Wer tröstet, hat recht

Warum ein Pfarrer in ein globalisiertes Klassenzimmer gehört
„Was junge Menschen im Alltag umtreibt, gehört ungeschönt in die Schule, in den Religionsunterricht allemal.“
Foto: dpa/Marijan Murat
"Was junge Menschen im Alltag umtreibt, gehört ungeschönt in die Schule, in den Religionsunterricht allemal."

Menschen aus rund fünfzig Nationen kommen in der Berufsschule täglich zusammen. Sie ist das Gegenteil eines  behüteten bürgerlichen Ortes. Klaus Beckmann aus Ludwigshafen schildert seine ersten Erfahrungen als Pfarrer an einer Berufsbildenden Schule.

Die Berufsschule bietet jeden Tag Überraschungen – überwiegend lehrreicher, oft angenehmer Natur. Das gilt, womöglich erstaunt dies manche, ganz besonders für einen Theologen, der sich im Studium mit der „steilen“ Theologie der Bekennenden Kirche angefreundet hat und überzeugt ist, dass die dort gelebte ideologiekritische Bekenntnisfreude viele noch zu hebende Schätze birgt.

Freilich ist die Bekenntnismäßigkeit des Religionsunterrichts an der Berufsbildenden Schule ein spezielles Thema. Denn einen „konfessionellen Religionsunterricht“ im hergebrachten Sinn sucht man hier vergebens. Um die ohnehin komplizierte Organisation der Berufsschule nicht vollends zu überfrachten, wird Religion im Klassenverband unterrichtet, ein Ersatzfach Ethik existiert nicht. Das bewegt sich, streng genommen, rechtlich im Graubereich, pädagogisch aber ist es eine Offenbarung.

„Die“ Berufsschule gibt es sowieso nicht. Unter einem Dach finden sich sieben Schularten. Neben der klassischen Berufsschule als Begleitung einer betrieblichen Ausbildung gibt es verschiedene Vollzeittypen, die es ermöglichen sollen, auf dem zweiten Bildungsweg einen allgemeinqualifizierenden Abschluss zu erlangen. Einziger Protestant im Klassenraum bin ich fast nie. Von den meist etwa zwanzig Schülerinnen und Schülern einer Klasse gehören im Durchschnitt vier oder fünf der evangelischen Kirche an. Eine ähnlich große (oder kleine) Zahl ist katholisch, einige erklären entschieden, kein Bekenntnis zu haben; die größte Fraktion aber stellen oft Musliminnen und Muslime. Menschen aus rund fünfzig Nationen kommen täglich in der Schule zusammen. Gerade dieser Situation wegen lebt der Unterricht von Konfessionalität. Meiner Bereitschaft nämlich, meinen Glauben auszusprechen und dieses Bekenntnis als Reibungsfläche anzubieten. Religionsmündige Schüler können damit umgehen. Den Anderen anders zu erleben, unterstützt Klärungsprozesse.

Die Wahrheitsfrage kommt nicht selten aufs Tapet, meist angestoßen durch Schüler, die sich als areligiös oder distanziert charakterisieren. „Wie kann man an etwas glauben, das nicht bewiesen ist?“ Oder: „Zeigen die Spannungen zwischen den Religionen nicht, dass die Menschheit ohne Religion besser dran wäre?“ Ich kann nur existentiell antworten: Objektiv lässt sich die Wahrheit einer theologischen Theorie nicht erweisen, da müssen wir alle auf den Jüngsten Tag warten – wie man sich den auch vorstellen mag. Wie wahr oder richtig ein religiöses Konzept ist, zeigt sich an dem, was es mit Gläubigen macht: Wird ein Mensch in seinem Glauben getröstet, ermutigt und zu einem freundlich verzeihenden Mitmenschen – oder macht ein Glaube ängstlich, engherzig und unterdrückerisch? Weiter als Lessings Nathan sind wir nicht, wie auch? Doch alleine stehen wir Religiöse damit ja nicht. Unter Medizinern gilt die Devise: „Wer heilt, hat recht.“ Nicht anders in der Pluralität der Religionen. Dass hier ganz elementar eine Theologie des Dritten Artikels entfaltet wird, bemerken die Schüler nicht.

