Diskussion am offenen Herzen

Die Debatte um Suizidbeihilfe in der Diakonie gewinnt Fahrt – mit einer ausführlichen Gegenrede von Peter Dabrock und Wolfgang Huber
Die beiden Debattentexte in der FAZ
Montage: zeitzeichen

Genau zwei Wochen nach dem aufsehenerregenden F.A.Z.-Artikel von Diakoniepräsident Ulrich Lilie und zwei weiteren Theologen zur Suizidbeihilfe in diakonischen Einrichtungen, erscheint nun in derselben Zeitung eine konträre Erwiderung des Erlanger Theologieprofessors Peter Dabrock und des ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden und profilierten Ethikers Wolfgang Huber.

In dem F.A.Z.-Beitrag, den Sie hier ganz lesen können, raten die beiden Autoren von einer Mitwirkung der Diakonie an einer Selbsttötung dringend ab, denn der Suizid dürfe „nicht eine Normalform des Sterbens“ werden, vielmehr müssten die Kirchen den „Zusammenhang von Selbstbestimmung und sozialer Lage“ im Blick haben. Besonders kritisch sehen Dabrock und Huber, dass die F.A.Z.-Autoren vom 11. Januar Suizidbeihilfe in diakonischen Einrichtungen als „erweiterte Kasualpraxis“ zu denken bereit sind. Dies sei mit dem „dem bisherigen Selbstverständnis der „seelsorglich, ärztlichen und pflegenden Professionen (…) nicht vereinbar.“ Außerdem sei dies auch „mit der in ökumenischer Gemeinsamkeit von den Kirchen in Deutschland vertretenen Auffassung“ nicht vereinbar.

Dabrock und Huber versuchen – herkommend vom Gedanken der Gottesebenbildlichkeit, „der vom Schöpfer gewährten Ebenbildlichkeit“ – auch für „religiös Unmusikalische“ (Habermas) nachvollziehbar zu machen, dass mit diesem Gedanken sowohl die absolute Unantastbarkeit des menschlichen Lebens als auch die größtmögliche Selbstbestimmung zuerkannt werde. In beidem drücke sich der „Würde-Anspruch“ jedes Menschen aus. Beides miteinander zu verbinden, sei „die Aufgabe menschlicher Lebensführung“. Daraus folgt für die Autoren: „Die Unantastbarkeit um der Selbstbestimmung willen aufzugeben, ist eine Handlungsmöglichkeit des einzelnen gegenüber sich selbst. Im Verhältnis zu anderen Menschen ist dagegen sowohl deren Selbstbestimmung als auch deren Unantastbarkeit zu achten.“

Ausnahmen und Regel

Der Beitrag enthält weitere fundierte Beobachtungen allgemein ethischer Natur und rückt das Problem von der rein individualethischen Sicht weg hin zu Betrachtungen darüber, wie es in der Öffentlichkeit wirken würde, wenn christliche Pflegeeinrichtungen assistierten Suizid anböten. Darüber befinden Dabrock und Huber grundsätzlich negativ, auch wenn sie einräumen, dass es im Einzelfall faktisch zur Suizidbeihilfe kommen kann. Es sei aber entscheidend, dass es sich dann um eine „Gewissensentscheidung im Einzelfall“ handele, die keinesfalls mittels allgemeiner Regeln oder gar Verpflichtungen für diakonische Einrichtungen kodifiziert werden dürfte, denn: „Für die Ausnahme mag es im Einzelfall nachvollziehbare Gründe geben; diese sollten jedoch mit der Regel nicht auf eine Stufe gestellt werden.“

Wer zwischen den Zeilen liest, mag darin – rein praktisch verstanden – ein Plädoyer für das „Prinzip Grauzone“ sehen, das seit jeher in diesem Bereich auch praktiziert wird und dessen Kriminalisierung durch den vom Verfassungsgericht aufgehobenen Paragraph 217 Strafgesetzbuch stets drohte. Was die bevorstehenden Gespräche mit den politisch Verantwortlichen angeht, sind Dabrock und Huber der Meinung, man solle sich „im Verbund mit der Caritas und den Kirchen“ dafür einsetzen, dass in einer künftigen Gesetzgebung zu diesem Thema, die durch das Karlsruher Urteil nötig geworden ist, Schutzklauseln gegen eine Pflicht freier Träger zur regelmäßigen Gewährleistung von Suizidassistenz vorgesehen werden.

