Störung und Gnade

Ein Gedankensprung: Störungen können die Gnade eines fruchtbaren Augenblicks in sich tragen
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Menschen sind wie die Ameisen auch rätselhafte Wesen. Mit dem Unterschied: Sie versuchen ständig, sich einen Überblick zu verschaffen und einen Plan zu machen. In diesen Plänen versuchen sie, alle Fehlerquellen auszumerzen. Sie kontrollieren und überwachen. Doch damit drehen sie sich auch im Kreis, denn sie übertreiben es bisweilen mit der Vorsicht. Bis hin zur totalen Überwachung. Im Atomkraftwerk ist alles unter Kontrolle? Puff! Kein System ist hundertprozentig sicher. Überall sitzen Fehlerteufel und warten auf ihren Einsatz.“ (Peter Felixberger)

Ist die Gewährung von Gnade Ausdruck einer besonderen Beobachtung, die Gott den Menschen zukommen lässt – oder nicht vielleicht eher eine Option innerhalb einer mehr oder weniger erfolgreich kommunizierenden Gesellschaft, auch auf Nichtfunktionierendes wie Störungen zu achten? Die Gesellschaft von heute zu beobachten, verkörpert doch wohl auch einen Akt der Gnade, also die Option, auf einmal alles, was uns hier begegnet, jetzt in einem neuen Licht zu sehen und die jeweilige Perspektive zu wechseln.

Kein Zweifel: In einer konsum- und leistungsorientierten Gesellschaft wie der unsrigen heute, in der mehr denn je versucht wird, Risiken und Störungsquellen, soweit es gerade geht, zu kontrollieren, führt diese Strategie früher oder später in die Paradoxie. Bei aller scheinbar so kultivierten Fehlerkultur: Je mehr wir Fehler, Irritationen und Störungen als Quelle oder System von neuen Fehlern und Störungen entdecken und gleichzeitig auszuschalten versuchen, desto weniger sind wir in der Lage, aus dieser endlosen Schleife auszusteigen. Die Botschaft von technischen und sozialen Diagnosesystemen lautet jeweils: Störungen erzeugen ein Dauerbewusstsein für mögliche neu drohende Störungen. Corona lässt aus nächster Nähe grüßen ...

In zwischenmenschlichen Krisenmomenten fällt bekanntlich schon manchmal der Satz: „Entspann dich jetzt mal.“ Dieser Satz kann kaum zur Störungsbehebung beitragen – suggeriert er doch dem Gegenüber, dass dieser zur Störung beitragen kann. Die Methode, das Kommunizieren selbst zum Thema zu machen, ist also ein Restrisiko, das sich nicht minimieren lässt. Wer heute Störungen nicht als Bedrohung des Systems, sondern als Herausforderung, mit diesem umzugehen, lernen will, braucht eine Mischung aus aktivem Zuvertrauen und der Fähigkeit, schnell auch einmal ins Gegenteil umzuschalten, die Gnade eines fruchtbaren Augenblicks zu erwischen.

Ist eine Störung nicht immer auch eine Option, das Unabwendbare plötzlich neu zu bewerten? Vielleicht auch als Risiko, sich quasi ungesichert in Störfällen von technischen Systemen und des eigenen Lebens zu bewegen. Das Risiko, in seinem Leben Störungen zu begegnen, lässt sich ebenso wie die Aussicht, Zeitreisen zu unternehmen, – glücklicherweise – nicht wirklich berechnen. Doch das Risiko, dass wir in unserem Leben vielleicht schon einmal eine große Gnade erfahren durften, können wir einfach annehmen. Von der Störung zur Gnade ist es im Grund nur ein kleiner Gedankensprung, erweitert man den Begriff der Gnade um wesentliche Aspekte …

Ist die Gewährung von höherer Gnade nicht auch eine Fähigkeit, kreativ auf die Ängste und Sorgen, Störungen und Irritationen der Gegenwart und der Zukunft – und zwar etwas freier – zu reagieren? Welcher, wenn man so sagen will, Wort-Witz steckt denn nun aktuell im Begriff der gegenwärtigen Gnade? Wenn, wie heute, alles vor allem auch sprachlich anders möglich ist, warum sollten wir nicht die Gnade annehmen, diese neuen Freiheiten einfach auszuprobieren?

Nach Gottlieb Ephraim Lessing verbindet der Witz gegensätzliche Begebenheiten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben (wie jetzt hier: Gnade und Witz), so ineinander, dass wir jeden Augenblick „den einen unter dem anderen verlieren“. Der Witz einer Darstellung verwickelt die Kreativität derjenigen, die mit dieser arbeiten, in die Leichtigkeit einer Aktivität, aus deren Form sich am Ende eine besondere, hier und jetzt sich abzeichnende Gnade erkennen lässt.

Gehört die Gnade – auch die Gnade Gottes – nicht auch uns, den Menschen, die ohne erweiterte Ideen von der und ohne den Zuspruch durch die Gnade gar nicht leben könnten? Ob Sie die Leichtigkeit der Gnade spüren, die in nur einem einzigen wunderbaren Wort stecken kann, ist von der Gnade dessen abhängig, der Ihnen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis geschenkt hat. Und an dieser Stelle beginnt immer wieder neu unser ganz persönlicher Glaube ...


 

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Michael Kröger

Michael Kröger arbeitet als freierAutor und Kurator für zeitgenössische Kunst im Kunstraum hase29 in Osnabrück sowie für die Kirchengemeinde St. Marien/Osnabrück.


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