Entrissene Wahrheitskeule

Mancher Anhänger einer entschiedenen Lehre blickt sparsam drein, wird ihm die Wahrheitskeule entrissen. Dass eine Schülerin aus evangelikalem Haus unzufrieden reagiert, kommt genauso vor wie das mehr oder minder verhohlene Drohen mit Allahs Strafe bei einigen wenigen muslimischen Fundis. Berufsschule ist das Gegenteil eines behüteten bürgerlichen Ortes. Hier tobt soziale Realität, trotz eines insgesamt respektvollen Umgangstons. Die Lehrerinnen und Lehrer beeindrucken mich jeden Tag durch ihren Einsatz, nicht nur das erforderliche Maß an Disziplin zu sichern, sondern möglichst individuell auf die ihnen Anvertrauten einzugehen. Viele der Schüler kennen von zu Hause kaum so etwas wie Fürsorge. Multikulti erschafft real alles andere als ein Schlaraffenland. Eine „Schule ohne Rassismus“ zu sein, fordert täglich heraus.

In einer Stunde versuche ich, Entstehung und Funktion des Rassismus zu erläutern. Meine These, rassistische Parolen überspielten die Unzulänglichkeiten ihrer Urheber, Fremde als Sündenböcke hernehmend, wird spürbar mit Zustimmung gehört. Pegida und rechte Parteien so zu durchleuchten, kommt bei migrantisch geprägten jungen Menschen gut an. Als ich das kritische Muster, mit dem ich rechtsextreme Fremdenfeindlichkeit betrachtet habe, dann auf den grassierenden Judenhass anwende und am Beispiel der „Protokolle der Weisen von Zion“ verdeutliche, welchen Zweck es verfolgt, die Minderheit der Juden zu globalen Strippenziehern zu stempeln, platzt es aus einem türkischen Schüler heraus: „Ja aber, so ist es doch!“ Die Juden und der Staat Israel bildeten ein Machtkomplott. Meine Versuche der Versachlichung provozieren einen Wutausbruch. Weder der Bundeskanzlerin noch dem Unterrichtenden bleibt der Vorwurf erspart, Teil der jüdischen Verschwörung zu sein. Dass „die Juden“ aus dem Gedächtnis des Holocaust Gewinn zögen, klingt nicht nur da an. Meist geschieht es zwischen gesprochenen Zeilen.

Selbststilisierung zum Opfer

Die medial ausstrahlenden Verhältnisse der Herkunftsländer der Schüler zu ignorieren und heikle Themen weiträumig zu meiden, wäre sicherlich ein Holzweg in Richtung Integration. Was junge Menschen im Alltag umtreibt, gehört ungeschönt in die Schule, in den Religionsunterricht allemal. Dass manche Schüler sich in der Selbststilisierung zum Opfer üben, beruht partiell sicherlich auf Ausgrenzungserfahrungen. In jedem Fall aber erschwert es ein selbstbewusstes und selbstkritisches Eintreten in Arbeitswelt und Gesellschaft. Mich beunruhigte das kursierende Gerücht, ein großes katholisches Krankenhaus der Region nehme Muslime weder zu Praktika noch zur Ausbildung an. Meine Nachfrage bei der Leitung der Klinik ergab ein entschiedenes Dementi, vom Oberarzt bis in verschiedene Pflegebereiche gebe es muslimische Mitarbeitende, man engagiere sich in der Ausbildung besonders für die Integration Geflüchteter. Ich stellte das in der nächsten Unterrichtsstunde richtig. Der schale Nachgeschmack, in einen Strudel von Frustration, Projektion, Selbstisolierung geraten zu sein, blieb. Genauso allerdings kommt es vor, dass Schüler mit Migrationshintergrund den Opfer-Diskurs ihrer Community ausdrücklich kritisieren. Deutsche mit dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit einzuschüchtern, lenke von echten Problemen ab. Ein Muslim überlegte sogar, ob christliche Mitschüler sich in bestimmten Situationen nicht trauten, offen zu reden. Nichts wäre falscher, als alle jungen Migranten über einen Kamm zu scheren. Das wird mir jeden Tag plastischer.

