Von außen nachgefragt

Missbrauch und evangelische Kirche – eine mühsame Recherche
Synode in Dresden, November 2019
Foto: epd-bild/Heike Lyding
Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, Sprecherin des Beauftragtenrates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), gibt ihren Bericht vor der Synode in Dresden, November 2019.

Der Berliner Journalist Thomas Klatt hatte den Auftrag, den Stand der Aufarbeitung und die strukturelle Aufstellung der EKD und verschiedener Landeskirchen in Sachen sexueller Missbrauch als Medienvertreter abzufragen. Seine Bilanz fällt zwiespältig aus.

Als der Autor für diese Recherche angefragt wurde, ahnte er, dass es in Sachen Transparenz und Vergleichbarkeit zu Unklarheiten kommen wird. Wurden doch alle evangelischen Landeskirchen von ihm nicht zum ersten Mal angefragt, wie sie mit sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen umgehen. Gibt es klar erreichbare Ansprechpersonen? Wie viele Fälle wurden gemeldet? Wie ist das Thema über den Webauftritt der Kirchen oder durch andere Kommunikationsmaßnahmen positioniert? Erneut antworteten nur wenige landeskirchliche Pressestellen direkt, die meisten verwiesen auf die EKD, die in Sachen Missbrauch offensichtlich die Kommunikationshoheit behalten möchte.

Was von außen recherchierbar ist, sind die Webauftritte der EKD und der Landeskirchen. Eine vergleichende Stichprobe Mitte September. Fast schon vorbildlich zu nennen: www.ekd.de. Auf der Startseite wird leicht auffindbar die Kachel „Prävention. Aktiv gegen sexualisierte Gewalt“ angeboten: „Die evangelischen Landeskirchen sind sich ihrer Verantwortung bewusst, wirksame Maßnahmen zur Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt durch kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ergreifen.“

Weiter geht es mit schnell zu findenden Informationen über Prävention – Intervention – Hilfe: Aktiv gegen sexualisierte Gewalt. Dann der „Bericht des Beauftragtenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ und die „Zentrale Anlaufstelle help“. Hierzu erläutert die EKD-Pressestelle: „Die kostenlose Beratung ist unabhängig, anonym und unterliegt der Schweigepflicht. In den vergangenen zwölf Monaten erreichten die „Zentrale Anlaufstelle.help über 500 Anrufe. Davon waren bislang circa 13 Prozent klar zuzuordnen als Anrufe von betroffenen Menschen aus dem evangelischen und diakonischen Kontext, viele Anrufe erfolgten von generell Ratsuchenden und Interessierten“.

Weiter geht es auf www.ekd.de mit „Ansprechpersonen für Missbrauchsopfer“, „Fachstelle Sexualisierte Gewalt“, „Evangelische Beratungsstelle Diakaonie“ (Rechtschreibfehler auf der EKD-Seite!), „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“, „Betroffenenbeirat“, „Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“, ein Link zum Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig, „hinschauen – helfen – handeln“, eine Initiative der evangelischen Gliedkirchen und der Diakonie gegen sexualisierte Gewalt, der Elf-Punkte-Handlungsplan der EKD zur systematischen Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt, das „Ergänzende Hilfesystem im institutionellen Bereich“, „Arbeitshilfen, Broschüren und weitere Materialien“, die Vereinbarung zur Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung von 2016. Dann aktuelle Pressemitteilungen: „Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beschließt umfassende Aufarbeitungsstudie“ oder „EKD setzt Schritte zu Aufarbeitung und Prävention von Fällen sexualisierter Gewalt fort“. Die Summe beeindruckt.

Katholiken in Vorreiterolle

Immer wieder wird von hohen Kirchenvertretern betont, wie wichtig bei der Aufklärung auch die kritische Begleitung und das Korrektiv der Medien sei. Da wäre vielleicht eine zusätzliche Internet-Kachel „EKD in der Presse“ oder „EKD in der Kritik“ wünschenswert. Dann nämlich würden Interessierte und erst recht Hilfesuchende erfahren, dass der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, das EKD-Engagement nicht für optimal hält. Denn die Katholische Kirche unterschrieb schon Mitte 2020 eine „Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch“.

