Der gefolterte Stuhl

Warum man den Film „Das neue Evangelium“ von Milo Rau gesehen haben sollte
Am Set des Films "Das neue Evangelium" von Milo Rau
Foto: Armin Smailovic
Am Set von "Das neue Evangelium" von Milo Rau (stehend).

Der Schweizer Regisseur Milo Rau hat mit „Das neue Evangelium“ die Geschichte Jesu neu verfilmt – und gleichzeitig einen Appell für die Rechte von ausgebeuteten Migranten in der süditalienischen Agrarindustrie in Szene gesetzt. Das funktioniert nicht immer. Dennoch kann der Dokumentarfilm, der gleichzeitig ein Spielfilm ist, bewegen.

Dass ausgerechnet das Vorsprechen für eine Rolle die stärkste Szene im Film ist, dürfte in der nunmehr rund 100-jährgen Geschichte der bewegten Bilder einzigartig sein. In Milo Raus „Das neue Evangelium“, das ab Donnerstag gestreamt werden kann, ist es aber genau so: Ein junger Italiener erklärt bei einem dokumentarisch gefilmten Gespräch in einer Kirche vor Rau und einem Assistenten, dass er gerne in dem Film des Schweizer Regisseurs eine Rolle übernehmen würde – und weil hier die Geschichte Jesu verfilmt werde und gerade weil er katholisch sei, würde er am liebsten, vielleicht als eine Art kathartischer Akt, einen der Folterknechte spielen, die den Heiland kurz vor seiner Kreuzigung fast zu Tode peitschen.

Was folgt, verschlägt einem fast die Sprache: Ohne dazu aufgefordert zu werden, nimmt der trainierte Mann seine Brille ab, zieht sein T-Shirt aus, macht mit bloßem Oberkörper einige Liegestützen, ergreift dann schwitzend eine mehrschwänzige Peitsche und drischt minutenlang mit wachsender Aggressivität auf einen Stuhl als Ersatz für den zu folternden Jesus ein. Dabei lässt er all den Hass auf Schwarze, Flüchtlinge und Migranten in einer Sturzflut aus Beschimpfungen und Schmähungen, aus rassistischen und sexistischen Witzen heraus, dass man unwillkürlich denkt: Ist das jetzt noch Spiel? Glaubt der Mann wirklich, was er da sagt? Hat er eine Form von Vorfreude auf sein Tun im Film? Und würde er das in Wirklichkeit unter Umständen auch tun?

Starker Film

„Das neue Evangelium“ von Milo Rau ist ein starker Film – und diese Szene gehört sicherlich zu den unvergesslichen. Der vielfach mit Preisen bedachte Rau hat sich einen Namen damit gemacht, einerseits politische Stoffe wie zum Beispiel den Völkermord in Ruanda und den Prozess um den rassistischen Massenmörder Breivik aus Schweden in seinem Werk zu thematisieren, andererseits mit vielen Laien, ja ganzen Bürgerschaften Stücke zu inszenieren, die die ganze Stadt betreffen, zuletzt etwa im flämischen Gent die wechselvolle Geschichte des berühmten spätmittelalterlichen Altars „Das Lamm Gottes“ der Brüder van Eyck, der für die Identität der Stadtgesellschaft von immenser Bedeutung ist.

2019 wurde Rau gebeten, etwas in der damaligen „Kulturhauptstadt Europas“, der süditalienischen Stadt Matera, auf die Bühne, oder wohl eher: auf die Straße zu bringen. Und der mehrfach begabte Regisseur hat daraus etwas gemacht, was mit seinem nun vorliegenden Film schwer in Genreschubladen zu fassen ist. Denn einerseits ist „Das neue Evangelium“ ein engagierter Dokumentarfilm zu einem sozialpolitischen Thema. Dann ein phasenweise leicht ironischer Film über Dreharbeiten. Schließlich aber auch ein klassischer Spielfilm – und die Genres werden ganz bewusst vermischt, sie sollen sich offenbar gegenseitig erläutern und stärken.

Der Dokumentarfilm schildert die Ausbeutung der oft schwarzen Flüchtlinge auf den süditalienischen Gemüsefeldern rund um Matera. Er schildert, wie der kampferfahrene Flüchtlingsaktivist und Autor Yvan Sagnet, geboren im Kamerun, mit den ausgebeuteten und im Elend hausenden Menschen Proteste organisiert, damit ihre Situation verbessert wird, sie endlich ein Leben in Würde haben. Gleichzeitig schlüpfen einige Flüchtlinge und Sagnet selbst in die Rolle von Jesus und seinen Aposteln – das ist der Spielfilm, den Rau inszeniert. Die Protagonisten sind übrigens relativ klassisch in wallenden Gewändern gekleidet, jedoch ist das Ganze künstlerisch gebrochen durch eine moderne Umgebung mit Autos, Betonwänden oder Lautsprechern. Die Rolle Sagnets als Aktivist und seine Rolle als Jesus verschwimmen dabei – so wird beispielsweise Jesu wahrscheinlich historische Tat des Umstoßens der Händlertische im Tempel von Jerusalem in Beziehung gesetzt zu einer politischen Aktion Sagnets, bei der er mit anderen im Supermarkt mit Tritten Tomaten zermantscht, die die Flüchtlinge unter ausbeuterischen Bedingungen ernten mussten.

