Fußball als Religion

Hans-Ulrich Probst betreibt religiöse Feldforschung unter Fußballfans
Hans-Ulrich Probst
Foto: Julian Rettig

Der württembergische Theologe Hans-Ulrich Probst hat über die Fanszene der Stuttgarter Kickers promoviert und dabei ihre Lebenswelt vor dem Hintergrund ihrer religiösen Konnotationen vermessen und analysiert.

Keine Frage, ich habe eine „klassische“ kirchlich-theologische Sozialisation durchlaufen. Und das auch noch in Württemberg, denn ich entstamme einem Pfarrhaus und besuchte ab der neunten Klasse die kirchlichen Seminare in Maulbronn und Blaubeuren. Dort wurde wohl schon eine Spur gelegt für das Theologiestudium, auch wenn ich das während der Schulzeit stets abgetan hatte.

Prägend war dann ein Friedensdienst mit der Aktion Sühnezeichen in Belarus 2008/09. Ich habe bis heute noch viele Kontakte dorthin und war immer wieder dort. Die prägenden Erfahrungen in dieser Arbeit führten zum Entschluss für das Theologiestudium. Später kam durch den Fokus auf den jüdisch-christlichen Dialog noch ein Judaistikstudium hinzu. Beide Fächer studierte ich in Berlin, in Tübingen und an der Hebrew University in Jerusalem.

Die ersten Semester an der Humboldt-Universität absolvierte ich mit einer kritischen "Ich-glaube-ich-ziehe-das-nicht-durch"-Haltung. Heute bin ich dankbar dafür. Das hat durch Veranstaltungen in Geschichte oder in den Sozialwissenschaften ein interdisziplinäres Interesse geweckt. Zum Ende des Studiums hat mich dann Wilhelm Gräb im Bereich der Praktischen Theologie sehr geprägt – die intensive Arbeit und Auseinandersetzung mit ihm gefiel mir, besonders auch, dass er Widerspruch geradezu herausforderte! Zur gleichen Zeit begegnete ich dem Soziologen Hans Joas. Bei ihm habe ich zwei Semester lang Klassiker der Religionssoziologie gelesen – angefangen mit William James und Emil Dürkheim bis hin zu neueren Entwürfen. Joas war nicht nur bereichernd, sondern ist für mich im Rückblick ein richtiger Lehrer im Studium gewesen. Diese Zeit hat bei mir die Erkenntnis reifen lassen: Wer in der Gegenwart sinnvoll Theologie treiben will, kommt nicht umhin, über gelebte Religion nachzudenken, eine soziologische Perspektive auf das Phänomen der Religion und damit auch auf die Entwicklung und Transformation von Religion zu richten.

Dieses religionssoziologische Interesse verband sich mit der eigenen Begeisterung für den Fußball: Als Kind war ich Fan des VfB Stuttgart. In Berlin lernte ich als Besucher Union Berlin schätzen und war im Stadion an der Alten Försterei in Berlin-Köpenick. Bei den Heimspielen hörte ich staunend den Traueransagen während der Halbzeitpause zu: Die Verstorbenen seien, so der Stadionsprecher, „jetzt oben in der Union-Wolke“, würden „auf uns niederschauen“ und „mit uns gemeinsam heute für den Dreier im Heimspiel“ kämpfen. Es folgte andächtiges Schweigen im Stadion und dann der dreifache, gleichsam liturgische Ruf: „Eisern Union!“

Diese und ähnliche Phänomene machte ich zum Thema meiner Studienabschlussarbeit, die ich bei Wilhelm Gräb schrieb.

