„Recht auf selbstbestimmtes Sterben“

Das Bundesverfassungsgericht hat gesetzliche Einschränkungen bei der Suizidhilfe erschwert
26. Februar 2020: Das Bundesverfassungsgericht verkündet sein Urteil zur Suizidbeihilfe.
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26. Februar 2020: Das Bundesverfassungsgericht verkündet sein Urteil zur Suizidbeihilfe.

Suizidhilfevereine können in Deutschland wieder legal arbeiten. Das ist die Folge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Februar 2020. Gesetzliche Einschränkungen werden zwar diskutiert, sind aber noch nicht beschlossen. Der Journalist und promovierte Jurist Christian Rath erläutert die Gesetzeslage und die Reaktionen in der Politik.

Schon seit dem 19. Jahrhundert war die Beihilfe zur Selbsttötung in Deutschland legal – weil auch der Suizid legal ist. Wer also einer lebensmüden Person Gift verschaffte, macht sich nicht strafbar, weil es auch nicht strafbar ist, sich selbst zu vergiften. Diese liberale Rechtslage geriet jedoch ins Zwielicht, als in Deutschland ab 2005 sogenannte Sterbehilfe-Vereine ihre Arbeit aufnahmen: „Dignitas Deutschland“ als Ableger einer Schweizer Organisation sowie der Verein „Sterbehilfe Deutschland“ um den ehemaligen Hamburger CDU-Justizsenator Roger Kusch. Diese Vereine boten zwar keine strafbare aktive Sterbehilfe an, sondern nur erlaubte Suizidhilfe (siehe Kasten), doch der Verdacht, dass es hier auch um kommerzielle Interessen gehen könnte, führte schnell zu Verbotsforderungen. Kritiker wollten vor allem verhindern, dass labile Personen erst zum Suizid verführt werden und die Suizidhilfe durch die rührigen Vereine zu einer normalen Dienstleistung wird.

Nach jahrelanger Debatte hatte der Bundestag dann im November 2015 das Strafgesetzbuch verschärft. Wer „geschäftsmäßig“ Selbsttötungen fördert, macht sich seitdem strafbar, so der neu geschaffene Paragraf 217. Es drohten Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren. Als „geschäftsmäßig“ galt eine Hilfe zur Selbsttötung schon, wenn sie auf Wiederholung angelegt war. Auf kommerzielle Interessen kam es dabei nicht an. Das Gesetz wurde ohne Koalitionszwang mit einer Mehrheit von 360 zu 232 Stimmen beschlossen. Vor allem Unions-Abgeordnete waren dafür. In allen anderen Fraktionen gab es eine Mehrheit gegen das Gesetz. Der Strafparagraf musste nie angewandt werden, weil sich die beiden Vereine an das Verbot hielten. Allerdings klagten sie sofort beim Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz. Mit ihnen klagten auch Ärzte, Anwälte und Kranke.

Die mündliche Verhandlung fand im April 2019 statt. Das sensationelle Urteil wurde erst zehn Monate später im Februar 2020 verkündet. Die Richter erklärten Paragraf 217 für unverhältnismäßig und damit für verfassungswidrig. Die Strafnorm sei von Anfang an nichtig gewesen. Es gab kein Minderheitsvotum. Das Urteil fiel radikaler aus als von fast allen Beobachtern erwartet. Dabei postulierten die Richter zum ersten Mal ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, das sie aus der Menschenwürde und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableiteten. Die Entscheidung zu sterben sei ein „Akt autonomer Selbstbestimmung“, der von Staat und Gesellschaft zu respektieren sei. Der Mensch dürfe nicht zu einem Leben gedrängt werden, das „in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis steht“. Deshalb haben, so die Richter, nicht nur Todkranke ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Das Recht stehe dem Menschen vielmehr „in jeder Phase seiner Existenz“ zu. Jeder könne entscheiden, seinem Leben ein Ende zu setzen – „entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit“. Das Grundgesetz verbiete eine Bewertung solcher Entscheidungen anhand religiöser Gebote, gesellschaftlicher Mehrheitsauffassungen oder objektiver Vernünftigkeit. Das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ umfasst nach der Karlsruher Konzeption auch das Recht, sich dabei von anderen helfen zu lassen. Es sei ein „schwerer Eingriff“ in die Grundrechte von Sterbewilligen, wenn ihnen durch strafrechtliche Verbote wie Paragraf 217 die „Möglichkeit einer schmerzfreien und sicheren Selbsttötung“ genommen werde. Die Richter betonten, dass der Bundestag das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ durchaus durch Gesetz einschränken durfte. Ein solches Gesetz müsse aber einen legitimen Zweck verfolgen und vor allem müsse es verhältnismäßig sein. Den legitimen Zweck von Paragraf 217 sahen die Richter gegeben. Die völlige Freigabe der Suizidhilfe führe zu Gefahren für die Autonomie am Lebensende und das Recht auf Leben. Alte Menschen könnten sich entgegen ihrer eigentlichen Wünsche für einen Suizid entscheiden, um anderen nicht zur Last zu fallen. Auch seien Überversorgung in der Medizin und Versorgungslücken in der Pflege geeignet, Suizidwünsche auszulösen. Zudem prüften die Suizidhilfe-Vereine zu wenig, ob ein Sterbewunsch wirklich freiverantwortlich ist oder durch psychische Krankheiten ausgelöst wurde.

