Vom Kern her denken

Wie sich die Kirche in und durch Corona-Zeiten entwickelt
Advent 2020 in der Marktkirche Hannover (links). Illuminierte Christuskirche in Kutenhausen/Minden an Heiligabend
Foto: dpa/Geisler-Fotopress
Advent 2020 in der Marktkirche Hannover (links). Illuminierte Christuskirche in Kutenhausen/Minden an Heiligabend

Die Corona-Pandemie übt einen großen Veränderungsdruck in der Kirche und ihrer Diakonie aus. Sandra Bils, theologische  Referentin der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi), beschreibt, wie die Pandemie im Zeitraffer dazu führt, etablierte Formen und Formate stärker zu hinterfragen.

Derzeit ist Disruption zum Modewort und prägenden Terminus in Diskursen über Transformation und Veränderungsprozesse geworden. Ausgelöst hat das die Covid-19-Pandemie. Disruption, kommt von disrumpere, also zerschlagen, zerreißen, legt das geradezu gewaltsame Unterbrechen des Vertrauten und Gewohnten nahe. Und genau dies ereignet sich derzeit in Kirche und Diakonie allerorten. Die Pandemie mit ihren Veranstaltungsverboten, Hygieneauflagen und den veränderten Bedürfnissen der Menschen nach Nähe und Distanz übt genau jenen disruptiven Impuls auf das kirchliche System und dessen Gewohnheiten aus. Geprägte Abläufe und Logiken werden im etablierten „Das haben wir schon immer so gemacht“ unterbrochen und stehen nun vor der Aufgabe, neue Wege zu gehen und zu experimentieren. Anhand dieser Veränderungen der zurückliegenden Pandemie-Monate lassen sich somit Changemanagement in Kirche und disruptive Ekklesiologie im Zeitraffer beobachten.

Seit Beginn der Covid-19-Pandemie liegen im kirchlichen Bereich an vielen Stellen die Nerven blank. Liebgewonnene Traditionen und Gewohnheiten sind durch Corona massiv erschüttert worden. Wo sonst Erneuerungen und Transformationen in Form von innovativen Experimenten eher argwöhnisch beäugt wurden, übt Corona nun einen externen Veränderungsdruck aus. Die Veränderungen, das Anpassen, Ab- und Entwickeln sowie das Aushandeln im Kleinen wie Großen sind sehr herausfordernd, kraft- und ressourcenintensiv, für das Gesamtsystem jedoch oftmals enorm produktiv. Hier sind vielerorts in den vergangenen Monaten beeindruckende Experimente und Initiativen entstanden, die weit über improvisierte Notlösungen hinausgehen.

In der Ad-hoc-Studie „Digitale Verkündigungsformate während der Corona Krise“, die die Evangelische Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) im Auftrag der EKD durchgeführt hat, konnte man bereits für den Auswertungszeitraum März bis Mai 2020 faszinierende Ergebnisse lesen. Schon zu einem solch frühen Zeitpunkt in der Pandemie war bereits viel Experimentierfreude zu spüren – spannenderweise auch bei jenen, die vorher nicht unbedingt Vordenkerinnen und Vorreiter im Bereich der digitalen Kirchen waren.

Faszinierende Ergebnisse

Die Phase der Veränderungen und Experimente dauert weiterhin an. Schon bald werden wahrscheinlich erste Entwicklungen, die durch die disruptiven Einschneidungen stimuliert wurden, so etabliert und anerkannt sein, dass sie auch für die postpandemische Zeit übernommen werden. In vielen Fällen sind jedoch genau diese Veränderungen und Experimente jene Faktoren, die bei vielen Haupt- und Ehrenamtlichen Angst und Verunsicherung auslösen. Dies ist bei all den massiven Umbrüchen und auch dem Tempo, in dem sie voranschreiten, nicht verwunderlich. Diese Krise hat einen massiven Einfluss auf das Gesamtsystem Kirche und Diakonie sowie auf jene Einzelnen, die sich ihnen zugehörig fühlen. Gerade um die Verunsicherungen und Angstgefühle nachvollziehen zu können, lohnt sich eine systemische Einordnung auf der Metaebene, um die zugrundeliegende Logik und damit zusammenhängende Dynamiken entschlüsseln zu können. Viele Veränderungsprozesse durchlaufen klassischerweise verschiedene Phasen und haben somit einen durchaus erwartbaren Verlauf. Der Psychologe Kurt Lewin geht in seinem Veränderungsmodell model of change von drei Stufen aus. In der ersten Phase einer Veränderung muss zunächst eine grundsätzliche Bereitschaft für den Wandel in einem System hergestellt werden. Lewin spricht hier vom sogenannten Auftauen (unfreezing). Prägend für diesen Schritt sind die selbstkritische Einsicht, dass sich etwas ändern muss, sowie die bewusste Entscheidung, die Veränderung zuzulassen. Dieser Angang ist oftmals der herausforderndste Schritt: Gerade starre Organisationen investieren in solchen Phasen extreme Beharrungskräfte in Erhalt und Bestandswahrung des Status quo und lehnen sich eher defensiv auf, als produktiv zu gestalten und sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen.