Die Evangelische Kirche konnte sich zu diesem Zeitpunkt nur zu einem „letter of intent“ durchringen, und das auch nur, weil Betroffene und der Beauftragte Druck machten. In Bezug auf die unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch sei die Katholische Kirche in Deutschland anders als die Evangelische in einer Vorreiterrolle, kritisierte Rörig deutlich. Und: Es sei nicht klar, ob wirklich alle Landeskirchen die Aufarbeitung im gleichen Maß wollten.

Auch bei der EKD-zentralen Anlaufstelle help gibt es Kritik, etwa von Kerstin Claus, evangelisches Mitglied im Betroffenenrat beim UBSKM. Sie findet allein schon den Titel anmaßend, weil sie nicht wüsste, wem hier geholfen werde, den Betroffenen oder der Kirche, dass sie endlich eine Anlaufstelle vorweisen könne. Wer sich an die EKD-Anlaufstelle wende, stehe in der Gefahr, überrumpelt zu werden, weil man letztendlich wieder auf die kirchlichen Strukturen verwiesen werde und nicht in der außerkirchlichen Begleitung bleiben könne. Zu der nun groß angekündigten Studie kritisiert Claus, dass erste Ergebnisse frühestens in drei Jahren vorlägen, aber den heute Betroffenen nicht helfen würden. Solche vielleicht auch konstruktiv zu verstehende Kritik sucht man auf www.ekd.de vergebens.

Fast schon dramatisch bis peinlich in Sachen Missbrauch muss man jedoch den Webauftritt mancher Landeskirchen nennen: In der Kirchengemeinde Ahrensburg nördlich von Hamburg wurde vor zehn Jahren erstmals auch im evangelischen Bereich der sexuelle Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ruchbar. Darüber stürzte die damalige Hamburger Bischöfin Maria Jepsen. Ihre Nachfolgerin Kerstin Fehrs setzte sich seitdem an die Spitze der protestantischen Aufklärung. Doch gerade auf www.nordkirche.de finden sich erstaunlicherweise beim ersten Aufruf keine direkten Hinweise auf das Thema.

Gibt man die Suchbegriffe „Gewalt Sex“ ein, kommen zuerst Artikel über die Gefährdung junger Frauen und Mädchen bei Naturkatastrophen oder „Drei Fragen an eine bloggende Pastorin“. Erst an Position acht tröpfeln erste Informationen: „EKD richtet Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt ein“, und Position zehn: „Nordkirche führt Gesetz gegen sexualisierte Gewalt ein“. Top-Themen werden anders behandelt. Dabei schreibt die EKD-Pressestelle: „Betroffene (können sich, T. K.) für eine Erstberatung auch an die Unabhängige Ansprechstelle (UNA) wenden, betrieben von der kirchen-externen Fachberatungsstelle Wendepunkt e. V.“ – nur muss man die erst mal finden.

www.Lippische-landeskirche.de bringt es sogar fertig, gar nicht auf das Thema einzugehen. Mangels Suchfunktion kann auch nicht danach gesucht werden. www.Ekbo.de ist auf den ersten Blick besser aufgestellt. Unter „Seelsorge – Hilfe bei Missbrauch und Missbrauchsverdacht“ zeigt Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz als einzige Landeskirche ein emotionales Ansprechvideo der zuständigen Generalsuperintendentin: „Wir bringen jeden Fall zur Anzeige, wir wollen zuhören und alles tun. Vertrauen Sie uns, bitte melden Sie sich.“ Darauf folgt ein Hinweis mit Foto auf die „Unabhängige externe Beraterin“, eine Sozialarbeiterin, die jedoch, wenn man reden möchte, telefonisch nur je zwei mal zwei Stunden in der Woche erreichbar ist. In Abwesenheits- oder Urlaubszeiten werde man unter Wahrung der Anonymität weitergeleitet, und zwar an landeskirchliche Oberkirchenräte im Konsistorium.

