„Wenn es die Männer nicht machen …“
In zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen reflektiert die junge Frau ihren Glauben und ringt um eine tiefere Beziehung zu Gott: Sophie Scholl meinte es ernst mit ihrem Glauben, er war konstitutiv für ihren Widerstands- und Freiheitskampf. Sie war formal und inhaltlich Protestantin. Und sie lebte die Ökumene, als kaum jemand den Begriff kannte. Über die Widerstandskämpferin der „Weißen Rose“ berichtet ihr Biograf Robert M. Zoske.
In Schwäbisch-Hall (2004) und München (2018) tragen evangelische Kirchengemeinden ihren Namen, in Hamburg-Eimsbüttel zeigt das Altarfenster (1990) der Apostelkirche sie als moderne Gesandte Christi: Sophie Scholl. Zu Recht – oder ist das eine Vereinnahmung und Instrumentalisierung, weil religiöse Motive für den Widerstand der „Weißen Rose“ unerheblich waren? „Buhlen“ die Kirchen scheinheilig „um ihre ,Märtyrer‘“ und begehen damit „Missbrauch”, wie die Historikerin Miriam Gebhardt meint? Wie protestantisch war die junge Freiheitskämpferin, deren hundertsten Geburtstag am 9. Mai gedacht wird?
Sophie Scholl war evangelisch sozialisiert. Ihr Vater Robert verstand sich als kritisch-distanzierter Kulturprotestant, die Mutter Magdalene war als ehemalige Diakonisse eine tiefgläubige, fröhliche Pietistin. Ihre sechs Kinder wurden evangelisch-lutherisch getauft. Die älteste Tochter Inge ließ sich später erneut – am zweiten Todestag ihrer Geschwister 1945 – römisch-katholisch taufen.
Lina Sophie Scholl wird am 9. Mai 1921 im Hohenlohischen Forchtenberg geboren und am 10. Juli in der Michaelskirche getauft. Sie besucht eine Kleinkinderschule, die eine Diakonieschwester leitet, und den Kindergottesdienst der Gemeinde. Nach zweijährigem Unterricht wird sie 1937 in Ulm konfirmiert. Bis zu ihrem Abitur nimmt sie am evangelischen Religionsunterricht teil. Danach absolviert sie eine zweijährige Ausbildung zur Kindergärtnerin am evangelischen Fröbelseminar. Ihr letztes evangelisches Abendmahl feiert sie an ihrem Todestag, dem 22. Februar 1943, gemeinsam mit ihrem Bruder Hans im Gefängnis München-Stadelheim. Die Beerdigung im benachbarten Perlacher Friedhof erfolgt zwei Tage später durch den evangelischen Gefängnispfarrer. Formal fällt die Antwort auf die Frage nach Sophie Scholls Konfession also eindeutig aus: Sie war von der Wiege bis zur Bahre evangelisch. Gilt das auch für ihre persönliche Frömmigkeit? Die inhaltliche Analyse ihrer Religiosität kann auf breiter Quellenbasis erfolgen. In zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen reflektiert die junge Frau ihren Glauben und ringt um eine tiefere Beziehung zu Gott. Die Reformation um Martin Luther hat vier theologische Grundsätze formuliert, die den evangelischen Glauben kennzeichnen: „Allein der Glaube“ (Solus Fide), „Allein die Gnade“ (Sola Gratia), „Allein Christus“ (Solus Christus), „Allein die Bibel“ (Sola Scriptura). Sind diese „Vier Soli“ in Sophie Scholls Leben sichtbar?
Allein der Glaube
Das früheste Zeugnis von Sophie Scholls Frömmigkeit ist ihr Eintrag im Poesiealbum einer Freundin. Die Zehnjährige malt in Schönschrift: „Lass nie den frohen Mut Dir rauben. / Und halte fest an Deinem Glauben / In guten, wie in schlimmen Tagen, / So wirst die Last du leichter tragen. / Ein fester Stab ist kindlich Gottvertrau’n!“ Auch wenn die Mutter ihr diese Worte vorgelegt haben sollte, so müssen sie Sophie doch zugesagt haben, denn sonst hätte sie diese nicht säuberlich eingetragen. Die späteste Glaubensaussage Sophies wird von Magdalene Scholl erzählt. Sie habe ihrer Tochter in den letzten Minuten im Gefängnis, als ihr lächelndes Gesicht ganz nahe gewesen sei, gesagt: „Aber gelt, Jesus“ und sie habe „überzeugend, fast befehlend“ geantwortet: „Ja, aber Du auch.“ Sophie bekräftigte hier ihren Glauben an Jesus und forderte zugleich die Mutter auf, in der vor ihr liegenden schweren Zeit Christus zu vertrauen.
