Hurra, es gibt keine Mehrheit mehr!
Willkommen in der polykulturellen Ära! Es gibt keine Mehrheit mehr, sondern nur noch Minderheiten. Wenn wir das akzeptierten, führe die Debatte um „Identitätspolitik“ nicht zur Spaltung, sondern zu einer inklusiven Gesellschaft, meint der Kommunikationsexperte Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach.
Spaltet die identitätspolitische Debatte die Gesellschaft? Was hält eine Gesellschaft noch zusammen, wenn der Ton zwischen einzelnen Gruppen rauer wird und sich Positionen unversöhnlicher gegenüber zu stehen scheinen? Die Reaktionen auf Wolfgang Thierse und Gesine Schwan zeigen einige der Bruchlinien im Diskurs, Aber im Windschatten des Versuchs, den wachsenden Widerspruch gegen vormals meinungsprägende Positionen als „Cancel Culture“ zu diffamieren, ist in meinen Augen eine gute und zielführende Debatte entstanden, die über Gesellschaft, Gemeinschaft, kollektive Identitäten oder identitäre Kollektive nachdenken lässt.
Eine der wichtigsten aktuellen gesellschaftlichen Bruchlinien ist, dass heute mehr Menschen als je zuvor harte, teilweise hässliche Gegenreaktionen erleben. Die These dieses Textes ist, dass das zum einen daran liegt, dass es keine „Mehrheitsgesellschaft“ mehr gibt; und zum anderen daran, dass insbesondere Menschen, die sich vor zehn Jahren zur „Mehrheitsgesellschaft“ gezählt hätten, zum ersten Mal in diese Situation geraten. Eine Situation, in der Linke in den 1980ern in der Bundesrepublik waren oder Christ:innen die längste Zeit in der DDR – und rassistisch markierte Personen schon immer fast überall. Um nur drei Beispiele zu nennen.
Doch die Mehrheiten lösen sich auf, in eher urbaneren Gegenden gibt es bereits keine Mehrheit mehr, in anderen Gegenden ist sie vielleicht gerade noch vorhanden, aber ebenfalls schon auf dem Rückzug. Wir befinden uns in Deutschland, davon bin ich überzeugt, gerade am Kipppunkt zur polykulturellen Ära, was auch die zunehmende Härte in der Auseinandersetzung erklärt. In den USA hat die polykulturelle Ära bereits begonnen.
Identität durch kulturellen Ausdruck
Im Kern und sehr stark vergröbert geht es bei der Beschreibung „polykulturell“ darum, dass sich Identität heute über kulturellen Ausdruck konstituiert und nicht mehr ausschließlich über Herkunft oder Markierung, also Fremdzuschreibungen. Letzteres war typisch für die multikulturelle Zeit, aus der wir kommen. Denn „multikulturell“ bezog sich immer eher auf das kulturelle Erbe vor allem von eingewanderten Gruppen – und es war immer bezogen auf eine Leitkultur (mal von der hochproblematischen Konnotation des Begriffs selbst abgesehen), also die Kultur der damaligen Mehrheitsgesellschaft, was meist die seit vielen Generationen indigene Mehrheit eines Landes war.
Die Beschreibung der Gegenwart als polykulturelle Ära dagegen versucht auszudrücken, wie Menschen sich jenseits von Fremdzuschreibung einer Gruppe zuordnen, indem sie sich gemeinsam kulturell ausdrücken. Die besondere Erfahrung, die sie dabei machen, ist, dass sie einerseits eine Art kulturelle Identität im Kollektiv entdecken und andererseits bezogen auf die Gesamtgesellschaft eine (kleine) Minderheit sind. Was ich dabei besonders spannend zu beobachten finde, ist, dass auch identitäre Kollektive, die sich selbst noch „gefühlt“ als Mehrheit erleben, mit der Erkenntnis umgehen müssen, dass sie Minderheiten sind Beispielsweise sind in meiner Heimat in Schleswig-Holstein evangelische Christ:innen schon lange eine Minderheit. Und das, ohne dass eine Politik, die sich auf diese Identität beruft, als „Identitätspolitik“ diffamiert würde. Und nur am Rande: Der Konflikt zwischen der Leitung der evangelischen Kirche und einigen so genannten Konservativen in ihr hängt meiner Meinung nach wesentlich damit zusammen, dass diese Konservativen nicht sehen oder nicht akzeptieren, dass Christ:innen inzwischen eine gesellschaftliche Minderheit sind.
