Vom Glück eines „Heiligen Nachmittags“

Kostbare Empfindungen in den Stunden vor dem Fest – dafür muss Platz sein

Den Heiligen Abend kennen alle, aber wie steht es um den „Heiligen Nachmittag“. Er ist fast noch schöner, meint zeitzeichen-Onlinekolumnist Christoph Markschies in seiner letzten Kolumne in diesem Jahr.

Eigentlich sollte ich wahrscheinlich darüber schreiben, wie wir in den letzten Tagen darüber diskutiert haben, ob man Weihnachtsgottesdienste im Präsenz feiern dürfe oder nicht, sollte analysieren, wie in diesen Diskussionen Pragmatik und hohe Theologie munter durcheinandergingen und was man aus dem Chaos lernen kann, in das mancherorts Kirchenvorstände und Geistliche durch unklare kirchenleitende Kommunikation gestürzt wurden. Vielleicht müsste ich in meiner letzten Kolumne in diesem so besonderen Jahr auch einmal überlegen, was sich aus der Tatsache lernen lässt, dass einzelne Kirchengemeinden im vergangenen Jahr trotz aller Einschränkungen phantasievoll und geradezu munter alternative Formen gemeindlichen Lebens entwickelten, andere aber praktisch in Schockstarre fielen und daraus vielleicht nie wieder wirklich erwachen werden. Gerade melden die Nachrichtenagenturen auch noch, dass man sich zwischen der Europäischen Union und Großbritannien in buchstäblich letzter Minute auf ein Handelsabkommen geeinigt hat – eigentlich könnte man auch über gute politische Nachrichten in einem schrecklichen Jahr schreiben: Ein arabischer Scheich erwirbt Anteile an dem jüdischen Jerusalemer Fußballclub und lässt sich mit einem Fan-Schal portraitieren. Vor einem Jahr wäre das noch vollkommen unvorstellbar gewesen.

Aber zu allen diesen möglichen, ja vielleicht notwendigen Kolumnen habe ich gar keine Lust, denn ich feiere gerade „Heiligen Nachmittag“. Der liturgische Kalender der Kirchen kennt diese heilige Zeit nicht, aber ich bin sicher, dass ich nicht der einzige bin, der sie feiert. „Heiliger Nachmittag“ ist die wunderbar ruhige entspannte Zeit des Wartens auf den „Heiligen Abend“. Im Radio kann man in Berlin eine zauberhafte Sendung mit barocker Weihnachtsmusik hören, die der Redakteur jeweils mit ein paar klugen Worten einleitet und kommentiert. Der Baum ist geschmückt (dazu besteht meine Frau übrigens seit Dekaden darauf, dass die „Alpensymphonie“ von Richard Strauß aufgelegt wird), die Geschenke sind eingepackt und stehen eher pro forma versteckt hinter dem Wohnzimmersofa und die Stadt wird langsam ruhig. Hin und wieder höre ich die Glocken benachbarter Kirchen, besonders eindrücklich ist das große Geläut der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, das trotz der Entfernung wie ein Donnergrollen zu vernehmen ist. Ich lese Weihnachtskarten und Grüße, habe nichts Bestimmtes vor, schreibe, wenn mir jemand einfällt, den ich bei meinen Weihnachtsgrüßen vergessen habe, noch eine elektronische Nachricht in den Computer oder ins Telefon. Der Tee schmeckt besonders gut und der Christstollen, den vor Zeiten die Verwandten aus Leipzig schickten und den man inzwischen im Laden um die Ecke kaufen kann, auch.

Natürlich könnte ich jetzt schreiben, dass es nicht umsonst „Heiliger Abend“ und „Heilige Nacht“ heißt und das Weihnachtsfest wie alle Feste in der jüdisch-christlichen Tradition mit einer Vesper am Abend beginnen. Aber mit theologischen oder liturgiewissenschaftlichen Richtigkeiten, vermittelt durch einen Experten, ist es so eine Sache. Besser sind eigene Erfahrungen: Wenn man einmal (oder gar mehrfach) das Glück erlebt hat, die Liturgie eines Hochfestes mit allen Stationen zu erleben, also den Umbruch vom festlosen Nachmittag in den Abend, ein festliches Te Deum mit vollem Geläut in der Nachtliturgie der Komplet, weiß man, was man sich vergibt, wenn man schon am frühen Nachmittag in das Weihnachtsfest hineinstolpert. Besser ist eine stille Zeit, ein „Heiliger Nachmittag“, vor dem großen Fest und das bewusste Erleben der Zäsur, die die einbrechende Dunkelheit setzt – mir ist klar, dass es gute Gründe dafür gibt, dass es schon am frühen Nachmittag ein Krippenspiel gibt und viele Menschen den Weihnachtsgottesdienst schon vor dem Abendessen hinter sich gebracht haben wollen. Aber für mich ist die spätabendliche Christvesper die Krönung des Heiligen Abends, die beste Art, Heilige Nacht zu feiern. Vor einigen Jahren hatte ich einmal das Glück, direkt in meiner Nachbarschaft in einer Kirche Max Regers Choralkantate „Vom Himmel hoch“ musiziert zu bekommen. Wer das Werk je einmal gehört hat, wird meine Begeisterung nachvollziehen können. Entsprechend beseligt fiel ich dann auch hinterher ins Bett. Und irgendwie bin ich auch immer im Heiligen Land in der Heiligen Nacht: Immer wenn ich während der Feiertage in Jerusalem bin, wandere ich mit einer größeren Gruppe im Anschluss an den Mitternachtsgottesdienst nach Bethlehem und zurück. Und natürlich muss ich an diese Wege zum Krippenkind in Bethlehem auch denken, wenn ich nur im Auto durch leere Berliner Straßen fahre.

Wenn wir bei Troste sind, denken wir im neuen Jahr gründlich darüber nach, was uns diese Corona-Adventszeit und das Weihnachten im Jahr 2020 für die Zukunft lehren können. Und dieses Nachdenken bietet vielleicht auch Gelegenheit, auf einige ältere Debatten zurückzukommen: Die Klage darüber, dass es in diesen vorweihnachtlichen und weihnachtlichen Tagen so hektisch zugeht, ist zwar etwas abgeschmackt und vielleicht sogar manchmal etwas verlogen. Wenn ich solches Klagen höre, fühle ich mich immer an die Leute erinnert, die über die irrsinnig vielen elektronischen Mails klagen, mit denen ihr Postfach überflutet wird, die aber wahrscheinlich tief traurig wären, wenn das von einem Tag auf den anderen enden würde. Statt allgemeiner Empfehlungen, wie wir vor Weihnachten ruhig werden können und es besinnlicher zugeht, würde ich in dieser so notwendigen Diskussion über Kirche nach Corona den „Heiligen Nachmittag“ stark machen wollen. Ruhig auf dem Sofa sitzen, Musik hören, lesen, auf den noch unerleuchteten Baum schauen und sich von Herzen auf die „Heilige Nacht“, den „Heiligen Abend“ freuen. Aus meinem Heiligen Nachmittag wünsche ich frohe und gesegnete Weihnachten. Weihnachtliche Nachmittage sind natürlich anders als der „Heilige Nachmittag“ vor Weihnachten. Aber auch wunderschön. Und über alles andere können wir ja noch im Neuen Jahr reden und schr

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