Allein die Gnade
Sophie Scholl erlebte Gottes alltägliche Gnade. Während der Krieg tobte, betrachtet sie Wassertropfen auf zwei Rosen. Sie reihten sich wie „winzige Perlen“ aneinander: „Wie schön u. rein dies aussieht, welch kühlen Gleichmut es ausstrahlt“, schreibt sie und staunt: „Daß es dieses gibt. Daß der Wald so einfach weiter wächst, das Korn u. die Blumen, daß Wasserstoff und Sauerstoff sich zusammengetan haben zu solch wunderbaren lauwarmen Sommerregentropfen. Manchmal kommt mir dies mit solcher Macht zu Bewußtsein, daß ich ganz voll davon bin [...]. Dies alles gibt es, trotzdem sich der Mensch inmitten der ganzen Schöpfung so unmenschlich und nicht einmal tierisch aufführt. Allein dies ist schon eine große Gnade.“
Sophie Scholl vertraute Gottes universaler Gnade. Als eine Freundin sie nach dem Fegefeuer fragt, antwortet sie, noch nie über „Zwischenstationen“ und „die ewige Seligkeit“ nachgedacht zu haben. Sie wolle zwar nichts ausschließen und habe hierzu noch keine abschließende Meinung, aber die Bilder, die davon gemalt würden, seien ihr fremd. Doch von einem ist sie überzeugt: „Für mich gäbe es nur ein ‚in Gott’ oder ‚außer Gott’ nach dem Tode.“ Im Roman „Kristin Lavranstochter“ der norwegischen Schriftstellerin Sigrid Undset habe sie gelesen, Kristin hoffe, „daß dieses Feuer ihre harte und unreine Seele vollends läutere“. Sophie folgert scharfsinnig und zuversichtlich: „Demnach wäre es ja auch nur wieder eine Gnade.“
Allein Christus
Sophies Tagebuchhefte sind voll inniger Gebete. Ihre Zwiesprache ist oft ein seelisches Ringen, in dem sie explizit auf Christus Bezug nimmt. Sie schrieb, „gegen die Dürre des Herzens“ helfe „nur das Gebet, und sei es noch so arm und klein“. Sophie erfuhr, wie schwer es zuweilen ist, Gott zu vertrauen, aber sie wollte mit aller Macht glauben.
Als die entscheidende Phase des aktiven Widerstands näher rückte, wurde Sophie von Ängsten geplagt. Sie fühle sich wie ein „Versinkender“, dem „die unheimlichen Wesen auf dem Meeresgrunde [...] Beine und Arme umklammern, und die Wogen über ihm zusammenschlagen.“ Sie könne sich jetzt nicht, „anstatt um Hilfe zu rufen [...], über irgendein wissenschaftliches, philosophisches oder theologisches Thema“ auslassen, weil sie „Angst in sich habe und nichts als Angst“ und sich nur nach dem sehne, der ihr diese Angst abnehme. Doch: „Ich bin Gott noch so ferne, daß ich ihn nicht einmal beim Gebet spüre. Ja manchmal, wenn ich den Namen Gott ausspreche, will ich in ein Nichts versinken. Das ist nicht etwa schrecklich, oder schwindelerregend, es ist gar nicht – und das ist noch viel entsetzlicher. Doch hilft dagegen nur das Gebet, und wenn in mir noch so viele Teufel rasen, ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat, und wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle.“
Ihrem Freund, dem Berufsoffizier Fritz Hartnagel, wünschte Sophie sehr, dass er in Russland in einem Gottesdienst am Abendmahl teilnehmen könne, damit er diese „Trost- und Kraftquelle“ erfahre. Sie selber erlebte Christi Gegenwart im Abendmahl.
