Einigeln im Auge des Hurrikans

Foto: privat

Den Bauch vollhauen, Winterschlaf halten und aufwachen, wenn die Pandemie vorbei ist – wäre das nicht wunderbar? Doch beim Nachdenken über den viel zu kleinen Igel Fritz kommen Zweifel auf…

Pandemien haben auch Vorteile, jedenfalls für Igel. In Zeiten, in denen exzessives Spazierengehen das tägliche Workout darstellt, erhöhen sie die Überlebenschancen für solche Stacheltiere, die viel zu früh aus dem Winterschlaf erwachen und durch die Gegend taumeln. So erging es auch Fritz. Wir fanden ihn bei einem unserer abendlichen Spaziergänge an einer Bretterwand auf dem Fußweg. Er lief nicht weg, wir auch nicht. Sollten wir ihn mitnehmen? Wir taten, was alle heutzutage in einer herausfordernden Situation tun: googeln. Dort hieß es, Igel könnten es schaffen zu überleben, wenn sie nicht untergewichtig sind. Nur wie lautet der Body-Maß-Index für Igel? Kommt darauf an, lasen wir, ob es sich um ein Jungtier oder ein älteres handelt. Woran erkennt man das Alter eines Igels? Erstmal wiegen, beschlossen wir. Schnell nach Hause eilen, Küchenwage, Katzenkorb (für alle Fälle) schnappen und zurück, Igel auf die Waage: 560 Gramm. Auf einer „Igel für Dummies“-Website erfuhren wir: Das ist viel zu wenig. Wahrscheinlich ist das Tier krank. Also verfrachteten wir Fritz in den Katzenkorb und brachten ihn ins Warme.

Eine Unterkunft musste her, so sammelte ich trockenes Laub und verteilte es liebevoll in einem Karton. „Verwenden Sie auf keinen Fall Laub aus dem Garten!“ tönte es aus dem Wohnzimmer – mein Lieblingsmensch las aus der Website vor. „Was dann?“ – „Zeitungspapier.“ Aber welche? Die Hannoversche Allgemeine ist nicht schlecht, aber für Igel ist Die Zeit – schon wegen des Formats – wohl angemessener. Schließlich war alles fertig, das Katzenfutter stand bereit, und Fritz verschwand unter dem Feuilleton.

Am nächsten Morgen war das Futter verspeist und der Igel putzmunter. Wir brachte ihn dennoch zwecks Body-Check zur „Igelstation Hannover Süd“, die sich als Privathaus einer Igelflüsterin entpuppte. In ihrer Garage, die sie in einen Igel-Schlafsaal umgewidmet hat, schlummern 13 Igel dem Frühling entgegen. Fritz muss sich jetzt einer Wurmkur unterziehen und zunehmen, dann holen wir ihn wieder und verstauen ihn im Schuppen. Dort wird er mindestens drei Monate schlafen.

Irgendwie beneidenswert: Ich stelle mir vor, ich könnte mir von morgens bis abends den Bauch vollschlagen und mich – ausgestattet mit einer beachtlichen Speckschwarte – für Monate im Bett einigeln. Mein Herzschlag würde sich auf zehn Schläge pro Minute verlangsamen, meine Atemfrequenz auf 13, und meine Körpertemperatur würde auf fünf Grad absinken. Im Frühling würde ich aufwachen, und alles wäre so wie früher. Die Pandemie wäre nur ein böser Traum, den das Morgenlicht verscheucht. „Corona“ wäre wieder bloß eine Biermarke und „Pan“ ein griechischer Gott.

Natürlich wäre es das nicht. Kein Winterschlaf, auch wenn er noch so lange dauert, brächte die alten Zeiten zurück. Zu viele Tote, zu viele Traumatisierte, zu viel Leid. Und gleichzeitig ist da dieses Unbegreifliche und Unwirkliche, das „Pan“ in der Pandemie ist zu groß, zu monströs, die Zahlen abstrakt, das Ausmaß unfassbar. Es ist, als befände ich mich im Auge des Hurrikans, und seit Monaten rührt sich kein Blatt. Was bleibt zu tun? Den Alltag bewältigen, mit dem Kleinen weitermachen, bei „COVID-19“ auf „zum Wörterbuch hinzufügen“ klicken, Kacheln nicht mehr nur mit dem Bad, sondern auch mit Kommunikation in Verbindung bringen und spazieren gehen. Und mich daran erinnern, dass es Igel zu retten gilt. Jetzt, da ich weiß, wie man eine Fritz-Box baut.

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