Suizidhilfe durch Palliative Care überflüssig machen

Zur Debatte um die Möglichkeit der assistierten Selbsttötung in evangelischen Pflegeinrichtungen
Symbolfoto Sterbebegleitung
Foto: dpa/ Werner Krueper

Was sagen Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen zur Debatte über den assistierten professionellen Suizid, die durch den FAZ-Beitrag von prominenten Protestanten an Brisanz gewonnen hat? Thomas Mäule von der Heimstiftung Stuttgart bezieht Stellung.

Pflegeeinrichtungen sind Teil der Gesellschaft. Sie können sich weder dem Wertewandel noch dem Karlsruher Urteil entziehen. Ein Altenhilfeträger wie die Evangelische Heimstiftung, in der ich als Pfarrer und Leiter der Stabsstelle „Theologie und Ethik“ arbeite, muss Auskunft darüber geben, wie sie die Bedingungen des Sterbens in ihren Einrichtungen so gestaltet, dass sie dem Menschen und seiner Würde entsprechen. Aber auch, wie achtsam sie die Autonomie des Menschen beachtet – und wie ernst sie dessen vielseitige Abhängigkeitsverhältnisse nimmt.

Eine achtsame Sterbekultur ist eingebettet in eine verantwortungsbewusste Sorgekultur. Jeder Tod hat eine Auswirkung auf die Umgebung, macht etwas mit den Pflegenden, Zu- und Angehörigen, Seelsorgenden, Hausärzten. Das ist nicht neu – wird aber im derzeit diskutierten FAZ-Beitrag zu wenig gewichtet. In der Argumentation wird sehr auf individualethische Aspekte eingegangen, auf Freiheit und Selbstbestimmung, während die sozialethische Dimension vernachlässigt wird. Die Gefahr ist, dass die Hilfe beim assistierten Suizid sich immer mehr vom Freiheitsrecht im Sinne einer Erlaubnis hin zum Einforderungsrecht wandelt.

Die von den Autoren erörterte Frage, ob assistiertes Sterben als „neue professionelle Aufgabe“ an bisher mit der Bewahrung des Lebens betrauten Orten zu bewerkstelligen ist, geht weit über den individualethischen Bereich hinaus. Sobald Entscheidungen im Klinikalltag oder in der stationären Langzeitpflege getroffen werden, sind diese als öffentlicher Raum mitbetroffen und müssen dort mitverantwortet werden. Schnittstellen und Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Bereich sind präzise zu markieren. Suizidhilfe nicht unmöglich zu machen, war die „ratio“ hinter dem deutschen Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 26.Februar 2020. Ein Anspruchsrecht auf Hilfe lässt sich daraus nicht ableiten. Die Pflicht, bei einem Suizid zu assistieren, wäre zutiefst unsittlich.

Nicht Suizidhilfe sondern Palliative Care gehört – nach dem Hospiz- und Palliativgesetz - zum Versorgungsauftrag in der Altenhilfe. Die Evangelische Heimstiftung, ein großes diakonisches Pflegeunternehmen in Baden-Württemberg, hat ein Positionspapier verabschiedet, das notwendige Orientierung in der komplexen Debatte bietet. Sterbewunsch – so beginnt das Papier – ist nicht Sterbewunsch. Oft sind die Worte nicht eindeutig, mit denen ein Mensch seine existentielle Not im Moment ausdrückt. Da geht es ums Hinhören: urteilsfrei, aufmerksam und wohlwollend. Welchen Weg die Gedanken nehmen werden, ist im Moment der Erstäußerung selten entschieden. Der gedachte „letzte Ausweg“ im Sinne des assistierten Suizids ist – Erfahrung und Statistik zufolge – eher selten. „Wir besprechen Sterbewünsche offen und ohne Wertung“, heißt es im Positionspapier. Im Vordergrund steht das Bemühen, Menschen in existentiellen Grenzsituationen zu verstehen. Sie so zu begleiten, dass sie ermutigt und befähigt werden, herauszufinden, was sie selber eigentlich wollen.

Menschen dürfen nicht gegen ihren Willen am Leben erhalten werden. Die Freiheit zur Selbstschädigung ist jedem Individuum im Sinne eines selbstbestimmten letzten Atemzugs zugestanden, sofern der Entscheid freiwillig ist. Davon leitet sich aber kein einforderbares Recht auf Beihilfe zum Suizid ab.

Das Positionspapier macht deutlich, dass es nicht zur Aufgabe der Pflege gehört, von sich aus Suizidhilfe anzubieten und durchzuführen. Der Pflege darf nicht die Lösung von Problemen übertragen werden, die in den Verantwortungsbereich anderer fallen. Dazu gibt das Papier eine klare Position vor und stärkt den Mitarbeitenden den Rücken: „Bleibt nach sorgfältiger Information und Abklärung ein selbstbestimmter Wunsch nach Suizidhilfe bestehen, wird der Wille des Betroffenen respektiert, auch wenn er im Widerspruch zu den eigenen Werten steht. Die Klärung der letzten Schritte erfolgt ausschließlich durch den Bewohner selbst. Der letzte Akt der zum Tod führenden Handlung ist in jedem Fall durch die sterbewillige Person selbst durchzuführen.“

Im Grundverständnis der Heimstiftung hat jeder Mensch in jeder Lebensphase seinen eigenen Wert und eine eigene Würde. Im praktischen Handeln soll der Bewohner durch die Art von Pflege und Begleitung erleben, dass er mit und trotz seiner Entscheidung wertvoll um seiner selbst willen ist. Er soll wissen, dass Leben bis zuletzt in der Einrichtung möglich ist.

Im Ergebnis ist sich die Heimstiftung einig: Suizid und Suizidhilfe ist als Nothilfe im Einzelfall zu tolerieren. Doch statt sie zu propagieren, gilt es Bedingungen zu schaffen, um Menschen die Angst vor Pflegebedürftigkeit und dem Sterben zu nehmen. Konfessionelle Einrichtungen sollen nicht nur „bestmögliche Palliativversorgung gewährleisten“, so der F.A.Z-Beitrag. Strategisches Ziel muss sein, Suizidhilfe als organisierte Dienstleistung durch palliative Versorgungs- und Betreuungsangebote überflüssig zu machen. Um zu dieser ambitionierten Position zu kommen, benötigt es etablierte Strukturen professioneller Palliative Care. Pflegeunternehmen wie die Heimstiftung haben in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen, Mitarbeitende zu befähigen und Strukturen zu schaffen, die ein würdiges und mit möglichst wenig Schmerzen verbundenes Sterben ermöglichen. Das Zusammenspiel von Pflege, Medizin, Seelsorge, Ehrenamt und Angehörigen ist wichtig. Und die Gesellschaft muss sich fragen, was ihr schwerkranke, alte und pflegebedürftige Menschen wert sind, die wir alle einmal sein werden. Wie sicher Bewohner sich in Pflegeeinrichtungen fühlen, hat mit einer würdevollen Palliative-Care-Begleitung, aber auch mit Arbeitsbedingungen und Einstellungen, Wissen und Kompetenzen der Pflegenden zu tun.

Das Positionspapier der Evangelischen Heimstiftung ist hier online abrufbar.

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Foto: privat

Thomas Mäule

Dr. Thomas Mäule ist Leiter der Stabstelle „Theologie und Ethik“ der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart.


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