„Es geht nicht nur um Sprache“

Gespräch mit dem Linguisten Anatol Stefanowitsch über Genderstern, Moral und die Debatte um Identitätspolitik
„Es gibt nichts, was existiert, bevor wir darüber reden.“
Foto: dpa/Sascha Steinach
„Es gibt nichts, was existiert, bevor wir darüber reden.“

zeitzeichen: Herr Professor Stefanowitsch, in Ihrem Buch „Eine Frage der Moral“ schreiben Sie: „In der Sprache geht es – außerhalb der Poesie – nicht um Ästhetik, sondern um Kommunikation.“ Es gibt also keinen guten und schlechten Sprachstil?

ANATOL STEFANOWITSCH: Natürlich geht es in bestimmten Zusammenhängen um Ästhetik, etwa in der Poesie oder in bestimmten Formen literarischer Sprache. Das ist aber eine sehr untypische Situation des Sprachgebrauchs. Im Alltag achten wir im Großen und Ganzen gar nicht darauf, ob unsere Sprache ästhetisch ist. Da sind wir damit befasst, zu kommunizieren und Inhalte auszutauschen. Wir fangen in der Regel erst dann an, über die Form nachzudenken, wenn wir Sprache schriftlich benutzen. Da geht es aber zunächst oft vor allem um Verständlichkeit. Wenn ich die Anleitung für meine Steuererklärung durchlese, treffe ich oft auf Fachbegriffe, die ich nicht kenne. Es wird Wissen vorausgesetzt, das ich nicht habe. Das könnte man als einen schlechten Sprachstil bezeichnen, weil es ja darum geht, mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Wenn Fachleute unter sich kommunizieren, können Fachbegriffe Zeichen eines sehr guten Stils sein, weil alle sofort wissen, was gemeint ist.

Nun gibt es aber Menschen, denen es ästhetisch Schmerzen bereitet, wenn Begriffe „gegendert“ werden. Müssen diese Menschen ihren ästhetischen Anspruch an Sprache hinterfragen?

ANATOL STEFANOWITSCH: Ästhetik ist etwas sehr Subjektives. Diese Menschen müssten also begründen, warum ihr persönliches ästhetisches Empfinden über Fragen der sprachlichen Gerechtigkeit stehen soll. Ich bin aber gar nicht sicher, ob es den Leuten, die mit Ästhetik gegen die geschlechtergerechte Sprache argumentieren, tatsächlich um Ästhetik geht. Oft wehren sie sich mit diesem Argument dagegen, dass ihre Sprachgewohnheiten hinterfragt werden, dass ein Begriff plötzlich fremdartig ist und ungewohnt aneckt. Das stört, und diesem Störgefühl wird dann mit dem Vorwurf mangelnder Ästhetik Ausdruck gegeben.

Statt sich über schlechten Sprachstil zu beklagen, müssten sich diese Menschen also an die immer wieder neu auftretende Fremdartigkeit von Sprache gewöhnen, weil sich diese immer weiterentwickelt?

ANATOL STEFANOWITSCH: Ja, das ist richtig. Wir kennen diese Reaktionen nicht nur von der gegenderten Sprache, sondern auch vom Gebrauch von Lehnwörtern etwa aus dem Englischen. Auch die Sprache junger Menschen wird häufig als Sprachverfall kritisiert. Überall da, wo wir mit Sprache konfrontiert werden, die nicht der entspricht, mit der wir sozialisiert wurden, taucht diese Kritik auf. Sprachliche Sozialisation ist irgendwann abgeschlossen, und ab einem bestimmten Punkt muss man bewusst daran arbeiten. Man muss sich klarmachen, dass Sprache sich immer in verschiedene Richtungen verändern wird. Und wenn mir das aufstößt, verweist das auf mich und mein Fremdheitsgefühl in einer sich verändernden Welt zurück. Denn es geht ja nicht nur um Sprache.

Sondern?

