Ortsbestimmung

Nubya Garcia: Source

Die überall spürbare Pandemie schränkt ein, über den Phantomschmerz kann sie indes auch Räume offenbaren. Zwar haben die jeweils dazugehörigen Orte nicht die Funktion verloren, aber ihren Zauber. Insofern haben sie aufgehört, Raum zu bieten – wie in Dortmund etwa der Jazzclub domicil. Obwohl die Bar schon früh wieder öffnete und oben bereits wieder eingeschränkt Programm läuft, ist er längst nicht, was er sein soll, und fehlt als Raum weiter. Was den ausmacht, reflektiert Nubya Garcias Album „Source“ über das Erinnern. Denn eingespielt hat es die 29-jährige Tenorsaxophonistin und Bandleaderin aus dem Herzen von Londons quirliger junger Jazzszene in derselben Besetzung, mit der sie voriges Jahr im domicil war: Ezra Collective“-Keyboarder Joe Armon-Jones (Piano, Wurlitzer), Daniel Casimir (Kontrabass) und Sam Jones (Drums). Gäste wie Trompeterin Ms Maurice (Sheila Maurice-Grey; auch Flügelhorn und Chor) kommen hinzu.

Stilistische Koordinaten sind Westafrika, Fusion-Jazz, die West Indies, wo die in vielen Formationen aktive Garcia auf Trinidad und Tobago familiäre Wurzeln hat, und eben die englische Metropole, historisch gelesen ist es also das unselige Sklavenhandelsdreieck. Welch ein Triumph an Wärme, Spielfreude, Kreativität und Lebendigkeit ist demgegenüber dieses Album mit neun Stücken und einem Spirit, der Tanz- und Popappeal, forschende Frickelei, klangzartes Streicheln, Frauen-Empowerment, spirituelles Reisen und Hymnik gleichermaßen umfasst. Schwärmen erlaubt. Herausgehoben seien hier besonders der zwölfminütige Titel-Track „Source“ („Quelle“, „Ursprung“ oder besser: „Herkunft“ – damit altlinke Gedankenpolizei nicht gleich zum Holster greift) – ein smarter, sehr energischer Dub-Reggae. Der Rhythmus läuft durch, wird jedoch immer wieder dynamisch frisiert. In der Mitte kippt mit einem rasanten Solo von Irrwisch Armon-Jones dann der Flow in ekstatische Improvisation. Ausgelassen, ohne Tag und Stunde. Während das Saxophon zuerst weich und voll wie ein Nebelhorn klingt, ist der Ton hier scharf und pointiert, bis „Source“ zum Ende hin zurück ins unverstellte Pulsen findet.

Musik, die sich lohnt – und in diesen Zeiten auch verweisen kann: „Ort“ beschreibt, wo man ist, „Raum“ hingegen, wie und auch wer man ist oder war, werden kann. Bestenfalls. Es geht um Atmosphäre, die Situation, auch das Wechselspiel von Band und Publikum, wenn sich die Musik ereignet, im Hören abheben lässt oder erdet, je nachdem. Ums Erleben, das davon geprägt ist, dass Zeitebenen verwirbeln, ineinanderrutschen, auf den Punkt kommen, Augenblick werden, mit andern geteilt, zugleich intim, privat. Dafür braucht es Räume, die aber selbst dann, wenn alle Orte wieder unverstellt offen stünden, keineswegs garantiert sind. Doch „Source“ lässt darauf hoffen.

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