Ist eine grundsätzliche Zustimmung zum Wandel hergestellt, folgt der zweite und eigentliche Schritt der Veränderung: der Wandel selbst (change). Hier werden Transformationen sichtbar, spürbar, messbar und greifbar. Während der erste Schritt eher an inneren Haltungen, Bildern und Mindsets arbeitet, bringt der zweite Schritt das System durch neue Lösungsansätze und veränderte Verhaltensweisen in Bewegung. Der abschließende dritte Schritt überführt den Neuzustand in eine nachhaltige und langfristig tragfähige Lösung. Dabei wird das System nach der kreativen Arbeit nun abschließend erneut eingefroren (refreeze), um wieder eine verlässliche Operationalität und Handlungsfähigkeit herzustellen.

Das Drei-Phasen-Modell von Kurt Lewin ist in der Organisationsberatung common sense. Es ist über siebzig Jahre alt, aber noch heute arbeiten große Firmen und Institutionen mit dem Schema, um sich die Dynamiken zu vergegenwärtigen und unterstützende Entscheidungen abzuleiten. Gerade der erste Schritt, das Auftauen eines Systems, bindet bei der professionellen Begleitung solcher Veränderungsprozesse die meiste Kraft und Zeit. Systeme sind oft träge und streben eher nach Konstanz und Beständigkeit. Gerade traditionell geprägte Organisationen, wie die Kirche, zeigen hier eine besonders starke Transformationsvermeidung.

Durch den disruptiven Impuls, ausgelöst durch die Covid-19-Pandemie, ist nun jedoch genau dieser Wandel unausweichlich. Um im Bild von Kurt Lewins Veränderungsmodell zu sprechen, ist das komplette System Kirche durch Corona automatisch auf die zweite Stufe gesprungen, in das Verändern und Experimentieren. Durch Verbote und Erlasse wurde die Entscheidung zum Wandel, das unfreeze, abgenommen. Dadurch lassen sich die Ohnmachtsgefühle und die Verunsicherung vieler Haupt- und Ehrenamtlicher im kirchlichen Bereich erklären. Sie stolpern ihrer neuen Wirklichkeit hinterher und erleben in diesen Veränderungen einen massiven Sicherheitsverlust.

Veränderung findet jedoch auf verschiedene Arten statt. Während manche Innovationen in erster Linie das Bestehende weiterentwickeln und innerhalb der vertrauten Logik Bekanntes verbessern (inkrementelle Innovation), hinterfragen andere den Status quo gänzlich und entwickeln komplett neu (radikale Innovationen). Übertragen auf den kirchlichen Bereich entwickelt beispielsweise eine Gemeinde, die feststellt, dass in ihrem Umfeld die Menschen sonntags lieber ausschlafen und mit der Familie gemütlich frühstücken wollen, einen Brunchgottesdienst. Der klassische Sonntagsgottesdienst wird inkrementell weiterentwickelt. Eine Gemeinde jedoch, die aufgrund der gleichen Sozialraumanalyse kein neues Gottesdienstformat testet, sondern ein Café eröffnet, innoviert radikal. Hier steht nicht die Aktualisierung bestehender Formate im Vordergrund, sondern die grundsätzliche Neuentwicklung. Sowohl inkrementelle als auch radikale Veränderungsprozesse finden unablässig innerhalb und außerhalb von Kirche statt. Beide Arten von Veränderungen sind zudem unverzichtbar für die Transformationsprozesse, denen wir kirchlich unterliegen. Dabei ist das kirchliche System sehr erfahren im Bereich inkrementeller Innovationen. Traditionshandeln, das Bewahren und Weiterentwickeln des Anvertrauten, gehört zu dessen großen Stärken. Bewusst aus dem alltäglichen und gewohnten Handeln zurückzutreten und das Tun (und Lassen) hinsichtlich der zugrundeliegenden Mission zu hinterfragen sowie ferner daraus radikale und konkrete Handlungsänderungen abzuleiten, gehört eher zu kirchlichen Lernfeldern. Das kritische Hinterfragen sowie die Veränderung des Gewohnten, um auch weiterhin dem Auftrag und der Mission zu entsprechen, gerade diese disruptive Störung im Betriebsablauf wird kirchlicherseits eher vermieden.

