie zu Fortschritten kommt, die möglichst viele mittragen können.
Leitend könnte dabei, wie auf allen Feldern der Ökumene mit den christlichen Geschwistern, die eine Hoffnung auf die endzeitliche Vollendung der Einheit bleiben, die der Epheserbrief in diesen tiefen und schönen Satz gefasst hat: „Lasst uns wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus“ (4,15).
Ulrich Heckel
Dr. Ulrich Heckel ist Oberkirchenrat und Leiter des Dezernats Theologie, Gemeinde und weltweite Kirche der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen.