Genialität und Vermächtnis

Dietrich Bonhoeffers frühe Dissertation von 1927 und seine letzten Texte aus der Haft
Dietrich Bonhoeffer
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Das multiperspektivische Denken Dietrich Bonhoeffers im Blick auf Gott und die Kirche hat bleibende Bedeutung für Theologie und Religiosität weltweit. Es ist schon in der Dissertation des 21-Jährigen großartig angelegt und erfährt in den letzten Lebensmonaten vor seiner Ermordung durch die Nazis beeindruckende Konkretionen, wie der Heidelberger Theologe Michael Welker in seinem Beitrag zeigt.

Bonhoeffers Doktorarbeit Sanctorum Communio, mit 21 Jahren abgeschlossen, ist ein geniales Werk. Es verbindet auf hohem Niveau systematisch – und praktisch-theologisches, exegetisches, philosophisches und soziologisches Nachdenken über die Kirche. Karl Barth drückt seine Bewunderung in der Kirchlichen Dogmatik im Kleingedruckten so aus: „Ich gestehe offen, daß es mir selbst Sorge macht, die von Bonhoeffer damals erreichte Höhe wenigstens zu halten, und von meinem Ort her und in meiner Sprache nicht weniger zu sagen und nicht schwächer zu reden, als es dieser junge Mann damals getan hat.“

Barths reife Lehre von der Kirche, im Ruhestandsalter veröffentlicht, ist inhaltlich-theologisch sehr viel reicher als Bonhoeffers Dissertation. Aber kulturdiagnostisch und im Blick auf die „Soziologie der Kirche“ liegen Welten zwischen Bonhoeffers Geniestreich und Barths auf weite Strecken systematisch begrenztem Denken in bipolaren oder bestenfalls triadischen Konstellationen.

Viele theologische Denker haben den Versuch unternommen, die Kirche und religiöse Verhältnisse überhaupt in einfachen zweiseitigen Strukturen wahrzunehmen, vor allem in sogenannten personalistischen Ich-Du-Verhältnissen. Ob die innergöttlichen Beziehungen, das sogenannte Gott-Mensch-Verhältnis und das sogenannte Mensch-Mitmensch-Verhältnis – bipolares Denken kontrollierte das gesamte Paradigma der Theologie. Erst allmählich wurde deutlich, dass die personalistischen Theologien nicht in der Lage sind, komplexe religiöse und gesellschaftliche Verhältnisse angemessen zu erfassen. Sie bleiben in heutiger Zeit unter dem Niveau des gesunden Menschenverstands.

Bonhoeffer korrigiert solche reduktionistische Formen. Er verbindet feinsinnige Wahrnehmungen der Ich-Du-Verhältnisse und der Nahbereichsethik mit Überlegungen zu polyphonen Strukturen, die Schleiermacher „gesellig“ genannt hat, aber auch mit Überlegungen zu festen institutionalisierten sozialen Formen. Alle diese zwischenmenschlichen Verhältnisse werden nicht nur in ihren Auswirkungen aufeinander bedacht, sondern auch im Blick auf ihre differenzierten Gottesbeziehungen.

Dieses große soziale Geflecht, so sieht der junge Bonhoeffer scharfsinnig, stellt sich unter philosophischen und theologischen Rahmenbedingungen jeweils anders dar. In einem aristotelischen, einem von der Stoa oder von Epikur inspirierten Schema oder in einem Schema, das vom Denken der Moderne dominiert wird, erhalten wir jeweils unterschiedliche Konzepte von Gott, vom Menschen und von den verschiedenen Gemeinschaftsformen. Diese Wechselzusammenhänge müssen in konkreten Kontexten erfasst werden, wenn wir realistisch, theologisch und ethisch hilfreich von Religion und Kirche sprechen wollen. Bonhoeffer interessiert das vom Denken der Moderne geprägte Schema, das er von Individualismus und „sozialem Atomismus“ geprägt sieht. „Adamsmenschheit“ nennt er diese „gebrochene Gemeinschaft“. Ihr sei die durch Jesus Christus und den Heiligen Geist „gesetzte Kirche“ gegenübergestellt. Er übernimmt von Hegel einen Geistbegriff und damit eine Struktur, die Hegel gelegentlich bezeichnet als „ein Ich, das Wir, und ein Wir, das Ich ist“.

Hegel hatte damit zunächst enge Beziehungen von Freundschaft und Liebe vor Augen, dann aber auch komplexe soziale Gestalten, zum Beispiel den Staat, der sich im einzelnen Bürger erkennt, und die Bürger, die sich mit dem Staat identifizieren sollen. Auch Gemeinden und Kirchen, Vereine und Institutionen weisen solche Geiststrukturen auf.