Eine Gesellschaft ist dann in der polykulturellen Ära angekommen, wenn es keine Mehrheitsgesellschaft mehr gibt, sondern wenn (polykulturelle) Minderheiten zusammen die Mehrheit bilden. Das heißt zunächst nicht, dass sie im Diskurs oder politisch bereits eine Mehrheit wären. Denn dafür wäre es ja nötig, dass sie identitätspolitische Koalitionen bilden, wie es beispielsweise die Demokratische Partei in den USA gemacht hat. Aber es heißt, dass es eben keine kulturelle Identität mehr gibt, die die Mehrheit der Menschen abbildet. Die Selbstbeschreibung der Grünen als Bündnispartei versucht meines Erachtens darauf eine Antwort zu geben – auch wenn sie (noch) nicht klar benennt, dass wir in einer Gesellschaft einer polykulturellen Minderheiten-Mehrheit leben.
Diskurs ohne Mehrheit nicht gelernt
Wenn es in Deutschland um Rechte oder Beteiligung von Minderheiten ging, wurde das in den letzten Jahrzehnten ganz überwiegend auf der Folie diskutiert, dass diese Minderheiten und eine Mehrheit in Beziehung zu bringen seien. Formate wie „Integrationsgipfel“ sprechen da eine klare Sprache. Oft schwang dann auch mehr oder weniger hilfreich das Thema Leitkultur mit. Auch die aktuelle Diskussion, wie sie von und über Schwan, Thierse und andere geführt wird, bezieht sich noch auf diese Konstruktion. Beispielsweise, wenn Menschen, die sich als Teil einer Mehrheit wähnen, teilweise mit dem untauglichen Mittel der Kritik an Ton und Stil fordern, eben diese Mehrheit mitzunehmen und mitzudenken. Diese Irritation wiederum ist für andere Menschen schwer zu verstehen oder auch nur nachzuvollziehen, die bereits wissen, dass die multikulturelle Phase einer Mehrheitsgesellschaft, in die Minderheiten integriert werden wollen und sollen, vorbei ist. Auch hier eine Randbemerkung: Auf einem anderen politischen Feld ist die (Fach-) Diskussion schon ein bisschen weiter, wenn das frühere Thema Integration von Menschen mit Behinderungen durch das sehr viel präzisere Konzept Inklusion abgelöst wird.
Wir sehen also, dass im Grunde Menschen miteinander diskutieren, die sich gar nicht auf eine gemeinsame Grundlage für das Gespräch geeinigt haben – wahrscheinlich vor allem deshalb, weil ihnen nicht einmal bewusst ist, dass sie hier von verschiedenen Voraussetzungen ausgehen. Denn die kritisierte Position von Schwan/Thierse (hier nur pars pro toto, nicht persönlich) ist nur sinnvoll, wenn sie davon ausgeht, dass es (noch) eine Mehrheitsgesellschaft gibt. Und die Kritik daran ist nur dann logisch und sachlich, wenn ich eine polykulturelle Minderheiten-Mehrheit annehme. Dass ich letztere Beschreibung der Wirklichkeit für richtiger halte, sollte im Kontext dieses Textes klar sein.
Wenn ich anerkenne, dass es keine kulturelle Identität mehr gibt, die die Mehrheit abbildet, versachlicht sich die Diskussion sofort. Denn es geht dann nicht mehr darum, Minderheit und Mehrheit in einen Ausgleich zu bringen oder eine Minderheit in eine Mehrheit zu integrieren. Sondern es geht dann um die Frage, wie angesichts einer Minderheiten-Mehrheit Zusammenhalt entsteht, wie eine inklusive Gesellschaft sein kann.
Doch einen Diskurs ohne Mehrheitskonzept zu führen, haben die meisten Menschen in diesem Land nicht gelernt. Menschen, die sich selbst in der Mehrheit wähnen, erleben darum solche, die sich als Minderheit erkennen, in diesem Diskurs oft als unversöhnlich oder aggressiv (weil sie eben diese vermeintliche Mehrheit nicht anerkennen). Menschen, die sich als Teil einer kollektiven Minderheiten-Identität erleben, empfinden dagegen solche, die sich für eine Mehrheit halten, als ausgrenzend oder aggressiv (weil sie für sich eine Mehrheit beanspruchen, die sie nicht haben).