Die Covid-19-Pandemie löst jedoch exakt diese Dynamik mit einer Wucht und Vehemenz aus, der sich das System nicht entziehen kann. Dies kann somit exemplarisch ein Lern- und Übungsfeld für radikale Innovationen im kirchlichen und diakonischen Bereich sein, von dem wir auch langfristig profitieren können. Eine maßgebliche Herausforderung im Umgang mit Veränderungen ist derzeit die sehr unterschiedliche Bereitschaft und Fähigkeit der Haupt- und Ehrenamtlichen, sich mit Innovationen auseinanderzusetzen. Dies bindet neben dem operativen Alltagsgeschäft viel Kraft und Zeit. Sinnvoll, da effizient und entlastend, wäre somit neben der Innovation auch der zwangsläufige zweite Schritt, die Exnovation.

Exnovation prüft Etabliertes im Hinblick auf dessen Zweck und Nutzen. Ferner wird auch nachhaltig und langfristig nach dessen Verantwortbarkeit gefragt. So gibt es angeordnete Exnovationsprozesse, wie im Fall von Asbest, Atomstrom, Palmöl und Autos mit Verbrennungsmotor, deren Nutzung und Einsatz langfristig und bewusst ausgeschlichen wird. Eine exnovierende Grundhaltung hilft somit, das System auszumisten und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Im kirchlichen Bereich könnte sie unterstützen, dem traditionellen Erbe gerecht zu werden, indem durch Läuterungsprozesse eine gewisse Patina an Folklore und Gewohnheit kritisch hinterfragt wird und dadurch eine spezifischere Profilierung möglich wäre. Die zusätzlich damit einhergehende Ressourcenersparnis wird in den anstehenden Veränderungsprozessen dringend benötigt.

Eine disruptive Ekklesiologie, wie sie Kirche angesichts der Erfahrungen mit Covid-19 derzeit im Zeitraffer exemplarisch erlebt, erleichtert, etablierte Formen und Formate stärker zu hinterfragen. Da Gewohnheit und Status quo derzeit durch äußere Einflüsse so in Frage stehen, fällt eine Diskussion um den eigentlichen Kern leichter. Wie schmerzhaft, herausfordernd, aber auch produktiv dies ist, wurde beispielsweise an der Diskussion um das Feiern analoger Weihnachtsgottesdienste deutlich. Hier zeigt sich exemplarisch, welche Fragestellungen auch grundsätzlich drängen: Was muss zwingend erhalten bleiben? Was darf sich verändern? Zugespitzt könnte man auch formulieren: Was muss sich an Formen und Formaten verändern, damit der Kern von Kirche überhaupt erhalten bleibt?

Der Kern von Kirche

Disruptive Ekklesiologie erleichtert, mutige und oft kritische Fragen zu stellen, die schon lange drängten, jedoch kirchlicherseits eher vermieden oder aufgeschoben wurden. Unausweichlich sind beispielsweise Fragen geworden wie „Wie können wir Digitalisierung stärker für die Verkündigung des Evangeliums nutzen?“, „Wie gehen wir damit um, dass durch den Veränderungsdruck und die hohe Schlagzahl unsere bisherigen Verwaltungs- und Entscheidungsgremien an Grenzen kommen?“, „Welche Formen von Aus-, Fort- und Weiterbildung sind notwendig, um drängende Transformationsprozesse professionell begleiten zu können?“, „Wo sind Orte und Gelegenheiten, um über diese und weitere unausweichliche Fragestellungen zu diskutieren, damit ihnen kirchlicherseits strategisch, klug und vor allem geistlich begegnet werden kann?“ 

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Foto: privat

Sandra Bils

Sandra Bils ist Theologische Referentin bei der Ev. Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) in Berlin.


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