Manchen Klassen ist anzumerken, wieviel Enttäuschung die Schülerinnen und Schüler mit sich herumschleppen. Dass hier die letzte Chance gegeben sein kann, überhaupt einen Schulabschluss zu erwerben, führt zuweilen erst recht in Blockaden. Kaum überraschend bilden sich Hackordnungen aus. „Unten“ eine besonders ausgeprägte Solidarität zu erwarten, wäre Sozialromantik. Das interreligiöse Gemenge kann beklemmende Züge annehmen. Wer in einer äußerlich stabilen traditionellen Familie und einer verbindlich geteilten Religion noch eine Stütze im Leben vorweisen kann, mag versucht sein, das zur Krücke des Selbstwertgefühls zu nehmen – vor solchen, die in zerrütteten Elternhäusern und religiöser Heimatlosigkeit nichts mehr besitzen, das zu tragen vermag. Der faktische religiöse Analphabetismus vieler nominell christlicher Jugendlicher schockiert. Anders kann ich es nicht sagen. Die Konfirmation liegt zwei, drei oder vier Jahre zurück; geblieben ist davon oft nichts. Dafür haben Geister und Dämonen Hochkonjunktur, bei Muslimen übrigens auch. Manche „biodeutsche“ Schüler wirken auf mich traurig. Viele von denen, die in der Berufsschule einen Abschluss anstreben, sind von früheren Schulerfahrungen vorgeschädigt. Einheimische messen sich indes eher am glatten Standardbildungsweg vom Kindergarten zum Abitur.

Wenn ich, so elementar wie möglich, die christliche Botschaft vom „Gott am Kreuz“ darstelle, trifft das in aller Regel nicht auf Ablehnung. Auf Staunen schon. Ein Gott, der ohne Limit liebt und sich für seine Geschöpfe hingibt, erzeugt Resonanzen in jungen Menschen, denen einiges misslungen ist und noch mehr zugemutet wurde. Ich dränge niemandem meinen Glauben auf. Aber kennen sollte schon jeder den Kern des Evangeliums.