Rückblick: Vor zwei Wochen, am 11. Januar, hatten der Münchner Systematische Theologe Reiner Anselm, der auch Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Theologie der EKD ist, der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, und die Bochumer Praktische Theologin Isolde Karle einen Artikel in der F.A.Z. veröffentlicht, der seitdem heftig diskutiert wird. Es geht in dem Text der drei letztlich darum, wie sich die Diakonie angesichts einer sich abzeichnenden Liberalisierung der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe positionieren soll.

"Nicht vorschnell Partei ergreifen"

Anselm, Karle und Lilie sind der Auffassung, dass durch seelsorgliche Betreuung und bestmögliche palliativmedizinische Versorgung ein etwaiger Wunsch nach Suizidbeihilfe auf keinen Fall aufkommen sollte. Dies ist nicht nur in bei Diakonie und Caritas, sondern auch in anderen Wohlfahrtsverbänden und weitgehend gesellschaftlich Konsens. Und das Autoren-Trio konstatiert, dass diakonisches und seelsorgerliches Handeln aufgrund ihrer „klare(n) Option für die Schwachen“ das Vertrauen weiter Kreise der Bevölkerung genießen. Zu diesem Vertrauen, so heißt es weiter, gehöre es aber auch, „nicht vorschnell Partei zu ergreifen, etwa dadurch, dass von kirchlich-diakonischer Seite der assistierte Suizid als unvereinbar mit dem christlichen Glauben gebrandmarkt wird“. Deshalb erscheint es den drei F.A.Z.-Autoren vom 11. Januar möglich, „abgesicherte Möglichkeiten eines assistierten Suizids in den eigenen Häusern anzubieten oder zumindest zuzulassen und zu begleiten“.

Dies wiederum sehen viele anders, empfinden es als Tabubruch und die ganze Debatte als eine am offenen Herzen der eigenen Identität: In ersten Reaktionen auf zeitzeichen.net lehnte der Nürnberger Systematische Theologe Ralf Frisch die ganze Richtung emphatisch ab. Neben grundsätzlichen Bedenken stört ihn, dass der Artikel gerade „(a)uf dem Höhepunkt der Corona-Krise als öffentliches Wort dreier namhafter Theologen“ erscheine. Am 18. Januar veröffentliche der Bochumer Systematische Theologe Günter Thomas unter dem Titel „Friendly Fire“ 32 Thesen, in denen er kategorisch und mit der ihm eigenen Verve die theologische Grundhaltung, die seiner Auffassung nach dem Artikel von Lilie & Co. zugrunde liegt, ablehnte und eine Gegenposition entwarf.

Dagegen nahm der Zürcher Theologieprofessor Michael Coors, der das dortige Institut für Sozialethik der Universität leitet, in seinem Beitrag „Kirche und Suizidhilfe – Ein Verstehensversuch“ eine wohlwollendere Haltung ein: Schließlich müsse sich die Diakonie darauf einstellen, dass die „freie Verabredung zweier Personen über die Hilfe zur Selbsttötung“ zumindest durch den Staat nicht mehr verboten werden kann. Vor diesem Hintergrund begrüßte Coors die Diskussion. Er kann sich zumindest vorstellen, dass die Diakonie Suizidhilfe durch andere Akteure in ihren Einrichtungen künftig als Ultima Ratio zulässt. In eine ähnliche Richtung geht Thomas Mäule, der Leiter der Stabsstelle Theologie und Ethik bei der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart, der in seinem Beitrag „Suizidhilfe durch Palliative Care überflüssig machen“ ein Positionspapier seiner Stiftung vorstellt, in dem es unter anderem heißt: „Wir beachten den Willen von Betroffenen, auch wenn er im Widerspruch zu unseren eigenen Werten steht. Wir beteiligen uns nicht an der Selbsttötung eines Menschen.“