Kreuzigung mit Handys gefilmt

Schließlich kommen noch die Szenen dazu, in denen Rau die Bürgerinnen und Bürger von Matera sowie die Touristen der Gegend für die Jesus-Szenen einspannt. So ist etwa zu sehen und zu hören, wie die touristischen Gäste der Stadt mit den Materanern vor Pontius Pilatus lauthals fordern, den schuldigen Barrabas frei zu lassen – statt den unschuldigen Jesus.  Touristen filmen mit ihren Handys die Kreuzigungsszene, und Rau filmt sie seinerzeit dabei. Und der Pseudo-Folterknecht darf dann im Spielfilm tatsächlich mit viel Theaterblut Sagnet/Jesus auspeitschen – aber diese Szene ist lange nicht so bewegend ist wie die Probenszene mit dem jungen Mann zuvor. Das liegt wohl auch daran, dass gleichzeitig bewusst das Filmset zu sehen ist, offenbar recht nahe angelehnt an das Brecht’sche Verfremdungsprinzip im Theater: „Zeigt, dass ihr zeigt!“

Warum aber erzählt Rau überhaupt die Jesus-Geschichte? Da ist einerseits der Ort Matera. Hier drehte Pier Paolo Pasolini 1964 seinen berückenden Schwarz-Weiß-Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“, ein Meisterwerk. Rau nutzt Szenen daraus in seinen Film, ja zeigt Pasolinis Film den Flüchtlingen, auch das ist zu sehen. Auch Mel Gibson hat für sein Werk „Die Passion Christi“ im Jahr 2004 die wunderbare Kulisse von Matera genutzt – ein umstrittener Streifen, vor allem wegen antisemitischer Anklänge, aber auch einer Splatter-Ästhetik, die man einerseits als radikalen Realismus eines ja historischen Kreuzigungs-Geschehens werten mag, andererseits als Überwältigungskino verurteilen kann. Rau nimmt die Fäden beider Filme in „Das neue Evangelium“ auf, indem er nun Pasolinis Jesus-Darsteller Enrique Irazoqui den Propheten Johannes der Täufer spielen lässt, während Gibsons Maria Maia Morgenstern erneut die Mutter Gottes verkörpern darf.

Rau spielt also mit diesen Vorbildern aus der Filmgeschichte. Er spielt im doppelten Sinne des Wortes auch mit der heutigen Stadtgesellschaft von Matera und den Touristen. Spielt er zugleich mit den Flüchtlingen, vielleicht auch mit der Geschichte Jesu? Nein, denn die Ausgebeuteten und ihr Kampf haben seine höchste Sympathie – und die Botschaft und das Leiden Jesu schildert er mit großem Ernst. Allerdings wendet er beides vor allem in eine sozialrevolutionäre Richtung, die in den Sechziger und Siebziger Jahren en vogue war. Natürlich ist diese Interpretation des Evangeliums nur eine Möglichkeit, Jesu Leben und Wirken zu deuten. Es ist die eher agnostisch-atheistische, vielleicht linke Sicht auf Jesus von Nazareth, die die heutige Theologie in der Regel als höchstens die Hälfte der Wahrheit ansieht. Aber gerade in Zeiten des kapitalismuskritischen Papst Franziskus oder einer den Flüchtlingen sehr zugetanen Evangelischen Kirche in Deutschland passt diese Interpretation wieder ganz gut in die heutigen Diskussionen Europas.

Appell zur Solidarität

Bleibt am Ende die Frage: Ist „Das neue Evangelium“ nun gelungen? Das dürfte wohl ein wenig Geschmackssache sein. Auch wenn ich das Anliegen Raus der politischen Aktualisierung der Botschaft Jesu und seinen gesellschaftlichen Appell für mehr Gerechtigkeit ehrenhaft und wichtig finde: Mich haben die Dokumentar-Szenen zum Kampf der skandalös ausgebeuteten Landarbeiterinnen und -arbeiter für ihre Rechte nicht besonders berührt – vielleicht weil man Ähnliches schon anderswo und, wie ich finde, oft besser dokumentiert gesehen hat. Auch die von Rau angebotenen Brücken zwischen Dokumentar- und Spielfilm, zwischen der Botschaft Jesu und dem Aktivismus von Sagnet erscheinen mir oft doch ziemlich schwankend, sie funktionieren nur so halb

Seltsamerweise haben mich aber die so gebrochenen Spielfilmszenen des Wirkens und Leidens Jesu gerade wegen der Laienschauspielschar mit ihren unverbrauchten Gesichtern mehr angesprochen. Das mag natürlich auch damit zusammenhängen, dass meine christliche Prägung hier stärker das Herz geöffnet hat. Dennoch ist Raus Film zu empfehlen. Denn sein filmischer Appell zur Solidarität mit den Ausgebeuteten und sein originelles Spiel mit Formen, Erwartungen und Rollen ist mutig, innovativ und sehenswert. Wer sich auf dieses Spiel mit offenen Augen einlässt, wird diesen Film so schnell nicht vergessen.

Hinweis: Wegen der Corona-Pandemie läuft der Film nicht wie üblich in den Kinos. Aber unter http://www.dasneueevangelium.de/ kann ein Online-Kinoticket erworben werden. Die Zuschauer wählen dabei gleichzeitig ein Kino aus, das sie am Erlös beteiligen möchten. Dieses Kino erhält dann 30% des Preises eines digitalen Tickets. Der Film ist nach Bezahlung und anschließender Aktivierung der Ticket-ID 24 Stunden streambar. Preise für das digitale Streamen: Einzelticket: 9,99 Euro, ab 20 Karten bei Gruppen: 7,99 Euro, ab 50 Karten für Gruppen: 5,99 Euro.

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