Obwohl die Kirche als die neue Menschheit schon in Christus vollendet ist, offenbart sich Gott nach Bonhoeffer auch als Heiliger Geist, um den zeitlichen Bau der Kirche als der Gemeinde Gottes auszuführen. In Christus und durch den Geist hebt Gott die Spannungen der Adamsmenschheit auf. Die zweite Hälfte von Sanctorum Communio behandelt dann die Aktualisierung der Kirche durch das vom Geist getriebene Wort. Der Heilige Geist verwirklicht durch das Wort Gottes die Herrschaft Jesu Christi in der Gemeinde. Ein großartiges Werk eines jungen Mannes zu Beginn seiner zwanziger Lebensjahre!

Schlüsselgedanken aus der Haft

Die intellektuelle und theologische Größe Bonhoeffers wird noch deutlicher, wenn wir sehen, dass er aufgrund seiner biblischen Bildung und seiner politischen, sozialen und geistlichen Erfahrungen über die brillanten gedanklichen Konstruktionen seines Jugendwerks hin-auswächst. Das zeigt sich ganz dramatisch darin, dass er in seiner Dissertation beständig vom Geist und vom Heiligen Geist spricht, dann aber in seiner weiteren theologischen Entwicklung geradezu in ein Geist-Schweigen verfällt. Von einer durch den Geist Hegels und auch durch die Sozialphilosophie seiner Zeit stark geprägten Geist-Orientierung stellt er zunächst auf eine konsequent christologische Orientierung um. Zwei Gründe könnten dafür maßgeblich sein. Einmal der Einfluss Karl Barths und der dialektischen Theologie, einer auf die Herrschaft Jesu Christi konzentrierten Theologie, zugespitzt in der Barmer Theologischen Erklärung. Bonhoeffers Geist-Schweigen könnte aber auch in der Erkenntnis gründen, dass der hegelsche Geist-Begriff den biblischen Heiligen Geist nicht erfassen kann und dass die Rede vom Geist in der damaligen Zeit nicht hinreichend davor geschützt ist, von den Deutschen Christen und vom „deutschen Geist“ vereinnahmt und korrumpiert zu werden.

Drei Schlüsselgedanken aus Bonhoeffers Briefen aus der Haft, die man als sein Vermächtnis ansehen kann, zeigen, wie Bonhoeffer sich am Ende seines Lebens wieder inhaltlich einer Theologie des Heiligen Geistes annähert.

Erstens: Krise des Familienethos und Reich-Gottes-Theologie. Am 18. Dezember 1943 schreibt Bonhoeffer an den Freund Bethge: „Ich glaube nicht mehr an meine Freilassung. Nach meiner Auffassung wäre ich beim Termin am 17. XII. freigekommen; aber die Juristen wollten den sicheren Weg gehen, und nun werde ich voraussichtlich noch Wochen, wenn nicht Monate hier sitzen. Die letzten Wochen waren psychisch eine schwerere Belastung als alles Vorige.“ Vier Tage später findet sich in den Briefen ein bisher nie gegebener Ton der Bitterkeit gegenüber der eigenen Familie: „Nun scheint die Entscheidung gefallen zu sein, dass ich Weihnachten nicht bei Euch sein kann – aber keiner wagt es mir zu sagen. Warum eigentlich nicht? Traut man mir so wenig contenance zu oder hält man es für schonender, mich von Tag zu Tag in leeren Hoffnungen zu wiegen? … ein glaubensloses Hin- und Herschwanken, ein endloses Beraten ohne Handeln, ein Nichts-wagen-Wollen, das ist eine wirkliche Gefahr.“

Bonhoeffer betont: „Ich muss die Gewissheit haben können, in Gottes Hand und nicht in Menschenhänden zu sein. Dann wird alles leicht, auch die härteste Entbehrung.“ Die Gewissheit, in Gottes Hand zu sein, verdeutlicht er sich mit der Rede vom „Schritthalten mit Gott“ und vom kommenden Reich Gottes: „Ein Reich, stärker als Krieg und Gefahr, ein Reich der Macht und Gewalt, ein Reich, das für die einen ewiger Schrecken und Gericht, für die anderen ewige Freude und Gerechtigkeit ist, ... ein Reich, für das sich der Einsatz des Lebens lohnt.“

Zweitens: die nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe. Man hat oft gerätselt: Wie kann ein so frommer und religiöser Mensch wie Dietrich Bonhoeffer das Programm einer „nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe“ entwickeln? Tatsächlich versteht Bonhoeffer unter Religiosität eine von Metaphysik und religiösem Subjektivismus geprägte Haltung. In Verbindung damit wirft er „den Religiösen“ vor, Gott zu einem Grenzphänomen zu machen. „Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen.“ Bonhoeffer kritisiert alle Versuche, „ängstlich Raum auszusparen für Gott“ – sei es in einem metaphysischen Jenseits, sei es in einer Innerlichkeit vor aller Erfahrung. Die „metaphysische und individualistische“ Rede von Gott und Glaube „trifft weder die biblische Botschaft noch den heutigen Menschen“. Bonhoeffer schwebt eine radikale Neuinterpretation der großen theologischen Grundbegriffe vor, die im Anschluss an Johannes 1,14 von Gottes Selbstoffenbarung mitten in der Welt ausgehen müsste.