ANATOL STEFANOWITSCH: Ich glaube, dass ein Teil dieser Sprachkritik sich auch auf das bezieht, was gesellschaftlich mit dieser veränderten Sprache verbunden ist. Dass etwa bestimmte Gruppen fordern, dass sie auch sprachlich vorkommen. Möglicherweise hat man diese Gruppen als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft noch gar nicht wahr- und ernstgenommen. Denn sie kommen einem irgendwie komisch vor. Sie ziehen sich komisch an, verwenden komische Begriffe, haben ein komisches Selbstverständnis. Das passt uns alles nicht. Und wir verstehen es auch nicht. Und dann kritisieren wir ihre Sprache und unterstellen ihnen, dass sie sich nur wichtigmachen oder sogar unser Denken kontrollieren wollen. Die offensichtliche Begründung, dass sie wahrgenommen werden oder weder sprachlich noch anderweitig diskriminiert werden wollen, akzeptieren wir aber nicht. Weil die Erfahrung von Diskriminierung sehr weit weg ist für die Meisten von uns. Wir halten viel für selbstverständlich, was eben nicht selbstverständlich ist.

Aber könnten die Vorbehalte nicht auch aus der Beobachtung rühren, dass diese Debatte vor allem der akademischen Welt entstammt, die mit dem Alltag der meisten Menschen nicht viel zu tun hat?

ANATOL STEFANOWITSCH: Ich bestreite, dass diese Diskussionen aus akademischen Aktivitäten entstehen. Diese sprachlichen Bewegungen, um die es zurzeit geht, zum Beispiel das Gendern oder die antirassistische Sprache, sind in den entsprechenden Communities entstanden. Weil diese aber im gesellschaftlichen Diskurs marginalisiert sind, wurde die Debatte erst dann wahrgenommen, als sie die akademische Welt erreicht hat. Dort wurden diese Themen übrigens zunächst überhaupt nicht willkommen geheißen. Im Gegenteil, die erste Generation von Sprachwissenschaftlerinnen, die sich wissenschaftlich mit feministischer Sprachpolitik beschäftigten, musste große Widerstände überwinden. Man hat ihnen gesagt, dass das unseriöse Ideen aus irgendwelchen aktivistischen Kreisen seien.

"Identitätspolitik ist genau das, was die Mehrheitsgesellschaft sowieso immer betreibt."

Das ist mittlerweile anders. Heute sehen manche die Freiheit von Wissenschaft und Kultur von Identitätspolitik beeinträchtigt, in der die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe das entscheidende Kriterium ist.

ANATOL STEFANOWITSCH: Der Begriff Identitätspolitik wird im Moment von der politischen Rechten diskreditiert und zum neuen Kampfbegriff erklärt, so wie es mit „politisch korrekt“ ja auch schon passiert ist. Identitätspolitik ist aber in keiner Weise irgendetwas Ehrenrühriges. Und Identitätspolitik ist genau das, was die Mehrheitsgesellschaft sowieso immer betreibt. Nur halt im eigenen Interesse. Sie konnten das zum Beispiel im US-Wahlkampf wieder beobachten: Die Kommentatoren rutschten immer wieder in dieselben Muster, als sie sagten, die amerikanischen Arbeiter akzeptierten identitätspolitische Debatten nicht. Eigentlich redeten sie aber nur über die weißen Arbeiter. Und möglicherweise akzeptierten sie das wirklich nicht, weil sie selber identitätspolitisch sozialisiert sind, bloß auf ihre eigene Identität hin. Aber mit welchem Recht macht sich eine weiße, männlich dominierte Mehrheitsgesellschaft zum Normalfall und wirft allen anderen vor, Identitätspolitik zu betreiben? Identitätspolitik heißt, dass Gruppen, die marginalisiert sind, genauso wahrgenommen werden wollen, wie es die Mehrheitsgesellschaft sowieso für sich in Anspruch nimmt. Und dabei ist Sprache ein entscheidender Faktor.

Damit formulieren Sie einen hohen moralischen Anspruch an Sprache. Überfrachten Sie sie damit nicht?

ANATOL STEFANOWITSCH: Sprechen ist eine Form des Handelns. Und sie hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz, weil in unserer extrem komplexen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ein großer Teil des Austausches nur noch über Sprache stattfindet. Gesellschaftliche Institutionen sind zum größten Teil sprachlich konstituiert, etwa durch Gesetzestexte. Und wenn Sprache Handeln ist, unterliegt sie denselben Maßstäben wie andere Formen des Handelns, auch moralisch. Ich tendiere ja zu einer sehr praktischen Moral, die im Prinzip nur sagt, dass man andere Leute nicht anders behandeln sollte, als dass man das für sich selbst akzeptieren würde. Ich glaube, das ist ein relativ unstrittiges Prinzip in anderen Bereichen menschlichen Handelns. Und deshalb muss es natürlich auch auf Sprache angewendet werden.