Im Zuge dieser Arbeit habe ich mich mit ritualtheoretischen Fragen beschäftigt und stieß weiter auf eine Debatte der Union-Berlin-Fans im Internet, in der es darum ging, ob für die Verstorbenen ein Friedwald direkt neben dem Stadion eingerichtet werden sollte. Dazu kam es dann zwar nicht, aber die Debatte im digitalen Fan-Forum fand ich hochinteressant, spiegelte sich doch darin eine Auseinandersetzung in Kombination mit dem Halbzeitgedenken des Stadionsprechers und der Frage: „Was passiert mit uns, wenn wir ableben, und was passiert mit uns im Verhältnis zu unserem Fanobjekt?“ Eine Frage, die die Fans anscheinend umtrieb.

Ich ging dann zum Examen nach Tübingen, wo mich die Praktische Theologin Birgit Weyel sehr ermutigte, Fußballfankultur in einer Dissertation noch einmal aufzugreifen. Zunächst plante ich das Thema in vergleichender Perspektive anzugehen: ein internationaler Großverein, oder vielleicht RB Leipzig, versus Stuttgarter Kickers, den Amateurclub. Aber nachdem ich im Frühsommer 2016 zum ersten Mal ein Heimspiel der Stuttgarter Kickers besucht hatte, wurde mir klar, dass es besser ist, ethnografische Feldforschung nur in einer Fanszene zu betreiben – das aber gründlich. Denn schon bei diesem einzigen Verein war das Spektrum der Anhängerschaft ungemein vielfältig und ausdifferenziert: Da sind die sogenannten Ultras, also die fanatisch engverbundenen Fans mit gemeinsamen Aktionen und Choreografien, da gibt es Familien, die seit Generationen mit dem Verein verbunden sind, einzelne Fans stehen im Stadion ohne Anbindung an Fangruppen, es existieren Fanclubs und man findet Männerbünde mehr oder minder zufälliger Provenienz, die sich nur zum Spiel treffen.

Fast drei Jahre war ich nun mit verschiedenen Fans der Stuttgarter Kickers unterwegs und habe sehr viel über diese Lebenswelt erfahren. Ich bin mit Fans zu Auswärtsspielen gefahren, saß mit ihnen am Stammtisch und habe mit ihnen den Abstieg der Mannschaft betrauert. Die Ergebnisse sind in meiner Dissertation, die ich kürzlich abschließen konnte, rekonstruiert und gedeutet.

Generell kann ich sagen, dass das Verhältnis der Fans zur Mannschaft und ihrem Erfolg nur ein Aspekt in einem vielfältigen Geflecht des Fan-Seins darstellt. Dazu gehören ebenso materielle Gegenstände, die sakralisiert werden. Oder die Gespräche und Vergemeinschaftungen vor dem Spiel, nach dem Spiel sind mindestens genauso wichtig. Fan-Sein, das ist etwas, was im Alltag weiterwirkt – davon zeugen viele Aktivitäten der Fangruppen jenseits des Spieltages. Im Kontext dieser Fankultur passiert ungemein viel an individueller Sinnarbeit. Eigene Identität und Biografie ist aufs engste verwoben mit dem Fanobjekt. Das Leben vieler Fans, mit allen Höhen und Tiefen, wird beim Fußball verhandelt.

Die Riten und Sinndimensionen in der Fußballfankultur sind Teil der Religionskultur, die zwar explizit nicht kirchlich ist, aber lebendig existiert – dafür liefere ich in meiner Arbeit eine Fülle von Beispielen und Deutungen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir den Religionsbegriff weiter fassen müssen – nicht eng nur im Kontext der Kirche. Dieser Ruf in die Weite gelebter Religion – das ist ein Ziel meiner Arbeit! Ich habe die Hoffnung, dass durch solche Arbeiten auch in anderen Teildisziplinen der Theologie die Wahrnehmungsoffenheit und die Sensibilität für religiöse Alltagsphänomene wächst.

Dass wir diese Phänomene ernst nehmen und deuten können, ist für den Dienst der Kirche am Menschen, zum Beispiel auf dem Feld der Seelsorge und der Passageriten, den sogenannten Amtshandlungen, unerlässlich. 

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

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