Diese Neuinterpretation kann nur dann erfolgen, wenn Jesus Christus, sein Geist und seine Geistausgießung und die Verleihung seiner Kräfte und Gaben an die Menschen konsequent im Zusammenhang gesehen werden.

Drittens: die Polyphonie des Lebens und der Glaube. Am 20. Mai 1944 nach einem Besuch von Eberhard Bethge entwickelt Bonhoeffer einen Gedanken, der ihn in seinem letzten Lebensjahr nicht mehr loslassen wird. Gegenüber allen religiösen Versuchen im Christentum, die Leidenschaften zu temperieren, will er die „Polyphonie des Lebens“ affirmieren. Er ist ersichtlich beglückt über diesen neuen Gedanken, den er mehrfach wiederholt. Ein „mehrdimensional-polyphones Leben“ entspricht dem christlichen Glauben und wird aus der Kraft des Glaubens heraus lebbar, ein Leben, das auch die Schattenseiten, Nöte und Bedrohungen in das Leben hineinzunehmen vermag.

Am 29. Mai 1944 macht Bonhoeffer ganz deutlich, was ihm damit vor Augen steht: „Ich beobachte hier immer wieder, dass es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können; wenn Flieger kommen, sind sie nur Angst; wenn es was Gutes zu essen gibt, sind sie nur Gier; wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt … Sie gehen an der Fülle des Lebens und an der Ganzheit einer eigenen Existenz vorbei ... Demgegenüber stellt uns das Christentum in viele verschiedene Dimensionen des Lebens zu gleicher Zeit; wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns. Wir weinen mit den Weinenden und freuen uns zugleich mit den Fröhlichen; ... das Leben wird nicht in eine einzige Dimension zurückgedrängt, sondern es bleibt mehrdimensional, polyphon ... Man muss die Menschen aus dem einlinigen Denken herausreißen – gewissermaßen als ‚Vorbereitung’ bzw. ‚Ermöglichung’ des Glaubens, obwohl es in Wahrheit erst der Glaube selbst ist, der das Leben in der Mehrdimensionalität ermöglicht ...“

Bonhoeffer betont, wir müssen auf nicht-religiöse Weise Gott in der Welt erkennen, auch in den Verdrängungsprozessen, die Gott auszugrenzen suchen, die Gott immer mehr zu einer Randfigur und Randerscheinung werden lassen. „Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns“ (16. Juli 1944). Die Religiosität des Menschen weise ihn in seiner Not an die tatsächliche oder vermeintliche Macht Gottes in der Welt. Die Bibel hingegen „weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, dass die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt. Hier wird wohl die ‚weltliche Interpretation‘ einzusetzen haben.“

Triumphalismus erledigt

Bonhoeffer hebt seine tiefe Dankbarkeit dafür hervor, dass er diese Erkenntnis gewinnen durfte: Gott führt uns in der mehrdimensionalen, polyphonen Wirklichkeit nicht nur als der mächtige Schöpfer, sondern auch als der leidende Christus, in der Unscheinbarkeit des kommenden Reiches und der fragilen Gegenwart des Auferstandenen in seinen Zeuginnen und Zeugen. Erst durch diese Erkenntnis wird der unglaubwürdige religiös-metaphysische Triumphalismus des theistischen Gottesgedankens abgelöst. Mit der Offenbarung Gottes im Gekreuzigten und Auferstandenen wird nun Ernst gemacht. Erst in der Begegnung mit dem siegreich leidenden Gott nimmt man sowohl die wirkliche Welt als auch den wahren Gott ganz ernst.

Bonhoeffer beendet sein Geist-Schweigen nicht mit ausdrücklichen Worten über Gottes Geist. Aber mit seiner Begeisterung für die Polyphonie des Glaubens und des Lebens, mit der Konzentration auf das kommende Reich Gottes und auch mit der Kritik an metaphysischer und subjektivistischer Theologie mündet sein Denken der Sache nach in eine Theologie des Geistes. Diese auszuführen war ihm nicht gegeben, weil ihn die Nazis am 9. April 1945 in Flossenbürg ermordeten.

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