Hinter dem Streit um Sprache steht ja oft auch eine unterschiedliche Haltung zu ihrer Funktion und der Beziehung von Sprache und Wirklichkeit. Die einen sagen, Sprache bildet Wirklichkeit ab, andere sagen, sie konstruiert Wirklichkeit. Was denken Sie?

ANATOL STEFANOWITSCH: Sprache ist ein Werkzeug, mit dem wir versuchen, die Wirklichkeit abzubilden. Aber sie kann nur das abbilden, was wir glauben wahrzunehmen. Das gilt in der materiellen Welt und noch mehr mit Blick auf soziale Wirklichkeiten. Da gibt es ja nichts, was existiert, bevor wir darüber reden. So gesehen, konstituiert sich unser Verständnis von Gesellschaft und Gemeinschaft und Werten erst durch Sprache. Und damit sind natürlich die sprachlichen Kategorien entscheidend, mit denen wir das tun. Wir haben zum Beispiel lange gesellschaftliche Diskussionen darüber geführt, wer alles zu der Kategorie Mensch gehört. Wir haben ganzen ethnischen Gruppen auf anderen Kontinenten abgesprochen, Menschen zu sein, und sie in der Folge auch juristisch so behandelt. Heute sagen wir, wer ihnen dieses Menschsein abspricht, der stellt sich jenseits jedes Diskurses.

"Wie viele Geschlechter gibt es? Das ist keine faktische Frage."

Mit Blick auf die gegenderte Sprache bedeutet das: Erst seitdem wir das Sternchen auch in unserer Sprache sehen und den Gendergap auch akustisch hören, nimmt ein Großteil der Gesellschaft überhaupt etwas wahr, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt? Aber wer bestimmt das am Ende?

ANATOL STEFANOWITSCH: Die Gesellschaft selbst in einem manchmal langen Diskussionsprozess. Das Einvernehmen lässt sich nicht im Hauruckverfahren herstellen. Das ist immer schwierig für die Gruppen, die unter bestimmten strukturellen Gegebenheiten leiden. Ich verstehe sehr gut, wenn Leute sagen, ich möchte über meine Identität gar nicht diskutieren müssen. Aber wenn ein großer Teil der Gesellschaft nicht versteht, was ein anderer Teil mit Identität meint, dann wird man diskutieren müssen. Und da können sprachliche Formen wie das Gendersternchen oder andere helfen, weil sie fremd sind und stören und Aufmerksamkeit erzeugen. Es entzündet sich ein gesellschaftlicher Diskurs, der zum Teil sehr brutal und entwürdigend geführt wird. Das sollte nicht so sein. Aber er wird wenigstens geführt.

Manchmal wird aber auch einfach verordnet, wie etwa in Hannover. Dort hat die Politik entschieden, dass das Gendersternchen in amtlichen Schreiben genutzt wird. Wie beurteilen Sie einen solchen Schritt?

ANATOL STEFANOWITSCH: Es gibt für mich dabei zwei Probleme. Das eine ist, dass eigentlich innerhalb einer Behörde vor solchen verpflichtenden Sprachregelungen ein Konsens über das Thema hergestellt werden müsste. Damit diejenigen, die die Behörde nach außen vertreten, auch hinter dem stehen, was sie da tun. Das andere Problem ist: Wenn ich weiß, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommunalverwaltungen in Hannover benutzen das Gendersternchen, weil sie es benutzen müssen, bedeutet das Gendersternchen gar nichts mehr. Es sagt mir nichts darüber, wie diese Person mich sieht. Es sagt mir nichts darüber, wie die Behörde mich sieht. Es sagt mir im Prinzip noch nicht mal was darüber, wie die Stadt Hannover mich sieht. Es steht dann nämlich der Verdacht im Raum, dass die Stadt Hannover die Diskussion einfach auf diese Weise beenden wollte. Das verkennt aber, dass es nie Ruhe geben wird. Selbst wenn die konservativste Kommune des Landes auch das Gendersternchen nutzt, kann man sicher sein, dass es Leute geben wird, die sagen, ich fühle mich durch das Gendersternchen überhaupt nicht mitgemeint. Das ist eine Form, die ihr sehr beliebig ausgewählt habt. Ihr habt uns nicht zugehört in der Community, warum manche von uns einen Unterstrich benutzen, manche von uns ein Sternchen. Ihr seid einfach davon ausgegangen, dass das alles das Gleiche ist. Doch das ist es nicht. Diese Art von Vorschriften sollte man nicht einführen.