Wie aber bitte ist damit die Unabhängigkeit gewahrt? Beispiel: Ich wurde als Jugendlicher Opfer eines Pfarrers und arbeite heute im religionspädagogischen Bereich, kämpfe gleichermaßen mit meinem Job wie mit meinem Trauma und soll mich nun meinem Dienstvorgesetzten anvertrauen, der diesen Pfarrer eventuell noch gut aus Studienzeiten kennt? Wer garantiert, dass mein Vertrauensvorschuss nicht nach hinten losgeht? Kerstin Claus zumindest weiß über solche Fälle zu berichten. Weiter geht es bei www.ekbo.de mit Links etwa zum UBSKM oder zum bundesweiten Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden!“, das bundesweite Hilfetelefon Sexueller Missbrauch und EKD-help! Ein Mischmasch aus kircheninternen und -externen Beratungsangeboten, der für Betroffene unter Umständen schwer zu durchschauen ist.

Nicht durchsichtig

Ähnlich sieht es auch auf den Webseiten anderer Landeskirchen aus: Die hessisch-nassauische Seite www.ekhn.de bietet neben Präventionsbroschüren und Infomaterialien Ansprechpartner in der Kirchenverwaltung sowie regionale in den jeweiligen Dekanaten an. Auch hier ist nicht durchsichtig, worin die Unabhängigkeit besteht. Kurhessen-Waldeck (www.Ekkw.de) verweist neben den landeskirchlich regionalen Stellen, in der Regel psychologische Beratungsstellen diakonischer Werke, auch auf profane Beratungsangebote hin, etwa pro familia, Opfer- und Zeugenhilfe Kassel oder Wildwasser Marburg. Zudem wird seelsorglicher Beistand angeboten.

Die Evangelische Kirche im Rheinland nennt als Ansprechstelle die Evangelische Hauptstelle für Familien- und Lebensberatung und empfiehlt die Lektüre „Die Zeit heilt keineswegs alle Wunden“ mit weiteren Beratungs-Links etwa zur EKD, und bei www.landeskirche-schaumburg-lippe.de kann man sich neben Hilfshinweisen und kircheninternen Ansprechpartnern immerhin den 52-minütigen Vortrag von Bischöfin Kerstin Fehrs auf der EKD-Synode 2019 ansehen. Auf www.landeskirche-braunschweig.de wiederum findet man dagegen eine einzige Pfarrerin als Ansprechpartnerin.

Die mitteldeutsche Kirche hält auf www.ekmd.de ein Antragsformular auf Hilfeleistungen vor. Als Beraterin wird eine Frau angegeben, die immerhin eine Mobilfunknummer und keine Kirchen-E-Mailadresse hat. Aber ob und wie sie unabhängig arbeitet, wird nicht erklärt. Bei den Sachsen findet man auf www.evlks.de erst nach einiger Zeit „Prävention, Intervention und Hilfe bei sexualisierter Gewalt“. Die Ansprechstelle für Fälle sexualisierter Gewalt befindet sich im Landeskirchenamt! Wo da die Unabhängigkeit von der „Täterorganisation Kirche“ sein soll, ist auch hier nicht erkennbar.

Ähnlich bei www.bayern-evangelisch.de. Die Ansprechpartner sitzen im Landeskirchenamt. Neben einer Pfarrerin eine Juristin und ein Jurist, die nur per Mail erreichbar sind. Das wirkt wenig einfühlsam. Vielleicht möchte man ja erst einmal eine menschliche Stimme hören und telefonieren?