Innerevangelisches Politikum

Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm lehnt bisher die Möglichkeit der Suizidassistenz in diakonischen Einrichtungen entschieden ab, unter anderem betonte er in einem Gespräch mit dem epd, dass die Kirche nicht Teil eines Prozesses werden dürfe, „an dessen Ende der Suizid eines Menschen stehen soll". Die Beratung betroffener Menschen dürfe "nicht nur die zu absolvierende Vorstufe dafür sein, dass ein Mensch alle Mittel für den Suizid zur Verfügung gestellt bekommt". Diese klare Ablehnung durch die „offizielle EKD“ und auch die Ansage Bedford-Strohms, er wolle die Diskussion über das Thema im Rat der EKD zwar „ergebnisoffen“ führen, aber er erwarte nicht, dass dies die Position des Rates „grundlegend“ verändere, macht den Vorstoß von Anselm, Karle und Lilie auch zu einem innerevangelischen Politikum. Darüber hinaus, wie erste Reaktionen zeigen, führt es zu scharfer Kritik von katholischer Seite.

Vorgestern, am vergangenen Sonnabend, nahm Diakoniepräsident Ulrich Lilie in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung Stellung zu seinem F.A.Z.-Artikel und den ersten Reaktionen und machte darin deutlich, dass er selbst keinesfalls entschieden der Meinung sei, man solle Suizidbeihilfe in Einrichtungen der Diakonie zulassen, aber er wolle mit dem Artikel einen notwendigen Diskussionsprozess anstoßen. Er wisse durchaus, dass hier um Fragen berührt werden, „die mitten ins Herz gehen“. Lilie: „Sie treffen die Menschen in ihrer ethischen Haltung, ihrer Frömmigkeit, ihrem ganz persönlichen Glauben. Das muss jeder respektieren, der das Thema anspricht. Es hat entsetzte Ablehnung gegeben, aber wir haben auch gehört: Endlich wird das Thema offen diskutiert.“

Lilie betonte, dass diese Diskussion jetzt geführt werden müsse, selbst wenn manchen der Zeitpunkt ungeeignet erscheine, da man bereits seit dem Karlsruher Urteil, also seit knapp einem Jahr, verstärkt Anfragen von Sterbehilfeorganisationen erhielte, die wissen wollen, inwieweit sie nun – da es gesetzlich erlaubt sei – in diakonischen Einrichtungen tätig werden könnten. Dies zeige, so Lilie, das es jetzt „diesen Meinungsbildungsprozess“ brauche, denn jetzt könnten sich Menschen darauf berufen, dass sie ein Recht auf eine Assistenz beim Suizid haben. Lilie: „Das hat das Verfassungsgericht uns zum Kauen gegeben. Wir müssen jetzt die Debatte führen können, ohne dass uns der Vorwurf gemacht wird, wir seien mit der Giftspritze unterwegs.“

Vorläufiges Fazit: Der evangelischen Kirche und Diakonie stehen nun heftige Diskussionen darüber ins Haus, wie man sich auf einem Markt positioniert, auf dem wahrscheinlich in absehbarer Zeit das seit dem Verfassungsgerichtsurteil ausdrücklich erlaubte Anbieten von Suizidassistenz auch praktiziert werden will. Dass es dazu am Ende eine einheitliche diakonische Position gibt, scheint zurzeit unmöglich. Wahrscheinlich werden sich nolens volens, gut reformatorisch und einer freien Gesellschaft gemäß, weitere Differenzierungen in der Praxisergeben – auch in der Praktizierung des assistierten Suizids. Viele mögen das betrauern, aber möglicherweise werden sie lernen müssen, mit diesen Spannungen zu leben.

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