Wie sehen Sie das mit Blick auf die Medien? Sollte es in Redaktionen eine Vielfalt geben oder eine klare einheitliche Regelung?

ANATOL STEFANOWITSCH: Die Medien, die das am besten machen, sind die, die keine einheitliche Linie vorgeben. Die niemandem etwas vorschreiben, aber ermutigen zu reflektieren, warum bestimmte Formen der Sprache vielleicht von bestimmten Gruppen abgelehnt werden. Und die Freiräume öffnen, um dann unterschiedliche Lösungen auszuprobieren: das Gendersternchen, die Genderlücke oder die Doppelform. Oder von mir aus weiterhin das generische Maskulinum verwenden. Denn wenn sich eine Zeitung entscheidet und sagt, für uns ist das generische Maskuline eigentlich perfekt, weil unsere Leserschaft sowieso hauptsächlich männlich ist, dann sehe ich auch darin kein Problem.

Man kann ja auch durchaus argumentieren, dass das generische Maskulinum alle anderen Geschlechter miteinschließt.

ANATOL STEFANOWITSCH: Das generische Maskulinum ist eine gesellschaftliche Praxis, die funktioniert, etwa in Gesetzestexten. Frauen können sich auf Gesetzestexte berufen, die maskulin formuliert sind. Aber im Sinne einer klaren, einfachen, transparenten Sprache ist das generische Maskulinum eine ganz schlechte Idee. Es ist immer missverständlich, denn es unterscheidet sich ja nicht von dem Maskulinum, das Männer bezeichnet. Und deshalb lässt es immer diesen Interpretationsspielraum offen. Das ist ein Problem. Und es ist auch eine schlechte Idee mit Blick auf die semantische Wirkung. In der Forschung wird immer und immer wieder dasselbe Ergebnis bestätigt, nämlich, dass das generische Maskulinum als männliche Form interpretiert wird. Und dass es immer einen Extraaufwand bedeutet, den Begriff im Maskulinum so zu interpretieren, dass alle mitgemeint sind. Das führt zu einer gedanklichen Überrepräsentation von Männern. Das ist alles wirklich so dutzendfach durch Forschungsergebnisse bestätigt worden, dass man das als gegeben hinnehmen kann. Es gibt noch immer Sprachwissenschaftler, die das bestreiten. Aber sie bewerten Sprache nicht vom Verständnis oder Missverständnis der Hörenden und Lesenden her und tun die gesamte Forschung zu dem Thema einfach als irrelevant ab. Das ist nicht plausibel.

Wir sind uns in der zeitzeichen-Redaktion auch noch nicht sicher, wie wir das in Zukunft handhaben wollen.

ANATOL STEFANOWITSCH: Jedes Medium operiert ja in einem Wertesystem, das sich aus seiner Leserschaft ergibt. Dieses Wertesystem dürfte bei Ihnen besonders ausgeprägt sein, aber auch sehr differenziert. Im Bereich der evangelischen Kirche laufen diese Diskussionen über sprachliche Formen ja auch und dürften das gesamte Spektrum abdecken. Ich würde Sie auf jeden Fall dazu ermutigen, dieses Spektrum auch in Ihrem Medium zuzulassen. Diese Idee der Einheitlichkeit im Stil ist nach meinem Eindruck dem Thema und dem Charakter von zeitzeichen als Diskussionsforum der evangelischen Welt nicht angemessen.

 

Das Gespräch führten Stephan Kosch und Reinhard Mawick am 19. November via Zoom.
 

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Foto: Ben Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch (Jahrgang 1970) ist seit 2012 Professor für Sprachwissenschaft am Institut für Englische Philologie der Freien Universität Berlin. Nach dem Studium der Anglistik, Linguistik und Sprachlehrforschung in Hamburg arbeitete er zunächst als Gastdozent an der Süddänischen Universität in Odense und später als Professor an den Universitäten Bremen und Hamburg. 2018 erschein im Dudenverlag seine Streitschrift „Eine Frage der Moral – Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“. Gemeinsam mit zwei weiteren Sprachwissenschaftlerinnen schreibt er im Blog „Sprachlog“ über linguistische Fragestellungen.

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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