Unverhältnismäßiger Paragraf

Paragraf 217 sei jedoch unverhältnismäßig, so das Gericht, weil die Belastung des einzelnen Sterbewilligen nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu den Vorteilen für die Allgemeinheit stehe. Zwar beschränke sich das Verbot der Suizidhilfe auf „geschäftsmäßige“ Angebote. Alternativen hierzu bestünden aber nur theoretisch. Ärzte seien derzeit „nur in Ausnahmefällen“ bereit, Suizidhilfe zu leisten. Die Berufsordnungen der Ärzte verbieten die Suizidhilfe sogar in weiten Teilen Deutschlands. „Solange diese Situation fortbesteht“, gebe es „einen tatsächlichen Bedarf“ nach geschäftsmäßiger Suizidhilfe, folgerten die Verfassungsrichter. Auch Angebote der Palliativmedizin hielten die Richter für keinen ausreichenden Ersatz. Sie seien zwar geeignet, die Zahl der sterbewilligen Todkranken zu verringern. Es bestehe aber keine Pflicht, solche Angebote anzunehmen, so das Karlsruher Gericht. Eine verfassungskonforme Neuregelung der Suizidhilfe ist aber durchaus möglich, heißt es in dem Urteil. So könnte der Bundestag eine Genehmigungspflicht für Sterbehilfevereine einführen, um ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Der Gesetzgeber könne auch Aufklärungspflichten und Wartefristen zwischen Beratung und Suizidhilfe vorschreiben. „Besonders gefahrträchtige“ Formen der Suizidhilfe könnten sogar strafrechtlich verboten werden, wobei die Richter hierfür keine Beispiele nannten. Das Gericht regte zudem an, die Berufsordnungen für Ärzte und Apotheker zu reformieren, um ein „konsistentes“ Schutzkonzept zu schaffen. Eventuell seien auch „Anpassungen des Betäubungsmittelrechts“ erforderlich, damit das in der Schweiz gebräuchliche Suizid-Medikament Natrium-Pentobarbital auch in Deutschland an Sterbewillige verschrieben werden kann. Für die Bundesregierung kündigte die Staatssekretärin Kerstin Griese (SPD) aus dem Sozialministerium noch im Gerichtssaal an, die Regierung werde bald einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der geschäftsmäßigen Suizidhilfe vorlegen. Bisher ist aber noch nichts passiert. Anfang Februar erklärte das Bundesgesundheitsministerium, die Regierung habe sich noch nicht positioniert.

Parallel zum Streit um Paragraf 217 kam es zu einem vielschichtigen Konflikt um das Medikament Natrium-Pentobarbital, das in Deutschland als Betäubungsmittel verboten ist. Alle Versuche, beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn eine Ausnahmegenehmigung zum Erwerb als Suizidmedikament zu erhalten, scheiterten bisher. Dabei hatte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig 2017 entschieden, dass es in „extremen Notlagen“ Ausnahmen von diesem Verbot geben müsse. Schwer und unheilbar Kranke müssten Zugang zu Natrium-Pentobarbital bekommen. Das Betäubungsmittelgesetz müsse verfassungskonform ausgelegt werden. Die Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und nachfolgend Jens Spahn (beide CDU) hielten das Leipziger Urteil jedoch für falsch und wiesen das BfArM an, weiterhin keine Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Über hundert Anträge von Schwerkranken wurden seitdem abgelehnt. Das Verwaltungsgericht Köln fragte deshalb 2019 beim Bundesverfassungsgericht an, ob das generelle Verbot von Natrium-Pentobarbital nicht verfassungswidrig ist. Karlsruhe wies die Richtervorlage im Mai 2020 jedoch als unzulässig zurück. Die Kölner Richter sollten sich erstmal mit der neuen Rechtslage nach der Nichtigerklärung von Paragraf 217 auseinandersetzen.

