Krisenrhetorik

Begriffsgeschichte der Volkskirche

Die evangelische Kirche ist zurück im Krisenmodus. Angesichts der Freiburger Studie und der Corona-Pandemie hat die Evangelische Kirche in Deutschland zwölf Leitsätze zur Zukunft erarbeitet. In Replik auf diese Thesen hat Günter Thomas, der Bochumer Theologieprofessor, die gegenwärtige Krise eine „Krise der Volkskirche“ genannt .

So kommt die Veröffentlichung der Promotionsschrift des Historikers Benedikt Brunner zur Geschichte des evangelischen Volkskirchenbegriffs gerade recht. Das Buch schlüsselt Volkskirche als einen kirchlichen Grundbegriff des 20. Jahrhunderts auf. Es fragt nach dem Bedeutungswandel, nach inhaltlichen Gehalten und letztlich nach dem Erfolgsrezept des Begriffs von 1918 bis 1960. Benedikt Brunner gliedert das Buch in drei Hauptkapitel: Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit. Die Kapitel schlüsselt er wiederum nach Spannungsfeldern auf: Kirche und Staat, Kirche und Gesellschaft und binnenkirchliche Debatten. Das macht das Buch übersichtlich, obwohl sich die Abgrenzung dieser Spannungsfelder nicht immer von selbst erschließt.

Wirklich beeindruckend ist die Fülle des Materials. Brunner rekonstruiert die Begriffsgeschichte der Volkskirche nah an den Quellen, deren Ton in zahlreichen Zitaten zum Klingen kommt. So sprechen die jeweiligen Entwürfe für sich.

Das ist eine Stärke, führt aber auch dazu, dass die einzelnen Positionen eher additiv präsentiert werden und nur recht verhalten zu längeren begriffsgeschichtlichen Linien verknüpft sind. Brunner kann herausarbeiten, wie der Volkskirchenbegriff nach 1918 half, einen neuen Ort der Kirchen in der Republik zu suchen.

Nach 1933 geriet der Begriff stark in den Sog völkischen Denkens, stand aber auch für den Anspruch der Bekennenden Kirche, „Kirche des gesamten Volkes“ zu bleiben. Nach 1945 gerierten sich die Westkirchen als öffentliche Volkskirchen, „die auf das Gemeinwesen als Ganzes ausgerichtet“ waren. Im Osten hingegen „eignete sich der Volkskirchenbegriff im Grunde nie“. Im Ganzen gesehen, bestimmte sich der Volkskirchenbegriff zumeist in Abgrenzung „zu Komplementär- beziehungsweise Alternativbegriffen“ wie etwa Staatskirche, Freikirche, Pastorenkirche oder Vereinskirche.

Er war deshalb erfolgreich, weil er elastisch und anpassungsfähig blieb, um sich als Kirche in unterschiedlichen Kontexten zu Staat und Gesellschaft zu positionieren. Als Ergebnis leuchtet ein: Den einen Begriff der Volkskirche gibt es nicht. Aber gerade angesichts der reichen Quellenbasis wird eine Frage nur skizzenhaft und unbefriedigend beantwortet: Was sind durchgängige Bedeutungsgehalte dieses kirchlichen Grundbegriffs abseits der Tatsache, dass er „kontrovers interpretierbar“ war?

Volkskirchenrhetorik ist Krisenrhetorik. Das Buch verdeutlicht: Gerade in den protestantischen Krisenzeiten nach 1918, 1933 und 1945 hatte die Volkskirche Konjunktur. In der aktuellen Krisendebatte tritt der Begriff zugunsten des Streits um Vereins- oder Bewegungskirche zurück. Vielleicht hat er sich ja überholt, oder er trägt zu schwer an seiner begriffsgeschichtlichen Last? Aber es stimmt, „dass, wer den deutschen Protestantismus der Gegenwart verstehen will, die Geschichte der volkskirchlichen Semantiken kennen muss“.

Das Buch zu lesen lohnt sich, denn es zeigt, dass der Volkskirchenbegriff Gehalte mitführt, die höchst aktuell sind: etwa gemeinwohlorientierte, öffentliche Kirche sein zu wollen oder Laien einzubinden und zu befähigen. Bedauerlich ist da, dass Brunner seine Analyse zur Zeit nach 1960 in ein zweites Buch auslagert. Man darf gespannt sein, wie die Begriffsgeschichte weitergeht.

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Foto: Michael Greder

Hendrik Meyer-Magister

Dr. Hendrik Meyer-Magister  ist Studienleiter für Gesundheit, Künstliche Intelligenz und Spiritual Care an der Evangelischen Akademie Tutzing.


 

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