Beeindruckende Erfahrungen mache ich an fast jedem Schultag: Eine junge Migrantin verteidigt ihren persönlichen Glauben an einen Gott, der reine Liebe sei, gegen das auftrumpfende Gehabe zweier männlicher Landsleute, denen an Höllenstrafen für Ungläubige sehr gelegen ist – so stehe es nun einmal geschrieben. Diesen Freiraum kann nur die Schule als dritter Ort neben Familie und religiöser Gemeinde bieten.Wo Vertrauen gewachsen ist, sind Schüler bereit, offen ihre Konflikte mit autoritären Eltern zu diskutieren. „Ich würde meine Kinder ganz anders erziehen“: Es gehört viel dazu, solch privateste Momente in das Forum der Klasse zu tragen. Anders als am Gymnasium bleiben Klassen an der Berufsschule nur wenige Jahre bestehen. Der Wert persönlichen Vertrauens aber wird verstanden. In einer Stunde erläutere ich das perfide Vorgehen der nationalsozialistischen Erziehung. Was NS-Eliteschulen zu verhindern trachteten, waren menschliche Bindungen unter den Zöglingen, die einen Widerstandsraum gegen offizielle Indoktrination geschaffen hätten. Deuteten sich Einvernehmen und Freundschaft unter Schülern an, waren die Erzieher bestrebt, das Vertrauen zu zerrütten. „Teile und herrsche“ bekam so praktischen Sinn grausamer Art. Schüler aus zerbrochenen Familien, von Eltern enttäuscht, schulisch frustriert, spüren, worum es da gegangen ist. Die Krise der Sportvereine, der kirchlichen Jugendarbeit, der politischen Jugendorganisationen schlägt in den Alltag durch. Langeweile wird zur Falltür zum Drogenkonsum, denn wer in der Freizeit nur „abhängt“, ist offener für den Kick. Interessen und Selbstbewusstsein entwickeln sich nicht von alleine, und soziale Medien mit ihrem eigenen Suchtpotenzial ersetzen kein soziales Umfeld. Weniger als irgendwo sonst sind Seelsorge und Unterricht an der Berufsschule zu trennen. Den Schülern ist klar, was es bedeutet, mit einem Ordinierten geschützt sprechen zu können. Obwohl im Gestellungsvertrag an das Land verliehen, behält der Schulpfarrer die Rechte und Pflichten der Ordination, einschließlich strikter seelsorgerischer Verschwiegenheit. Diesen Part können staatliche Lehrkräfte nicht abdecken, so engagiert sich viele Mitglieder des Kollegiums auch ihrer Schützlinge über das dienstlich verlangte Maß hinaus annehmen. Eine in Vollzeit an der Schule tätige Sozialarbeiterin tut gute Dienste. Gleichwohl erlebe ich keine Woche ohne ein Seelsorgegespräch, in dem es richtig zur Sache geht. Seelsorger kann der Religionslehrer nur sein, wenn er spüren lässt, wovon er getragen ist. Dass er eine Hoffnung hat für jeden Menschen, wollen Schüler eingelöst finden.

Der Religionsunterricht vermittelt nicht primär Wissen, sondern lädt ein zum Hinschauen, Fragen und Deuten. Sich entwickelnde Persönlichkeiten will er in ein menschenfreundliches Licht rücken. Noten müssen von Rechts wegen sein, von Nutzen sind sie nach meiner Auffassung nicht. Es verdiente ein Nachdenken, ob dem Bildungsauftrag von Schule – versteht man Bildung umfassender denn nur als Eintrichtern vergänglichen Faktenwissens – nicht besser entsprochen würde, nähme man das Sonderfach Religion aus dem Kanon der zu bewertenden Leistungsfächer heraus, um es als geschützten Raum der Persönlichkeitsentwicklung stärker sozialdiakonisch zu fassen. In Religion gibt es im Wesentlichen kein Richtig oder Falsch. Zu verkennen ist dabei freilich nicht, wie das Fach an der Berufsschule politisch unter Druck steht. Was ein Unterricht, der nichts unmittelbar Nützliches liefert, überhaupt soll, fragen manche Ausbilder. Schließlich bezahlen sie für die in der Schule verbrachte Zeit ihrer Auszubildenden. Ab und an hat ein Schüler das internalisiert und gibt das Echo: „Was hat mein Chef von dem, was wir hier besprechen?“ Das rührt an das gesellschaftlich bestimmende Menschenbild, rüttelt an Konsensen. Dem Menschen zuliebe dürfen Politik und Kirchen nicht versäumen, sich für das „kleine Fach der großen Fragen“ stark zu machen. Reli in der Berufsschule widersteht der Totalökonomisierung der Berufsausbildung. Zum Menschen gehört, was sich nicht rechnet, ist er doch mehr als ein Bündel von Kompetenzen.

Mein vorläufiges Fazit: Wenn es einen Ort in der Gesellschaft gibt, wo ein Pfarrer hingehört, dann ist es dieser. Das globalisierte Klassenzimmer ist wahrhaftig kein Idyll. Von Berufs wegen Zeuge zu sein für den bedingungslos liebenden Gott, das bewährt sich hier, bei jungen Lebensläufen mit Knicken, Enttäuschungen und Widersprüchen, auch in der manchmal unharmonischen Pluralität der Religionen. 

Literatur

Petra Sorg: Religionsunterricht im globalisierten Klassenzimmer. Waxmann Verlag, Münster 2020, 344 Seiten, Euro 39,90.

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