Verletzungen nicht zu verhindern
Eine Gesellschaft, die sich aus einer multikulturellen Zeit mit einer Mehrheit in eine polykulturelle Ära mit einer Minderheiten-Mehrheit entwickelt, ist im Umbruch. Dass ein Umbruch mit Verletzungen einhergeht, ist nicht zu verhindern. Denn sowohl Verlusterfahrungen als auch Beteiligungsansprüche führen dazu, dass Menschen emotional involviert sind und – richtigerweise – nicht einfach nur rational argumentieren (wollen). Die einen werden es als Abwehrkampf und die anderen als Aufbegehren erleben. Beides werden wir hinnehmen müssen. Wenn wir als Gesellschaft aber lernen, einen Diskurs ohne Mehrheit zu führen, haben wir, davon bin ich überzeugt, eine Chance, etwas Neues zu schaffen. Etwas, das uns wieder zusammenführt.
Wenn nun eine Gesellschaft entsteht, in der diverse polykulturelle Minderheiten zusammen die Mehrheit bilden, dann ist das etwas anderes als die (postmoderne) Idee im Grunde fraktaler Persönlichkeiten, also die Idee, dass ich mich aus verschiedenen kulturellen Entwürfen bediene, um meine je eigene Identität zu formen. Das zu unterscheiden ist meines Erachtens wichtig, weil der kulturelle Eklektizismus der Postmoderne als Ausformung der Hyperindividualität und der Verachtung (oder ideologischen Abschaffung) von Gesellschaft des Thatcher-Reagan-Liberalismus zu einer Erosion kollektiver kultureller Erfahrungen und Identitäten bei denen geführt hat, die damals die Mehrheitsgesellschaft bildeten. Das ging einher mit einer ziemlich radikalen Entpolitisierung von kulturellen Ausdrucksformen für ebenfalls diese Gruppe von Menschen.
Vor allem Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft als Minderheiten markiert wurden, haben dagegen durchaus kollektive Identitäten erlebt und gebildet, vielleicht auch verstärkt dadurch, dass sie im Rahmen der multikulturellen Idee in ihre je „eigenen“ Identitätsräume abgedrängt wurden. Und so stehen sich nun im Umbruch zur polykulturellen Ära Gruppen von Menschen gegenüber, die sehr unterschiedliche Erfahrungen haben.
Verändertes Gesamtgefüge
Tatsächlich ist dabei auffällig, dass auch für die ehemalige Mehrheitsgesellschaft die postmoderne Individualität (wieder) abgelöst wird von Gruppenerfahrungen. Nur dass eben selbst für diese keine Mehrheitsgesellschaft mehr dabei herauskommt, sondern eine Vielzahl von kollektiven Identitäten, die sich kulturell mehr oder weniger gemeinsam ausdrücken. Diese polykulturelle Erfahrung, die vor allem die Generation der bis Dreißigjährigen auch schon lange im Alltag macht, verändert nun sowohl die Gesellschaft als auch den gesellschaftlichen Diskurs – bis hin zum Widerspruch gegen unreflektierte Privilegien und das selbstpostulierte Recht der ehemaligen Mehrheit, unwidersprochen ihre Ressentiments oder Exklusionen verbreiten zu können. Der autoritäre Aufschrei, man „dürfe“ nichts mehr sagen, lässt sich dann auch gut damit erklären, dass eine ehemalige und noch gefühlte Mehrheit auf einmal Minderheitenerfahrungen macht. Der Zorn ist also im Grunde verständlich – und strukturell nicht unähnlich einem Zorn, den (andere) Minderheiten haben, wenn sie sehen, dass ihre Wahrnehmung und Teilhabe beschnitten ist.
Wenn die meisten in einer Gesellschaft nun aber die Erfahrung machen, dass sie zu einer Minderheit gehören, verändert dies das Gesamtgefüge der Gesellschaft. Und ich denke, zum Besseren. Beispielsweise erklärt es, wieso gendersensible Sprache oder identitätssensibles Handeln von neuen polykulturellen Minderheiten-Mehrheiten als Selbstverständlichkeit betrachtet und auch eingefordert werden: Der eigene kulturelle Minderheitenstatus ermöglicht, Ausgrenzung und Marginalisierung anderer eher wahrzunehmen, als wenn ich mich zu einer Mehrheit dazugehörig fühle.