Daraufhin lehnte das Verwaltungsgericht Köln im November 2020 alle Klagen der Schwerkranken auf Natrium-Pentobarbital ab. Inzwischen hätten nämlich die Suizidhilfeorganisationen ihre Arbeit wieder aufgenommen und könnten helfen. Statt Natrium-Pentobarbital könnten diese Organisationen auch eine Mischung aus drei legal verschreibbaren Medikamenten verabreichen, so die Kölner Richter. Diese Mischung habe eine ähnliche Wirkung wie Natrium-Pentobarbital. Anders liegt der Fall eines relativ gesunden Ehepaars, das sich bereits 2013 entschlossen hatte, aus dem Leben zu scheiden. Sie wollten handeln, solange es ihnen noch so gut gehe, dass sie von einem rundherum gelungenen Leben sprechen könnten. Sie sähen keinen Sinn darin, den eigenen Verfall mitzuerleben. Natürlich lehnte das BfArM hier erst recht den Zugang zu Natrium-Pentobarbital ab. Doch auch das Bundesverwaltungsgericht lehnte die Klage 2019 ab.

Der Zugang zu dem Suizid-Medikament müsse auf „extreme Fälle“ beschränkt bleiben. Dagegen erhob das Ehepaar Verfassungsbeschwerde und berief sich auf das neue „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, das eben nicht nur für Todkranke gelte. Vor einigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde des Ehepaars als unzulässig abgelehnt. Die alten Leute bräuchten nach dem Urteil zu Paragraf 217 nicht mehr die Hilfe des Gerichts, sondern könnten sich jetzt selbst eine suizidhilfebereite Person suchen. Die Verfassungsrichter wollten zudem Rücksicht auf den Gesetzgeber nehmen und ihm nicht vorweggreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber in seinem Urteil vom Februar 2020 keine Aufträge erteilt, sondern nur Möglichkeiten aufgezeigt. Deshalb haben die Richter dem Bundestag auch ke

ine Frist gesetzt. Da sich die Abgeordneten und Ministerien der großen Koalition noch nicht einigen konnten, ist in dem Jahr seit dem Urteil noch kaum etwas passiert. Anfang Februar haben allerdings die grünen Rechtpolitikerinnen Renate Künast und Katja Keul einen ersten Gesetzentwurf zur Suizidhilfe vorgelegt. Parallel dazu wurde ein interfraktioneller Gesetzentwurf von sechs Abgeordneten aus FDP, SPD und Linken veröffentlicht. Bekanntester Unterzeichner ist der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Beide Gesetzentwürfe wollen den Sterbewilligen direkten Zugang zu Natrium-Pentobarbital verschaffen. So soll das Recht auf selbstbestimmtes Sterben realisiert werden können, ohne die als „undurchsichtig“ geltenden Suizidhilfevereine zu stärken. Sterbewillige sollen sich allerdings von unabhängigen Beratungsstellen beraten lassen müssen, bevor ihnen der Staat bei der Realisierung des Sterbewunsches hilft. Bei einer medizinischen Notlage wollen die Grünen die Entscheidung von zwei unabhängigen Ärzten genügen lassen.Weitere Gesetzentwürfe aus der Mitte des Bundestages werden voraussichtlich folgen. Vermutlich wird auch wieder eine Abstimmung ohne Fraktionszwang zugelassen. Ob dies aber noch bis zur Bundestagswahl im September erfolgt, ist eher fraglich. Bis zu einer Neuregelung durch den Bundestag gibt es also weiterhin keine Beschränkungen für Suizidhilfevereine, allerdings auch keinen Anspruch im Betäubungsmittelgesetz auf Zugang zu Natrium-Pentobarbital.

 

Sterbehilfe und Suizid

In der politischen Diskussion wird der Begriff „Sterbehilfe“ recht wahllos verwandt. Es hilft jedoch, genau zu formulieren. Derzeit wird nämlich vor allem über „Suizidhilfe“ diskutiert. An der Strafbarkeit der „aktiven Sterbehilfe“ soll sich nichts ändern. Bei der aktiven Sterbehilfe wird ein Kranker auf eigenen Wunsch durch die aktive Handlung einer anderen Person getötet, etwa indem der Arzt eine Giftspritze setzt. Dies wird laut Strafgesetzbuch als „Tötung auf Verlangen“ mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. So soll das Tötungstabu aufrechterhalten werden. Bei der passiven Sterbehilfe stellt der Arzt dagegen auf Wunsch des Kranken die künstliche Ernährung oder sonstige medizinische Behandlung ein. Der Behandlungsabbruch ist straflos, denn der Arzt darf den Kranken nicht gegen seinen Willen behandeln. Ein Abschalten der Apparate ist auch dann möglich, wenn der Patient nicht mehr bei Bewusstein ist, jedoch den Verzicht auf künstliche  Lebensverlängerung früher in einer Patientenverfügung anordnete. Der Bundestag hat 2009 die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen ausdrücklich geregelt. Die Selbsttötung ist in Deutschland nicht strafbar, deshalb konnte lange Zeit auch die Beihilfe zur Selbsttötung nicht bestraft werden. Seit 2015 war zwar die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ strafbar. Diesen Strafparagraf hat das Bundesverfassungsgericht jedoch im Februar 2020 für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Seitdem ist die Suizidhilfe wieder durchweg straflos. CHR

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