Bekenntnisse eines Weihnachtsmuffels

Foto: Harald Oppitz

Ich bin ein Weihnachtsmuffel. Das hat die letzten Jahre nur niemand gemerkt, weil mir die Gottesdienste am Heiligen Abend wirklich Spaß gemacht haben. Weihnachtsgottesdienste sind das Einzige, was ich an Weihnachten liebe! Die Kirche brechend voll, Posaunenchor, „O du fröhliche“ im Stehen gesungen und beim Abschied an der Kirchentür sieht man ehemalige Konfirmandinnen und Konfirmanden wieder.

Das hat meinen Bedarf an Weihnachtsstimmung aber vollkommen abgedeckt. Mehr Weihnachten brauche ich nicht. Ich habe auch keinen Weihnachtsbaum. Mein Nach-Gottesdienst-Programm am Heiligen Abend besteht darin, auf dem Sofa zu lümmeln und die Beine hochzulegen. Ich weiß, dass es für viele Menschen ganz wichtig ist, an Weihnachten die Familie zu treffen und dass es ganz viele Leute gibt, die an Weihnachten ganz traurig sind, wenn das nicht möglich ist. Ich gehöre zu der Minderheit, der dieses Bedürfnis völlig abgeht. Ich habe schon als Kind entdeckt, dass Weihnachten nicht nur schön, sondern auch stressig ist. Dabei haben sich meine Eltern wirklich Mühe gegeben. Bei mir zu Hause gab es eine prächtige Tanne, viele Geschenke und mein Vater las uns die Weihnachtsgeschichte vor. Dann sangen wir gemeinsam Weihnachtslieder und meine Schwester und ich spielten Omi auf den Blockflöten vor. Das Problem jedes Jahr: Wenn mir ein Geschenk nicht so gefiel, wie das eigentlich vorgesehen war. Ich bin ein im Grunde ehrlicher Mensch und habe es auch deshalb nie richtig hinbekommen, Begeisterung zu heucheln. Das verursachte Missstimmung im Familienkreis. Die Situation eskalierte, wenn meine Schwester ein Geschenk bekam, auf das eigentlich ich scharf war.

Jahre später verbrachten mein Mann und ich viel Zeit auf der Autobahn, weil nach dem Heiligen Abend bei meinen Eltern traditionell am 1. Weihnachtstag die Schwiegermutter besucht werden musste. Am 2. Weihnachtstag waren wir vom Weihnachtsfrieden dann etwa so weit entfernt wie Israelis und Palästinenser im Heiligen Land. Das hat meine Liebe zu Familienritualen nicht gerade gesteigert. Mein Beruf war in Sachen Weihnachten dann wirklich meine Rettung. Keiner durfte nach meiner Ordination mehr von mir verlangen, die obligatorischen Weihnachtsbesuche zu absolvieren. Ich musste an den Feiertagen arbeiten! Wie wunderbar! Ich tat so, als ob mir die Familie schrecklich fehlen würde. Klammheimlich war ich aber total erleichtert.

In diesem Corona-Jahr haben es Weihnachtsmuffel wie ich schwer. Wir stehen moralisch unter Druck, mindestens so schlimm wie damals, als ich am 1. Weihnachtsfeiertag meine ungeliebte Schwiegermutter besuchen musste. Wir sollen mitfühlend sein, wenn Menschen nicht gemeinsam Weihnachten feiern können. Oder nur im kleinen Kreis. Wir wirken unsensibel, wenn wir das eigentlich nicht so wirklich schlimm finden. Es wird Zeit, dass ich zu meinen Gefühlen stehe. Darüber hinaus finde ich, in diesem Jahr könnte Deutschland von uns Muffeln lernen. Ich bin nämlich der Ansicht, dass die Welt nicht untergeht, wenn man an Weihnachten mit höchstens fünf Personen feiern kann. Viel mehr waren im Stall von Bethlehem übrigens auch nicht anwesend.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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