Menschen, die auf die Rechte oder auch nur Anerkennung einer Minderheit pochen, die für Teilhabe einer Minderheit streiten, sind also keineswegs dafür mitverantwortlich, die angebliche Mehrheit „mitzunehmen“ oder für den Zusammenhalt zu sorgen, sich zu integrieren. Denn sie wissen aus Erfahrung, dass eine Teilhabe von Minderheiten und eine (kulturelle) Sensibilität für Minderheiten de facto Teilhabe und Sensibilität für die Mehrheit bedeutet. Und dass dies zu einer inklusiven Gesellschaft führen kann und wird.
Intersektionale Solidarität
Für die Gesellschaft ist, wie schon angedeutet, die neue Zeit einer polykulturellen Minderheiten-Mehrheit ein Gewinn. Denn sie hat damit eine realistische Chance, inklusiver, offener und auch sensibler zu werden. Und alles drei halte ich für Kerneigenschaften einer modernen liberalen Demokratie. Viele Liberale haben bis heute Vorbehalte sowohl gegen Konzepte vom Kollektiv als auch gegen solche, die auf Identität beruhen. Aber kollektive Identitäten spielen in der polykulturellen Ära aus meiner Sicht eine entscheidende und positive Rolle: Durch die Erfahrungen des Minderheitenstatus, die ich in meiner kollektiven Identität mache, öffnet sich der gedankliche Möglichkeitsraum für Minderheitenrechte, für Sensibilität, für die Offenheit für andere kulturelle Ausdrucksformen – und am Ende für Inklusion.
Wenn eine Gesellschaft mit einer polykulturellen Minderheiten-Mehrheit nicht so zerfallen soll, dass es für glühende Anhänger:innen Thatchers ein Fest ist, stellt sich die Frage, was denn das Verbindende sein kann, das die vielen (teilweise sehr kleinen) kollektiven Identitäten in einer liberalen Gesellschaft zusammenhält.
Eine mögliche Antwort diskutiert die identitätspolitische Debatte schon lange unter dem Stichwort Intersektionalität. Ausgangspunkt ist meistens die Beobachtung, wie eine polykulturelle Minderheitserfahrung dazu führen kann, dass Gruppen einander wieder ausgrenzen – und wie genau das eben auch vermieden werden könnte.
Gesellschaftlichen Zusammenhalt kann das (politische) Leitmotiv der „intersektionalen Solidarität“ bringen, das im Anschluss an die Goldene Regel (oder den kategorischen Imperativ, je nach religiös-philosophischem Geschmack) eine Handlungsmaxime formuliert: Aus der eigenen Minderheitserfahrung lerne ich, dass ich (anderen) Minderheiten zuhören und ihre Bedürfnisse als meinen gleichwertig ansehen sollte.
Dass dieses Leitmotiv dem Urzustand bei John Rawls nicht unähnlich ist, ist sicher kein Zufall. Neu ist, dass der Schleier der Unwissenheit, mit dem Rawls noch die Sensibilität für die eigenen Privilegien schaffen wollte, durch die Realität abgelöst wird, in der jede:r einzelne in jeder Situation, in der Regeln und Gemeinsamkeiten ausgehandelt werden, in der Minderheit ist.
Mit intersektionaler Solidarität hat eine Gesellschaft, in der es eine polykulturelle Minderheiten-Mehrheit gibt, eine Chance, als offene liberale Demokratie einen weiteren Schritt auf eine inklusive, sensible Gesellschaft hin zu machen. Eine Gesellschaft, in der kollektive Identitäten, die um ihren Minderheitenstatus wissen, gemeinsam Teilhabe und sensiblen Umgang miteinander schaffen. Und in der sie einen Diskurs ermöglichen, der auf gegenseitigem Respekt und Rücksicht basiert – eine Rücksicht, die dadurch entsteht, dass jede:r Einzelne immer wieder auch in der Minderheit ist.
Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach
Wolfgang Lünenbuerger-Reidenbach ist Head of Creativity für Europa und Afrika bei der Kommunikationsagentur Burson Cohn & Wolfe. Er ist stellvertretendes Mitglied der zwölften EKD-Synode. Er bloggt auf https://www.haltungsturnen.de/ und twittert unter https://twitter.com/luebue.