Die württembergische Kirche bietet unter www.elk-wue.de direkten Zugang an, auch zu einer unabhängigen zentralen Ansprechstelle nebst der Möglichkeit der anwaltlichen Erstberatung. Die Webseite www.ekiba.de bietet das Merkblatt „Leistungen in Anerkennung des Leids für Opfer sexuellen Missbrauchs in Gemeinden und Einrichtungen der Evangelischen Landeskirche in Baden und ihrer Diakonie“. Und es gibt ein Vertrauenstelefon für Missbrauchsfälle, an dem am anderen Ende ein Psychotherapeut für Gespräche sitzt, der von kirchlichen Strukturen unabhängig zu sein scheint. Das überzeugt. Gerade bei der badischen Anlaufstelle hätten sich überproportional viele Opfer gemeldet, sagt die evangelische Betroffenen-Vertreterin Kerstin Claus. Wenn es die Badener aber so gut machen, warum tun es ihnen die Geschwister in den anderen 19 Landeskirchen nicht gleich?

Verwirrendes Bild

Auch zehn Jahre nach dem ersten überregionalen Öffentlich-Werden sexualisierten Kindesmissbrauchs in der evangelischen Kirche bietet sich Außenstehenden ein verwirrendes Bild, was die Auffindbarkeit, Zuständigkeit und Unabhängigkeit von Beratungs- und Hilfsangeboten angeht.

Zur Gesamtbilanz schreibt die EKD-Pressestelle am 20. September 2020, dass noch im November 2019 den Unabhängigen Kommissionen der Landeskirchen 785 Fälle sexualisierter Gewalt im Raum der Evangelischen Kirche und der Diakonie vorlagen. Seitdem haben sich weitere 86 Personen gemeldet, so dass nunmehr 869 Fälle für den Zeitraum von 1950 bis heute bekannt sind. Ob sich diese 86 Opfer trotz oder wegen des vielfältigen, aber vermeintlich verwirrenden Beratungs-angebotes gemeldet haben, kann nicht beantwortet werden.

Und weiter heißt es: „Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, haben bislang alle betroffenen Menschen, die sich an die Unabhängigen Kommissionen gewandt haben, Anerkennungsleistungen erhalten. Seit 2012 sind von 16 Landeskirchen [sic! Vier Landeskirchen haben ihre Daten verweigert!]insgesamt 7,4 Millionen Euro an diesen materiellen Leistungen erbracht worden – neben der Beteiligung der Evangelischen Kirche am Ergänzenden Hilfesystem, am Fonds Heim-erziehung und an der Stiftung Anerkennung und Hilfe mit einer Summe von 74,8 Millionen Euro.“

Diese Anerkennungsleistungen stellten aber keine Entschädigungszahlungen oder Schadensersatz dar, so die EKD-Pressestelle. Denn wenn man sich die Diskussionen anschaut, müsste diese Entschädigung für durch Kirchenvertreter zerstörte Biografien unter Umständen um einiges höher ausfallen, in Einzelfällen weit bis in den sechsstelligen Bereich hinein, wie Opfervertreter immer wieder betonen. Aber es gebe nun auch das Ziel der Vereinheitlichung, heißt es weiter aus der EKD-Pressestelle: „Derzeit erarbeiten Fachleute in den Landeskirchen auf der Basis von schon beschlossenen Eckpunkten Verfahrensregelungen, nach denen die Arbeit der Unabhängigen Kommissionen in den Landeskirchen in Bezug auf die individuellen Anerkennungsleistungen vereinheitlicht werden soll.“

Es gibt noch einen Weg „finanzieller Buße“, nämlich die Anerkennung nach dem Opferentschädigungsgesetz, wonach sich das staatliche Versorgungsamt die hohen Entschädigungssummen von der jeweiligen Landeskirche rückerstatten lässt. Da ist der EKD-Pressestelle auf erste Anfrage hin kein Fall bekannt. Würde die Kirche allerdings die Medien aufmerksamer beobachten, wüsste sie, dass es einen solchen Fall mindestens einmal bereits in der bayerischen Landeskirche gegeben hat. Nähere Informationen dazu verweigert das Pressereferat dort bis heute.

Fazit Ende 2020: Trotz allen Bemühens, das Thema des sexualisierten Missbrauchs in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzuklären und präventiv zu arbeiten – bei der Transparenz, Vereinheitlichung, aber eben auch bei der Kooperation mit Pressevertretern hat die Evangelische Kirche in Deutschland noch einige Arbeit vor sich.

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