Für Sophie kam es darauf an, der Menge zu trotzen, zielstrebig und ohne Umwege Gott zu suchen – wie Jesus: „Aber im Grunde kommt es ja nur darauf an, ob wir bestehen, ob wir uns halten können in der Masse, die nach nichts anderem als nach Nutzen trachtet. [...] Wahrscheinlich hat es bisher nur ein Mensch fertiggebracht, ganz gerade den Weg zu Gott zu gehen. Aber wer sucht den heute noch?“
Allein die Bibel
Die Bibel war für Sophie Scholl die Glaubensrichtschnur. Als Fritz Hartnagel von einer Diskussion berichtet, bei der seine Kameraden den Überlebenskampf in der von Gott „sehr gut“ geschaffenen Natur als vorbildhaft für das kriegerische Gegeneinander der Völker hinstellen, nimmt Sophie die Lutherbibel zur Hand und erklärt, dass die Schöpfung mit dem Sündenfall von Adam und Eva „gefallen“ und damit nicht mehr „sehr gut“ sei. Sie zitiert mehrere Verse aus dem Paulusbrief an die Römer. Dabei unterstreicht sie ein Wort: „Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um deß willen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung.“ Der kriegerische Exzess war also von Menschen gemacht und nicht „natürlich“. Dann fordert sie Fritz begeistert auf, „unbedingt“ einen „herrlichen Satz zu Beginn“ des Kapitels zu lesen: „Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“ Sie fragt, und es ist eigentlich eine Feststellung: „Sind jene nicht arm, entsetzlich arm, die dies nicht wissen und [nicht] glauben?“ Gemeint sind damit Hartnagels Gesprächspartner, die glaubten, sie seien dem Gesetz des Sozialdarwinismus unterworfen und müssten grausam handeln, um überleben zu können.
Sophie überlegt dabei auch, dass diese Offiziere womöglich gar nicht „frei gemacht“ werden wollten, weil sie in ihrem „dummen Hochmut“ in diesem „Gesetz der Sünde und des Todes“ eine Rechtfertigung für ihre Brutalität sehen. Doch die Natur könne kein Vorbild für menschliches Handeln sein, denn der Mensch habe doch auch Teil an einer spirituellen Wirklichkeit.
Und dann kommt der entscheidende, weil ihr Wesen kennzeichnende Satz: „Ja wir glauben auch an den Sieg der Stärkeren, aber der Stärkeren im Geiste.“ Sophie eignete sich in ihrem langen Brief den Bibeltext existenziell an, so, wie sie das vielfach tat. Sie studierte die Bibel ohne akademisch-theologische Reflexion, ohne dogmatisches Wissen oder kirchliche Vermittlung, sie las und hörte dabei auf Gott.
Von 1935 bis 1937 hatte Sophie Scholl Konfirmandenunterricht bei dem zunächst nazibegeisterten, dann distanzierten Bekenntnispfarrer Gustav Oehler an der Ulmer Pauluskirche. Für ihn gehörten Glauben und Politik zusammen: „Evangelisch sind wir, wenn wir beten, wenn wir Glaubenssachen rein halten von Politik [...]; protestantisch, wenn wir nicht nur betend warten, sondern bestimmend in den Gang der Dinge eingreifen. Evangelisch ist es, die Dinge dieser Welt und die des Reiches Gottes streng getrennt zu halten; protestantisch ist es, das Evangelium in Beziehung zu allen Dingen dieser Welt zu setzen. [...] Wir dürfen weder auf der Kanzel fehlen noch auf der Tribüne. Es gilt, politisch zu sein, als wäre mans nicht.“In diesem Sinne kann man Sophie Scholl als Christin bezeichnen, die evangelisch glaubte und protestantisch handelte. Im kirchlichen Unterricht hatte sie gelernt, dass man nicht nur glauben, sondern auch handeln muss: „Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein.“ Sie erklärte einer Freundin, sie wolle nicht durch Untätigkeit schuldig werden. Zwar verstehe sie nichts von Politik, sie habe aber ein Gespür für Recht und Unrecht. Darum müsse sie gegen den Unrechtsstaat kämpfen, wenn sie eine Waffe hätte, würde sie Hitler erschießen: „Wenn es die Männer nicht machen, muß es eben eine Frau tun.“
Sophie Scholl meinte es ernst mit ihrem Glauben, er war konstitutiv für ihren Widerstands- und Freiheitskampf, sie war formal und inhaltlich Protestantin. Und sie lebte die Ökumene, als kaum jemand den Begriff kannte, denn die Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ bestand aus hingebungsvoll gläubigen Menschen: den katholischen Christen Willi Graf und Kurt Huber, dem russisch-orthodoxen Christen Alexander Schmorell, dem Gottsucher und zuletzt Katholiken Christoph Propst und den evangelischen Geschwistern Scholl.
Jede Kirchengemeinde, die Sophie Scholls Namen trägt oder sie auf andere Weise ehrt, kann froh über dieses Vorbild für Zivilcourage und Glaubensmut sein.